1. Die Patchworkfamilie. Ein weibliches Merian-Talent wird früh gefördert
Leben und Tod lösten einander in schnellem Takt ab, nichts Ungewöhnliches in diesen Zeiten.
1645: Am 5. Mai stirbt in Frankfurt im Alter von siebenundvierzig Jahren Maria Magdalena Merian, geborene de Bry. Achtundzwanzig Jahre war sie mit dem Verleger und Kupferstecher Matthäus Merian dem Älteren verheiratet und hatte acht Kinder geboren, von denen noch sechs leben. Nur drei Tage nach dem Tod seiner Frau betrauert der Vater auch den Tod seiner ältesten Tochter Susanna Barbara; sie wurde sechsundzwanzig Jahre alt.
1646: Am 27. Januar heiratet der zweiundfünfzigjährige Witwer Matthäus Merian in zweiter Ehe Johanna Sibylla Heimy (auch Heim oder Heimius, man nahm es damals nicht so genau mit den Schreibweisen); sie ist um das Jahr 1620 geboren. Dem angesehenen Frankfurter Bürger wird wegen »seines Leibes Unpässlichkeit und hohem Alter« von der lutherischen Geistlichkeit, wenn auch widerstrebend, eine »Privat-Copulation« in seinem Haus zugestanden.
1647: Am 2. April bringt Johanna Sibylla Merian eine Tochter zur Welt, die am 4. April auf den Namen Maria Sibylla Merian getauft wird. Mit der Familie leben noch zwei Kinder aus der ersten Ehe des Vaters, der zwölf Jahre alte Joachim, er geht aufs Gymnasium, und die sechzehnjährige Maria Magdalena. Die anderen drei Halbgeschwister der kleinen Maria Sibylla wohnen aufgrund von Heirat oder Berufstätigkeit nicht mehr im Frankfurter Elternhaus.
1649: Am 27. Mai wird dem Ehepaar Johanna Sibylla und Matthäus Merian ein zweites Kind geboren, Johann Maximilian.
1650: Am 19. Juni stirbt Matthäus Merian, sechsundfünfzig Jahre alt, im benachbarten Bad Schwalbach, wo er sich, wie schon seit einigen Jahren, bei einer Sommer-Kur von den Strapazen seines arbeitsintensiven Berufslebens erholt hat. Im August wird seine Witwe Johanna Sibylla mit den beiden kleinen Kindern von den Erben ausgezahlt, und die beiden Söhne aus seiner ersten Ehe, der Maler Matthäus Merian der Jüngere und der Kupferstecher Caspar Merian, übernehmen das international angesehene väterliche Verlags- und Druckhaus in Frankfurt am Main.
1651: Am 5. August heiratet die Witwe Johanna Sibylla Merian in Frankfurt den verwitweten Maler Jacob Marrel. Eine Patchwork-Familie entsteht: Johanna Sibylla bringt zwei, Jacob Marrel drei Kinder mit in die Ehe.
1651: Am 1. Dezember stirbt Johann Maximilian Merian, Maria Sibyllas kleiner Bruder. Auch die beiden gemeinsamen Kinder von Johanna Sibylla und Jacob Marrel, die 1654 und 1656 geboren werden, überleben das Säuglingsalter nicht.
Das Auf und Ab dieser Chronologie spiegelt die Erfahrungen und Eindrücke, die Maria Sibylla Merian in ihren ersten Lebensjahren aufnimmt. Da ist ein Vater, der wieder verschwindet, kaum dass er Konturen gewonnen hat. Da tauchen plötzlich zwei junge Männer auf, Matthäus und Caspar Merian, zwei Brüder, die ihr fremd sind, weil sie kaum noch ins Frankfurter Elternhaus gekommen sind. Da verlässt sie mit der Mutter und dem Säugling Johann Maximilian ihren Bruder Joachim und das Haus, in dem sie bisher zusammengelebt haben. (Maria Magdalena Merian, die Halbschwester, hatte sich inzwischen nach Augsburg verheiratet.) Und dann gibt es an der Seite der Mutter einen neuen Mann und neue Geschwister, neue Spielgefährten, mit denen Maria Sibylla nun den Alltag teilt: Sara acht, Franciscus sieben und Fredericus drei Jahre alt.
