Sie sind hier
E-Book

Massenstreik, Partei und Gewerkschaften

Lehren aus den revolutionären Erfahrungen in Russland - Äußerungen des internationalen Sozialismus über die Frage des Massenstreiks und die anarchistische Theorie des Generalstreiks

AutorRosa Luxemburg
Verlage-artnow
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl235 Seiten
ISBN9788026852834
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Dieses eBook: 'Massenstreik, Partei und Gewerkschaften' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Rosa Luxemburg (1871-1919) war eine einflussreiche Vertreterin der europäischen Arbeiterbewegung, des Marxismus, Antimilitarismus und 'proletarischen Internationalismus'. Ihre Erfahrungen mit der russischen Revolution verarbeitete sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland in der Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906). Um die 'internationale Solidarität der Arbeiterklasse' gegen den Krieg einzuüben, forderte sie darin von der SPD die Vorbereitung des Generalstreiks nach polnisch-russischem Vorbild. Zugleich setzte sie ihr internationales Engagement fort und nahm 1907 mit Leo Jogiches am fünften Parteitag der russischen Sozialdemokraten in London teil. Beim folgenden Kongress der Zweiten Internationale in Stuttgart brachte sie erfolgreich eine Resolution ein, die gemeinsames Handeln aller europäischen Arbeiterparteien gegen den Krieg vorsah. Rosa Luxemburg glaubte - anders als Kautsky und der SPD-Parteivorstand - nicht an einen Determinismus der internationalen Revolution im Gefolge der Verelendung und des Zusammenbruchs der Kapitalherrschaft durch den Krieg. Scheitere der Sozialismus, dann drohe der Menschheit ein Rückfall in unvorstellbare Barbarei. Das Bewusstsein dieses Entweder-oder war die entscheidende Triebfeder ihres Handelns. Dabei hielt sie Rückschläge und Niederlagen des arbeitenden Volkes für dessen Lernprozess für besonders wichtig: Gerade sie könnten das historische Bewusstsein für die unvermeidbare Notwendigkeit der Revolution schärfen. Nicht erst der 'Endsieg', sondern schon der immer neue Versuch, ihn herbeizuführen, sei daher der 'Stolz' der Arbeiterbewegung.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

II


Die erste Revision, die sich aus den Ereignissen in Rußland für die Frage vom Massenstreik ergibt, bezieht sich auf die allgemeine Auffassung des Problems. Bis jetzt stehen sowohl die eifrigen Befürworter eines »Versuchs mit dem Massenstreik« in Deutschland von der Art Bernsteins, Eisners usw., wie auch die strikten Gegner eines solchen Versuchs, wie sie im gewerkschaftlichen Lager z. b. durch Bömelburg vertreten sind, im grunde genommen auf dem Boden derselben, und zwar der anarchistischen Auffassung. Die scheinbaren Gegenpole schließen sich nicht bloß gegenseitig aus, sondern, wie stets, bedingen auch und ergänzen zugleich einander. Für die anarchistische Denkweise ist nämlich die Spekulation direkt auf den »großen Kladderadatsch«, auf die soziale Revolution nur ein äußeres und unwesentliches Merkmal. Wesentlich ist dabei die ganze abstrakte, unhistorische Betrachtung des Massenstreiks, wie überhaupt aller Bedingungen des proletarischen Kampfes. Für den Anarchisten existieren als stoffliche Voraussetzungen seiner »revolutionären« Spekulationen lediglich zwei Dinge: zunächst die blaue Luft und dann der gute Wille und der Mut, die Menschheit aus dem heutigen kapitalistischen Jammertal zu erretten. In der blauen Luft ergab sich aus dem Raisonnement schon vor 60 Jahren, dass der Massenstreik das kürzeste, sicherste und leichteste Mittel ist, um den Sprung ins bessere soziale Jenseits auszuführen. In derselben blauen Luft ergibt sich neuerdings aus der Spekulation, dass der gewerkschaftliche Kampf die einzige wirkliche »direkte Aktion der Massen« und also der einzige revolutionäre Kampf ist – dies bekanntlich die neueste Schrulle der französischen und italienischen »Syndikalisten«. Das Fatale für den Anarchismus war dabei stets, dß die in der blauen Luft improvisierten Kampfmethoden nicht bloß eine Rechnung ohne den Wirt, das heißt reine Utopien waren, sondern dß sie, weil sie eben mit der verachteten, schlechten Wirklichkeit gar nicht rechneten, in dieser schlechten Wirklichkeit meistens aus revolutionären Spekulationen unversehens zu praktischen Helferdiensten für die Reaktion wurden.

