Das Gehirn verändert sich
Meditation verändert das Gehirn. Diese Nachricht aus der Forschung mag zunächst Ängste wecken. Lange Zeit galt das Gehirn als unveränderlicher Block, der nach der Kindheit allenfalls durch den Tod von Nervenzellen seine Leistungsfähigkeit verliert. Dahinter scheinen sogar alte Erfahrungen zu stecken: Es ist augenfällig, dass junge Menschen schneller lernen als ältere. Aber wie passen dann die Rentner ins Bild, die auf ihre alten Tage an der Universität studieren und mit der Doktorprüfung abschließen?
Wie entwickelt sich das Gehirn und wie stark kann es sich im Lauf des Lebens ändern? Alte Erfahrung und die moderne Forschung liefern dazu überraschende Erkenntnisse. Einen umfangreichen Überblick über die Entwicklung des jungen Gehirns liefert zum Beispiel das Buch von Gerhard Roth (2003), die Entwicklung des gesunden Gehirns ab der Lebensmitte beschreibt Gene D. Cohen (2006).
Von der Geburt bis zum Alter von etwa 25 Jahren entwickelt sich das Gehirn in ziemlich festgelegten Schritten. Diese Schritte kennen Menschen seit Anbeginn der Zeit. Die moderne Forschung deckt nun auf, was dabei im Gehirn geschieht. Zum Beispiel haben Kleinkinder kaum ein Bewusstsein von sich selbst. Ihre Gefühle orientieren sich vor allem an den Reaktionen der Eltern und der engsten Bezugspersonen. Erst mit der ersten „Trotzphase“ im Alter von ungefähr drei Jahren lösen sie diese Verbindung auf. „Kann ich alleine“ und „Nein, ich will nicht“ stehen für die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit. Prompt darf das Kind ab drei Jahren in den Kindergarten. Weitere Schritte in der Gehirnentwicklung vollziehen sich ungefähr mit dem sechsten Lebensjahr, mit 12 bis 14 Jahren, ungefähr mit 16 und mit 18 Jahren. Erst im Alter von etwa 25 Jahren ist das Gehirn biologisch voll entwickelt.
Die Entwicklungsschritte des Gehirns spiegeln sich in den Traditionen vieler Völker wider. Am besten ist das bei so genannten „Naturvölkern“ zu beobachten, aber auch in der Industriegesellschaft. In den „Naturvölkern“ übernimmt der Vater eine aktive Rolle in der Erziehung der Kinder, sobald diese sechs Jahre alt sind, die Industriegesellschaft schickt sie in die Schule. Mit zwölf Jahren lädt die katholische Kirche Kinder zur Kommunion, im gleichen Alter wurden im Mittelalter Rittersöhne als Knappen verpflichtet und kamen bei einem anderen Ritter in die Lehre. Mit 14 Jahren werden Kinder strafmündig, früher begannen sie in diesem Alter nach acht Schuljahren ihre Lehre, die evangelische Kirche bittet zur Konfirmation. In der frühen Pubertät, mit 12 bis 14 Jahren entwickeln sich nämlich diejenigen Gehirnzentren, in denen „gut und böse“, „richtig und falsch“ verankert sind. Diese Ausstattung mit Werten und Gefühlen wird dann schrittweise bis 16 und noch bis ungefähr zum Alter von 18 Jahren ausgebaut, damit ein junger Erwachsener entsteht. Je nachdem, welche Ausstattung des Gehirns eine Gesellschaft für nötig hält, dürfen Mädchen und Jungen mit 14 oder erst mit 16 Jahren heiraten, dürfen mit 16 oder erst ab 18 Jahren Soldaten werden, ein Auto fahren, sind mit 18 oder 21 Jahren vor dem Gesetz volljährig.
Zwischen dem Ende der Pubertät bis zum Alter etwa Mitte 20 entwickelt das Gehirn seine volle Leistungsfähigkeit. Im Prinzip sind nun die wesentlichen Daten gespeichert, Nervenzellen vernetzt, die Balance der chemischen Botenstoffe ist mit dem Ende der Pubertät gefunden. Jetzt geht es um die Geschwindigkeit bei der Nutzung dieser Daten. Dafür werden viele Nervenbahnen in eine dünne Fettschicht gehüllt (myelinisiert), die als Isolator für die elektrischen Signale dient. Aufgrund der Myelinisierung können solche Signale schneller durch die Nervenzellen laufen und entsprechend schneller denkt das Gehirn. In vielen Kulturen dürfen Menschen deshalb erst mit 25 Jahren entscheidende Ämter übernehmen, zum Beispiel König werden oder Abgeordneter im Parlament. Solche Amtsträger müssen schnelle und komplizierte Entscheidungen treffen. In dieser Hinsicht wäre das 18-jährige Gehirn den vollständig myelinisierten Gehirnen älterer Entscheidungsträger unterlegen; die Älteren können einfach schneller denken.