1. Als der berühmte Verleger und Kupferstecher Matthäus Merian der Ältere 1650 stirbt, ist seine Tochter Maria Sibylla drei Jahre alt.
Die Vierjährige erfährt das Leben als Kommen und Gehen, alles ist in Bewegung. Bisher unbekannte Menschen sitzen um den Tisch im neuen Zuhause. Werden sie bleiben? Was Maria Sibylla den Gewöhnungsprozess erleichtert: Bald entwickelt sich zwischen Jacob Marrel, dem neuen Familienoberhaupt, und der kleinen Tochter des berühmten Matthäus Merian eine vertrauensvolle Beziehung. Der Maler erkennt, dass Maria Sibylla das künstlerische Talent ihres Vaters geerbt hat; er fördert und ermutigt die Stieftochter in einem Tun, das für sie zur Konstante in der Unsicherheit ringsum wird. Jacob Marrels Unterstützung ist umso bemerkenswerter, als Maria Sibylla Merians Halbbruder Matthäus Merian der Jüngere die zweite Frau des verstorbenen Vaters und ihren neuen Ehemann äußerst abschätzig behandelt.
Als Matthäus Merian der Ältere im Juni 1650 starb, war sein Sohn Matthäus, 1621 geboren und inzwischen als Maler zu einigem Ruhm gekommen, auf dem Weg ins Hauptquartier der Schwedischen Armee in Wismar an der Ostsee. Dort warteten hohe Generäle und Prinz Carl Gustav, der zukünftige König, um sich von dem Frankfurter Künstler porträtieren zu lassen. Die hohen Herren verzichteten für diesmal auf seine Dienste, erlaubten die sofortige Rückreise und spendeten zweihundert Dukaten nebst einer goldenen Kette.
In seiner Autobiografie schreibt Matthäus Merian der Jüngere später, die Schweden beklagten »meines Vatters sel. Dott und rühmten seinen Fleiß, mich ermahnendte, ich sollte in dessen Fußstapfen tretten«. Gemeint war damit vor allem das Theatrum Europaeum, dessen kundige Fortsetzungsbände über Europas Geschichte der ältere Merian mit eindringlichen Kupferstichen erfolgreich herausgegeben hatte. Als er im August 1650 in Frankfurt ankam, traf Matthäus Merian der Jüngere nach den Worten seiner Autobiografie im Vaterhaus »alles im betrübten Standt« an. Es seien »lauter Brüder und Schwestern mit einer Stiefmutter vorhanden« gewesen, denen nur an einer »guten Erbschaft« lag, aber nicht am gedeihlichen Fortgang des väterlichen Verlags.
Johanna Sibylla, die zweite Frau des verstorbenen Verlagsinhabers, wurde ausbezahlt. Sie erbte »mit ihren beiden Kindern« neben Malereien, Kupferstichen und Gegenständen ein »schönes Stuck Geld«. Der jüngere Matthäus Merian lässt den Aggressionen, die er gegenüber seiner Stiefmutter hegte, in seinem Lebensrückblick freien Lauf: »Sie heurathete den 2. Mann, Morell, einen kleiner Mahler, mit welchem sie das gute Gelt verzehrt hatt …«
Es ist schwer vorstellbar, dass Matthäus Merian mit seiner Halbschwester Maria Sibylla, die in der Familie des Jacob Marrel lebte – auch seinen Namen gibt es in einigen Variationen, darunter Morell –, engen, gar herzlichen Kontakt hatte. An seiner Hochzeit mit der Tochter eines vornehmen Frankfurter Kaufmanns 1652 wird die Fünfjährige nicht teilgenommen haben. Matthäus Merian der Jüngere zog mit seiner jungen Frau in ein prächtiges Haus in der Eschersheimer Landstraße, das sogar der Große Kurfürst aus Brandenburg mit seinem Besuch beehrte. Er blieb als Porträtmaler bestens im Geschäft und repräsentierte den traditionsreichen Merian-Verlag nach außen. Sein jüngerer Bruder Caspar kümmerte sich um das Verlagsprogramm, die Druckerei und die Kupferstiche.