Auf demselben Boden der abstrakten, unhistorischen Betrachtungsweise stehen aber heute diejenigen, die den Massenstreik nächstens in Deutschland auf dem Wege eines Vorstandsbeschlusses auf einen bestimmten Kalendertag ansetzen möchten, wie auch diejenigen, die, wie die Teilnehmer des Kölner Gewerkschaftskongresses, durch ein Verbot des »Propagierens« das Problem des Massenstreiks aus der Welt schaffen wollen. Beide Richtungen gehen von der gemeinsamen, rein anarchistischen Vorstellung aus, dß der Massenstreik ein bloßes technisches Kampfmittel ist, das nach Belieben und nach bestem Wissen und Gewissen »beschlossen« oder auch »verboten« werden könne, eine Art Taschenmesser, das man in der Tasche »für alle Fälle« zusammengeklappt bereit halten oder auch nach Beschluß aufklappen und gebrauchen kann. Zwar nehmen gerade die Gegner des Massenstreiks für sich das Verdienst in Anspruch, den geschichtlichen Boden und die materiellen Bedingungen der heutigen Situation in Deutschland in Betracht zu ziehen, im Gegensatz zu den »Revolutionsromantikern«, die in der Luft schweben und partout nicht mit der harten Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten rechnen wollen. »Tatsachen und Zahlen, Zahlen und Tatsachen!« rufen sie wie Mr. Gradgrind in Dickens' »Harte Zeiten«. Was die gewerkschaftlichen Gegner des Massenstreiks unter »geschichtlichem Boden« und »materiellen Bedingungen« verstehen, sind zweierlei Momente: einerseits die Schwäche des Proletariats, anderseits die Kraft des preußisch-deutschen Militarismus. Die ungenügenden Arbeiterorganisationen und Kassenbestände und die imponierenden preußischen Bajonette, das sind die »Tatsachen und Zahlen«, auf denen diese gewerkschaftlichen Führer ihre praktische Politik im gegebenen Falle basieren. Nun sind freilich gewerkschaftliche Kassen sowie preußische Bajonette zweifellos sehr materielle und auch sehr historische Erscheinungen, allein die darauf basierte Auffassung ist kein historischer Materialismus im Sinne von Marx, sondern ein polizeilicher Materialismus im Sinne Puttkamers. Auch die Vertreter des kapitalistischen Polizeistaats rechnen sehr, und zwar ausschließlich mit der jeweiligen tatsächlichen Macht des organisierten Proletariats, sowie mit der materiellen Macht der Bajonette, und aus dem vergleichenden Exempel dieser beiden Zahlenreihen wird noch immer der beruhigende Schluß gezogen: die revolutionäre Arbeiterbewegung wird von einzelnen Wühlern und Hetzern erzeugt, ergo haben wir in den Gefängnissen und den Bajonetten ein ausreichendes Mittel, um der unliebsamen »vorübergehenden Erscheinung« Herr zu werden.

Die klassenbewußte deutsche Arbeiterschaft hat längst das Humoristische der polizeilichen Theorie begriffen, als sei die ganze moderne Arbeiterbewegung ein künstliches, willkürliches Produkt einer handvoll gewissenloser »Wühler und Hetzer«.

Es ist aber genau dieselbe Auffassung, die darin zum Ausdruck kommt, wenn sich ein paar brave Genossen zu einer freiwilligen Nachtwächterkolonne zusammentun, um die deutsche Arbeiterschaft vor dem gefährlichen Treiben einiger »Revolutionsromantiker« und ihrer »Propaganda des Massenstreiks« zu warnen; oder wenn auf der anderen Seite eine larmoyante Entrüstungskampagne von denjenigen inszeniert wird, die sich durch irgendwelche »vertraulichen« Abmachungen des Parteivorstandes mit der Generalkommission der Gewerkschaften um den Ausbruch des Massenstreiks in Deutschland betrogen glauben. Käme es auf die zündende »Propaganda« der Revolutionsromantiker oder auf vertrauliche oder öffentliche Beschlüsse der Parteileitungen an, dann hätten wir bis jetzt in Rußland keinen einzigen ernsten Massenstreik. In keinem Lande dachte man – wie ich bereits im März 1905 in der »Sächs. Arbeiterzeitung« hervorgehoben habe – so wenig daran, den Massenstreik zu »propagieren« oder selbst zu »diskutieren« wie in Rußland. Und die vereinzelten Beispiele von Beschlüssen und Abmachungen des russischen Parteivorstandes, die wirklich den Massenstreik aus freien Stücken proklamieren sollten, wie z. B. der letzte Versuch im August dieses Jahres nach der Duma-Auflösung, sind fast gänzlich gescheitert. Wenn uns also die russische Revolution etwas lehrt, so ist es vor allem, dß der Massenstreik nicht künstlich »gemacht«, nicht ins Blaue hinein »beschlossen«, nicht »propagiert« wird, sondern dß er eine historische Erscheinung ist, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt.

Nicht durch abstrakte Spekulationen also über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, den Nutzen oder die Schädlichkeit des Massenstreiks, sondern durch die Erforschung derjenigen Momente und derjenigen sozialen Verhältnisse, aus denen der Massenstreik in der gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes erwächst, mit anderen Worten: nicht durch subjektive Beurteilung des Massenstreiks vom Standpunkte des Wünschbaren, sondern durch objektive Untersuchung der Quellen des Massenstreiks vom Standpunkte des geschichtlich Notwendigen kann das Problem allein erfßt und auch diskutiert werden.

