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E-Book

Rotkäppchen und der Stress

(Ent-)Spannendes aus der Gehirnforschung

AutorManfred Spitzer
VerlagSchattauer
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl252 Seiten
ISBN9783608168600
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Mit dem Thema Stress fühlt der Neurowissenschaftler, Psychiater und Philosoph Manfred Spitzer wieder einmal den Puls der Zeit: Plastisch und unterhaltsam streicht er heraus, was überhaupt Stress ist (und was nicht) und gibt ebenso überraschende wie luzide Antworten auf Fragen wie: Wer hat mehr Stress, mein Chef oder ich? Warum hilft Zeit verschenken gegen Zeitknappheit? Was bewirkt der Achtsamkeits-Hype wirklich? Warum sollte das Märchen von Rotkäppchen weiterhin erzählt werden? Und wie hält man den bösen Wolf von sich fern? In 17 Essays schärft der 'neue Spitzer' auf gewohnt brillante Weise unseren Blick für die Stressphänomene und den Kulturverfall im digitalen Zeitalter. Wussten Sie zum Beispiel, dass das iPhone die Kulturrevolution Maos fortsetzt? Und dass die Traumforscher demnächst vielleicht schon Ihre Träume scannen können? Erfahren Sie, was engagierte Hirnforschung gegen Stress und den schleichenden Kulturverlust aufzubieten hat!

Manfred Spitzer, Prof. Dr. Dr., studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg, war Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, Gastprofessor an der Harvard-Universität und am Institute for Cognitive and Decision Sciences in Oregon. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft, der Lernforschung und Psychiatrie. Seit 1997 ist er Ordinarius für Psychiatrie in Ulm. Spitzer ist Herausgeber des psychiatrischen Anteils der Zeitschrift 'Nervenheilkunde' und leitet das von ihm gegründete 'Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen' in Ulm. Er hat mehrere neurowissenschaftliche Bestseller verfasst und moderiert eine wöchentliche Fernsehserie zum Thema Geist und Gehirn.

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Leseprobe

1 Bloß keinen Stress!


Wenn der Fahrstuhl ausgefallen ist und man die Treppen nehmen muss, um dann nass geschwitzt im dritten Stock anzukommen, dann halten dies viele Menschen für Stress. Das ist aber völlig falsch! Stress ist nicht das Gleiche wie körperliche Anstrengung! – Ganz im Gegenteil: Wenn man sich körperlich kräftig anstrengt und schwitzt, baut man Stress ab!

Stress ist etwas ganz anderes, nämlich das Fehlen von Kontrolle. Betrachten wir hierzu ein ganz einfaches Beispiel (17) (Abb. 1-1): Eine Ratte sitzt in einem Käfig und bekommt ab und zu über dessen Drahtfußboden einen kleinen elektrischen Schock. Der Schock tut weh und die Ratte versucht, ihn zu vermeiden. Dies ist ihr möglich, denn man baut eine kleine Lampe in den Käfig, die immer kurz vor dem Elektroschock aufleuchtet. Weiterhin befindet sich im Käfig noch eine Taste, die gedrückt werden muss, sobald die Lampe aufleuchtet. Geschieht dies, erfolgt kein elektrischer Schock. Ist die Ratte jedoch etwas zu langsam, folgt das schmerzhafte Schockerlebnis. Man kann das Ganze so einstellen, dass es der Ratte meistens gelingt, den Schock zu vermeiden. Ab und zu wird sie jedoch zu langsam sein und dann wird sie einen Schock bekommen. Am Schock-Apparat ist ein weiterer Käfig im Nachbarraum angeschlossen. Auch in diesem Käfig sitzt eine Ratte. Immer wenn die Ratte Nummer 1 einen schmerzhaften Schock bekommt (also zu langsam war in ihrer Reaktion auf das Lämpchen), dann bekommt auch Ratte Nummer 2 im zweiten Käfig einen Schock. Ansonsten hat Ratte Nummer 2 nichts zu tun und „hängt ab“, wie die jungen Leute heute sagen würden. Sie hat keine Lampe und keinen Hebel, kann also an ihrem Schicksal nichts ändern. Umgekehrt braucht sie weder auf der Lauer zu liegen, noch auf das Licht zu achten.

Abb. 1-1 Versuchsanordnung (schematisch) zur Untersuchung von Stress.