Mit dem Ruhm der Merian-Sippe konnte Jacob Marrel, 1613/14 geboren, nicht konkurrieren. Aber sein Vater war studierter Jurist und Stadtschreiber im südlich von Frankfurt gelegenen Frankenthal gewesen. Er selbst hatte in Frankfurt und Utrecht bei anerkannten Meistern eine solide Ausbildung als Maler erhalten, sich in der beliebten Blumenmalerei spezialisiert und in Utrecht einen Kunsthandel aufgebaut. Aufgrund einer üppigen Erbschaft kam Jacob Marrel 1650 an den Main zurück. Seine erste Frau war 1649 in Utrecht gestorben.
Die Malerei war ein ehrenwerter Handwerksberuf. Kaum hatte Marrel in Frankfurt seine Werkstatt eingerichtet, schickte ein wohlhabender Käsehändler seinen Sohn zu ihm in die Lehre. Abraham Mignon war elf Jahre, das übliche Alter, um mit einer Ausbildung zu beginnen. Ein zweiter Lehrling kam 1653 hinzu, der sechzehnjährige Johann Andreas Graff, sein Vater war Direktor eines Gymnasiums in Nürnberg.
Zwei, drei Jahre später wurde ein dritter Lehrling informell von Jacob Marrel in die handwerklichen Grundlagen der Malerei eingeführt – Maria Sibylla Merian, seine Stieftochter. Sie lernte zeichnen, den Umgang mit Wasser- und Ölfarben, das Mischen von Farben, die Grundierung einer Leinwand oder eines Pergaments und die sensible Technik des Kupferstechens.
Das junge Mädchen muss mit Zeichnungen oder Kopien, die sie anfertigte, ihrem Stiefvater aufgefallen sein und hat vielleicht selbst darauf beharrt, Unterricht zu bekommen. An Vorbildern war kein Mangel, denn Bücher mit Bildern gehörten zu den frühen Entdeckungen, die Maria Sibylla in ihrer ersten Familie machte, als der Vater noch lebte. Schließlich stellte Matthäus Merian der Ältere Bücher am laufenden Band her und entwarf selbst die meisten Kupferstiche. Eindringlicher noch als Landschaften und die berühmten Merian'schen Städteansichten waren für Kinderaugen die großen Folianten mit Zeichnungen von Tieren, Blüten und Blumensträußen. Doch bei aller Faszination für Bilder und die Malerei: Konnte ein weiblicher Lehrling in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine Ausbildung zum Maler durchlaufen und das Erlernte womöglich als Beruf ausüben?
Ein kurzer Rückblick gibt eine unerwartete Antwort. Zu sehr hat das 19. Jahrhundert, als Bürgertöchter keinen Beruf erlernen durften, weil standesgemäßes Frauenleben sich nur mit Kindern, am Herd und im häuslichen Salon abspielte, den Blick dafür verstellt, dass in ferneren Epochen Gleichberechtigung Realität war – bei Handwerkern wie bei Kaufleuten.
2. Der Maler Jacob Marrel wird 1651 Maria Sibylla Merians Stiefvater. Er erkennt ihr künstlerisches Talent und bildet sie zur Malerin aus.
Die meisten Eintragungen im Kaufmannsbuch von Matthäus Runtinger beispielsweise, dessen Regensburger Unternehmen im hohen...