In der freien Luft der abstrakten logischen Analyse läßt sich die absolute Unmöglichkeit und die sichere Niederlage, sowie die vollkommene Möglichkeit und der zweifellose Sieg des Massenstreiks mit genau derselben Kraft beweisen. Und deshalb ist der Wert der Beweisführung in beiden Fällen derselbe, nämlich gar keiner. Daher ist auch insbesondere die Furcht vor dem »Propagieren« des Massenstreiks, die sogar zu förmlichen Bannflüchen gegen die vermeintlichen Schuldigen dieses Verbrechens geführt hat, lediglich das Produkt eines drolligen Quiproquo. Es ist genau so unmöglich, den Massenstreik als abstraktes Kampfmittel zu »propagieren«, wie es unmöglich ist, die »Revolution« zu propagieren. »Revolution« wie »Massenstreik« sind Begriffe, die selbst bloß eine äußere Form des Klassenkampfes bedeuten, die nur im Zusammenhang mit ganz bestimmten politischen Situationen Sinn und Inhalt haben.

Wollte es jemand unternehmen, den Massenstreik überhaupt als eine Form der proletarischen Aktion zum Gegenstand einer regelrechten Agitation zu machen, mit dieser »Idee« hausieren zu gehen, um für sie die Arbeiterschaft nach und nach zu gewinnen, so wäre das eine ebenso müßige aber auch ebenso öde und abgeschmackte Beschäftigung, wie wenn jemand die Idee der Revolution oder des Barrikadenkampfes zum Gegenstand einer besonderen Agitation machen wollte. Der Massenstreik ist jetzt zum Mittelpunkt des lebhaften Interesses der deutschen und der internationalen Arbeiterschaft geworden, weil er eine neue Kampfform und als solche das sichere Symptom eines tiefgehenden inneren Umschwunges in den Klassenverhältnissen und den Bedingungen des Klassenkampfes bedeutet. Es zeugt von dem gesunden revolutionären Instinkt und der lebhaften Intelligenz der deutschen Proletariermasse, dß sie sich – ungeachtet des hartnäckigen Widerstandes ihrer Gewerkschaftsführer – mit so warmem Interesse dem neuen Problem zuwendet. Allein diesem Interesse, dem edlen intellektuellen Durst und revolutionären Tatendrang der Arbeiter kann man nicht dadurch entsprechen, dß man sie mit abstrakter Hirngymnastik über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Massenstreiks traktiert, sondern dadurch, dß man ihnen die Entwicklung der russischen Revolution, die internationale Bedeutung dieser Revolution, die Verschärfung der Klassengegensätze in Westeuropa, die weiteren politischen Perspektiven des Klassenkampfes in Deutschland, die Rolle und die Aufgaben der Masse in den...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Parteipolitik - Parteiendemokratie

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie

E-Book Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie
Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa Format: PDF

Ende der 90er Jahre waren sozialdemokratische Parteien in den meisten Ländern der Europäischen Union an der Regierung beteiligt. Wie erfolgreich waren die unterschiedlichen Parteien in ihrer…

Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie

E-Book Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie
Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa Format: PDF

Ende der 90er Jahre waren sozialdemokratische Parteien in den meisten Ländern der Europäischen Union an der Regierung beteiligt. Wie erfolgreich waren die unterschiedlichen Parteien in ihrer…

Weitere Zeitschriften

AUTOCAD Magazin

AUTOCAD Magazin

Die herstellerunabhängige Fachzeitschrift wendet sich an alle Anwender und Entscheider, die mit Softwarelösungen von Autodesk arbeiten. Das Magazin gibt praktische ...

Burgen und Schlösser

Burgen und Schlösser

aktuelle Berichte zum Thema Burgen, Schlösser, Wehrbauten, Forschungsergebnisse zur Bau- und Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Denkmalschutz Seit ihrer Gründung 1899 gibt die Deutsche ...

Card-Forum

Card-Forum

Card-Forum ist das marktführende Magazin im Themenbereich der kartengestützten Systeme für Zahlung und Identifikation, Telekommunikation und Kundenbindung sowie der damit verwandten und ...

CE-Markt

CE-Markt

CE-Markt ist Pflichtlektüre in der Unterhaltungselektronik-Branche. Die Vermarktung von Home und Mobile Electronics mit den besten Verkaufsargumenten und Verkaufsstrategien gehören ebenso zum ...

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler ist das monatliche Wirtschafts- und Mitgliedermagazin des Bundes der Steuerzahler und erreicht mit fast 230.000 Abonnenten einen weitesten Leserkreis von 1 ...

DULV info

DULV info

UL-Technik, UL-Flugbetrieb, Luftrecht, Reiseberichte, Verbandsinte. Der Deutsche Ultraleichtflugverband e. V. - oder kurz DULV - wurde 1982 von ein paar Enthusiasten gegründet. Wegen der hohen ...