Welche von beiden Ratten bekommt nun Stress aufgrund der Rahmenbedingungen ihres Lebens im Käfig? – Man möchte meinen, die Ratte Nummer 1. Sie ist aufmerksam und angespannt, muss rasch reagieren und ist damit in gewisser Weise immer „unter Strom“. Anders die Ratte Nummer 2, die nichts zu tun hat und einfach nur gelegentlich einen Schmerzreiz erhält – genau denselben wie Ratte Nummer 1 und zur genau gleichen Zeit. Durch Messung der Konzentration von Stresshormonen im Blut oder durch Beobachtung von stressbedingten Krankheiten wie Magengeschwüren, Bluthochdruck, Diabetes, Infektionen oder malignen Erkrankungen kann man zeigen, dass nicht Ratte 1, wie man erwarten würde, Stress hat, sondern Ratte 2. Obwohl beide objektiv das gleiche Unbill erleben (die gleichen schmerzhaften Schocks zur genau gleichen Zeit), gibt es im subjektiven Erleben der Tiere einen großen Unterschied: Ratte 1 hat ihre Situation einigermaßen „im Griff“, Ratte 2 nicht. Ratte 1 bemerkt, dass sie meistens den Schock vermeiden kann, und nur wenn sie nicht richtig aufpasst und daher zu langsam ist, wird sie gewissermaßen „zu Recht“ dafür bestraft. Ratte 2 hingegen kann was auch immer anstellen, sie bekommt ab und zu einen schmerzhaften Schock wie aus heiterem Himmel.

Das Experiment zeigt ganz deutlich: Nicht die unangenehmen Erfahrungen an sich bewirken Stress, sondern das Gefühl, ihnen machtlos ausgeliefert zu sein. Wenn wir wissen, dass wir keine Einwirkungsmöglichkeit und keine Kontrolle haben, löst das bei uns (wie bei der Ratte) chronischen Stress aus. Gestresst sind wir immer dann, wenn uns die Kontrolle abhandenkommt.

Betrachten wir ein einfaches Beispiel aus dem menschlichen Lebensalltag: Menschen sind Gemeinschaftswesen (15), sie fühlen sich in der Gemeinschaft wohl und suchen sie auf. Umgekehrt bereitet uns akute Vereinsamung Schmerzen (14, 16). Diese zeigen an, dass wir unser Verhalten ändern sollten, um nicht langfristig einsam zu sein. Denn alleine treffen einen die Wechselfälle des Lebens ungleich härter als in einer Gemeinschaft von der man getragen wird – buchstäblich, wenn man verletzt oder krank ist, und im übertragenen Sinne bei allen anderen Widrigkeiten. Gute Gemeinschaft ist der ultimative Puffer gegenüber Stress!

Genau dies zeigt eine Studie, bei der nichts anderes gemessen wurde als die Konzentration von Stresshormon einerseits und das Gefühl, in seiner Gemeinschaft aufgehoben zu sein andererseits (3). Einhundertfünfundzwanzig freiwillige Probanden (54 Männer) erklärten sich auf eine Annonce hin bereit, für ein Entgelt von 60 US-Dollar einen Stress-Provokationstest über sich ergehen zu lassen. Hierbei handelte es sich um den Trier Social Stress Task (TSST), eine Prozedur, die seit 20 Jahren zur Provokation von Stress in Laboratorien verwendet wird (10, 11). Er besteht darin, dass eine Versuchsperson vor einem Publikum, das sich eher ablehnend verhält, eine freie Rede halten muss und Kopfrechenaufgaben so schnell wie möglich lösen soll. Es geht also um sozialen Stress – keine Elektroschocks oder Schmerzen, sondern lediglich die Chance, sich zu blamieren –, der gerade beim Menschen, dem ultimativen sozialen Wesen, sehr leicht und mit großer Zuverlässigkeit entsprechende körperliche Reaktionen hervorruft.

Die Teilnehmer mussten also eine fünfminütige Rede darüber halten, warum sie der ideale Büroassistent sind. Ihnen wurde zuvor gesagt, dass die Rede auf Video aufgezeichnet wird und zum einen von einer Gruppe ihrer Mitstreiter und zum anderen von einer Expertengruppe bewertet würde. Die Rede wurde dann tatsächlich vor zwei Studentinnen gehalten, bei denen es sich um studentische Hilfskräfte handelte, die zuvor instruiert worden waren, auf die Rede relativ gelangweilt bis ablehnend zu reagieren. Direkt danach musste die Versuchsperson dann von der Zahl 2 083 jeweils 13 abziehen (Kopfrechnen), wobei ihnen zuvor gesagt wurde, dass sie dies so rasch wie möglich und so genau wie möglich tun sollten. Bei einem Fehler mussten sie wieder von vorne beginnen. In Abständen von einer Minute wurden sie von den nach wie vor anwesenden zwei vermeintlichen „Mitstudenten“ dazu aufgefordert, schneller zu rechnen. Spaß machte das Ganze mit Sicherheit nicht!