Die weiteren Schritte der Gehirnentwicklung verlaufen nun langsamer, aber ähnlich gründlich. Jetzt beginnt die Phase des „plastischen Gehirns“, das sich dem Leben anpasst. Das große Motto dieser Phase heißt „benutzen oder verlieren“. Das Gehirn unterscheidet sich dabei nicht vom übrigen Körper: Was nicht gebraucht wird, baut der Körper ab. Was gebraucht wird, bleibt erhalten oder wird noch ausgebaut. Der Motor der Entwicklung im Gehirn ist das Lernen. Dabei kann das Gehirn sogar bis ins hohe Alter wachsen oder sich neu organisieren. Lernen wir etwas Neues, zum Beispiel eine Fremdsprache, erzeugt dies Zuwachs in den entsprechenden Gebieten des Gehirns. Auch bei Meditierenden ist Wachstum im Gehirn nachgewiesen, die ältesten Versuchspersonen waren dabei 71 Jahre alt (Lazar et al. 2005; Luders et al. 2009). Die moderne Forschung zeigt, dass das Gehirn keine Festplatte wie beim Computer ist, sondern sehr viel flexibler. Die „biologische Festplatte“ kann sich ein Leben lang vergrößern und verkleinern, ihre Vernetzung ändern, also auch die Struktur der Datenspeicherung anpassen. Neurobiologen sprechen deshalb vom „plastischen Gehirn“.
Tatsächlich widerspricht die alte Vorstellung vom „fertigen Gehirn“ der Lebenserfahrung. Cohen (2006) hat anhand von Forschungsergebnissen Entwicklungsstadien für Erwachsene bis ins hohe Alter aufgezeigt, die mit Anpassungen und Veränderungen des Gehirns einhergehen.
Im Alter zwischen 40 und 50 Jahren erfährt das Gehirn eine durchgreifende Umgestaltung. Bis zu diesem Alter hat das junge Gehirn vor allem Fakten gelernt, ständig Neues aufgesaugt und als Erinnerungen abgelegt. Junge Gehirne benutzen für Problemlösungen häufig nur eine Gehirnhälfte und dort sehr klar begrenzte „Hirnzentren“. In der Lebensmitte werden die gelernten Fakten in einen größeren Zusammenhang gestellt. Das Wissen wird immer stärker vernetzt. Die einzelne Erinnerung verliert dabei an Bedeutung. Dabei wird auch das bisherige Leben hinterfragt und, wo nötig, werden neue Weichen gestellt. Das Gehirn bezieht nun weitaus mehr und größere Hirnareale in seine Denkprozesse ein. Vor allem werden neben Fakten auch soziale und emotionale Aspekte weitaus stärker in die Tätigkeit des Gehirns einbezogen. Durch die Knüpfung von Zusammenhängen entsteht eine größere Weitsicht, wenn Probleme aus verschiedenen Perspektiven her beleuchtet werden müssen.
Mit 50 oder 60 Jahren beginnen dann die „besten Jahre“. Die meisten Präsidenten, Kanzler und Parlamentsabgeordneten befinden sich in dieser Lebensspanne, wenn sie in ihr Amt gewählt werden. Die Wähler wissen offenbar, dass Kandidaten, die die Lebensmitte bereits überschritten haben, langfristig stabile und berechenbare Persönlichkeiten sind. Das Gehirn hat nun viele Fakten miteinander vernetzt, große Zusammenhänge hergestellt, „Lebenserfahrung“ geschaffen. Dadurch werden manche Teile des Gehirns als „Faktenspeicher“ überflüssig. Das Gehirn wird deshalb abgebaut und damit auch kleiner. Dieser Abbau ist kein Verfall, sondern Ausdruck einer Optimierung. Wenn sich Teile des Gehirns nicht durch Vernetzung von Wissen optimieren lassen, zum Beispiel die Steuerung der Hände, dann bleiben diese Teile des Gehirns auch bei alten Menschen in ihrer Größe voll erhalten (Kalisch et al. 2008).
Das Denken in Zusammenhängen, mit vernetztem Wissen, ist ein Ausdruck von Weisheit. Dazu gehören gemäßigte Gefühle, Weitsicht und Nachsicht. Diese Eigenschaften schreiben viele Kulturen alten Menschen zu, als Idealbild von Großeltern. In den meditierenden Traditionen gilt Weisheit als die höchste Entwicklungsstufe des Geistes. Tatsächlich zeigen Messungen von Brefczynski-Lewis et al. (2007), dass sich ein meditierendes Gehirn mit der Zeit in diese Richtung entwickelt. Zuerst steigt die allgemeine Aktivität im Gehirn an. Es arbeitet immer intensiver und lernt ständig dazu. Bei sehr erfahrenen Meditierenden nimmt diese Aktivität schließlich wieder ab, obwohl sie ihre Leistungsfähigkeit immer weiter verbessern. Offenbar erreichen diese Gehirne eine neue Qualität, bei der reine Aktivität durch andere Mechanismen ersetzt wird. Brefczynski-Lewis et al. (2007) glauben, dass solche Gehirne ihre Möglichkeiten besser ausnutzen und deshalb nicht mehr übermäßig aktiv sein müssen.
Die moderne Gehirnforschung hat viele Belege für die Veränderbarkeit des Gehirns bis ins hohe Alter gefunden. Das Bild vom alten Menschen, der dem Verfall preisgegeben ist, kann für das Gehirn nicht länger gelten. Alte Gehirne können sogar extreme Leistungen vollbringen. Wäre das Gehirn nämlich unveränderlich, dann dürften sich alte Patienten nach einem Schlaganfall nie wieder erholen. Bei Schlaganfällen versagt die Durchblutung in Teilen des Gehirns und ohne Sauerstoff sterben die betroffenen Gehirnzellen schon nach wenigen Minuten ab. In schweren Fällen können...