Die Cortisolkonzentrationen wurden bei allen Versuchspersonen 10 Minuten nach Betreten des Labors (entsprechend etwa 40 Minuten vor dem Stresstest) und etwa 20 Minuten nach Beginn des Stresstests gemessen. Dies geschah mit einem Wattestäbchen, das die Probanden für eine Minuten und 45 Sekunden über die Mundschleimhaut rollen mussten.

Von den Teilnehmern des Stresstests wurde anschließend in Erfahrung gebracht, ob sie bei einer weiteren Studie teilnehmen würden, in deren Rahmen unter anderem eine fMRT-Untersuchung durchgeführt wurde und für die es erneut 60 US-Dollar an Aufwandsentschädigung gab. Bei den hiermit einverstandenen 32 Probanden wurde zunächst eine „Time Sampling-Prozedur“ durchgeführt, um das Ausmaß der sozialen Unterstützung bei alltäglichen sozialen Interaktionen zu messen. Man verlieh hierzu an alle Probanden einen Taschencomputer (Palm Pilot), der so programmiert war, dass er sich in zufälligen Abständen bemerkbar machte und die Probanden aufforderte, den Grad der Unterstützung, die sie im Rahmen ihrer jüngst zurückliegenden sozialen Interaktion erfahren hatten, zu bewerten.

Man wollte hierbei ganz allgemein das Ausmaß der von jeder Versuchsperson erlebten sozialen Unterstützung erfahren. Daher fragte man nicht nach dem Ausmaß der sozialen Unterstützung bei genau diesem Erlebnis, sondern nach der sozialen Unterstützung, die man im Allgemeinen von der getroffenen Person erhält. Verwendet wurden dazu drei Sieben-Punkte-Skalen, die von „1 = mir nicht nahestehend“ bis „7 = mir sehr nahe“ sowie von „1 = bedrohlich“ bis „7 = angenehm“ sowie von „1 = nicht unterstützend“ bis „7 = sehr unterstützend“ reichten. Es ging also nicht um die konkrete soziale Interaktion, sondern um das Verhältnis zu dem betreffenden Interaktionspartner ganz allgemein. Im Durchschnitt gab es bei den Teilnehmern pro Tag 2,5 solcher Einschätzungen, sodass über einen Zeitraum von 10 Tagen pro Teilnehmer 25 Einschätzungen ihrer Sozialkontakte erhoben wurden. Das Ausmaß der von den Teilnehmern jeweils erlebten sozialen Unterstützung wurde dann durch Bestimmung der Mittelwerte von Nähe, Angenehmheit und Unterstützungsgrad berechnet. Bei dieser kleinen Gruppe von 32 Teilnehmern handelte es sich um 19 Frauen und 13 Männer im mittleren Alter von 20,6 Jahren (Bereich 18 bis 36 Jahre) unterschiedlicher ethnischer Herkunft (28,1 % europäisch-amerikanisch; 40,6 % asiatisch-amerikanisch, 15,6 % spanisch/Latino, 6,3 % afrikanisch-amerikanisch und 9,4 % andere).

Für die kernspintomografische Untersuchung wurde das bekannte Cyberball Paradigma verwendet, bei dem drei Probanden miteinander Ball spielen, und das auch schon in der vor 10 Jahren im Fachblatt Science erschienen Studie von Eisenberger und Mitarbeitern (3) eingesetzt wurde. Nachdem das Zuwerfen eines virtuellen Balls mit Joystick und Bildschirm gelernt worden war und von allen Beteiligten gespielt werden konnte, wird einer der Probanden in einen Magnetresonanztomografen gefahren. Zunächst wurde das Spiel für etwa 140 Sekunden gespielt, wobei alle drei zusammen spielten und der Teilnehmer im MR-Scanner etwa 50 % der Würfe erhielt (Bedingung Inklusion). Danach wurde wieder gespielt, wobei jedoch der Teilnehmer im Scanner zunächst während eines Zeitraums...

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