Zusammenfassung
Hintergrund und Ziel der Studie
Familie ist für viele Menschen Voraussetzung für Wohlbefinden und Geborgenheit sowie Rückzugsort zur Regeneration. Sie bieten für Erwachsene wie Kinder emotionale, körperliche und mentale Fürsorge. In der Familie werden vielfältige Leistungen erbracht, besonders natürlich für Kinder, aber auch für Erwachsene. Im täglichen Miteinander finden wertvolle Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung, der sozialen Interaktion, der Bildungsvermittlung und des Kompetenzerwerbs statt, denn Familie ist der wichtigste Lebens- und Bildungsort für Kinder. All diese innerfamilialen Leistungen sind jedoch auch für die Gesellschaft von besonderer Bedeutung. Familien sind ein zentrales Strukturelement in unserer Gesellschaft, sie fördern den sozialen Zusammenhalt und tragen durch die Sorge für die nachwachsende Generation zu ihrem Erhalt bei. Nicht zuletzt schaffen sie die funktionalen Voraussetzungen für Erwerbsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat.
Um die verschiedenen, individuell und gesellschaftlich relevanten Leistungen erbringen zu können und Kindern gute Bedingungen des Aufwachsens zu ermöglichen, bedürfen Familien bestimmter Rahmenbedingungen. Dies gilt umso mehr, da Familien heute vor vielfältigen komplexen Herausforderungen stehen. Seit den 60er- und 70er-Jahren fanden diverse Veränderungen in der Gesellschaft, der Arbeitswelt und im familialen Miteinander statt. Dieser Wandel hat sich in den letzten 20 Jahren verschärft; mehrfache Entgrenzungen erfordern heute ein gezieltes »Doing Family« (Jurczyk et al. 2009a und 2009b; Jurczyk 2013), also eine gezielte und aktive Gestaltung und Herstellung des familiären Alltags.
Dabei haben diese Veränderungen natürlich vielfach dazu beigetragen, dass individuelle und familiäre Lebensentwürfe verwirklicht werden konnten und starre Rollenbilder aufgeweicht wurden. Insofern hat der gesellschaftliche Wandel durchaus viel Positives mit sich gebracht. Doch Familien stehen heute bei der Bewältigung ihres Alltags eben auch vor wachsenden Herausforderungen. Die Rahmenbedingungen für die Gestaltung eines Familienlebens, das Kindern gelingendes Aufwachsen ermöglicht, sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend komplex geworden. Dies ist bedingt durch gleichzeitige, aber nicht aufeinander abgestimmte Veränderungen der Erwerbsbedingungen, der Familienformen sowie der Geschlechterverhältnisse (Jurczyk et al. 2009b).
Ziel der vorliegenden Studie ist es, die verschiedenartigen Entwicklungen der letzten 20 Jahre aufzuarbeiten und anhand einschlägiger Daten und Befunde Trends zu skizzieren, sodass die neuen Herausforderungen für Familien und Familienpolitik sichtbar werden. Die Studie dient damit als Grundlage für eine Debatte, wie die Familienpolitik auf die Veränderungen von Gesellschaft, Arbeit und Familie reagieren sollte, um die Erbringung der familialen Herstellungsleistungen zu ermöglichen. Denn bisher – so die grundlegende These – hat die Familienpolitik die veränderten Rahmenbedingungen für Familien noch zu wenig bzw. nicht systematisch im Blick. Infrastrukturelle Angebote und Kontexte wurden den neuen Herausforderungen bislang nicht oder nur unzureichend angepasst, sodass die Anforderungen an die Gestaltung des Alltags von Familien heute vielfach sehr hoch und mitunter kaum zu bewältigen sind.
Die Perspektive der Studie richtet sich auf die Frage, welche Folgen sich aus den beschriebenen Trends und der fehlenden Passung der gesellschaftlichen und familienpolitischen Rahmenbedingungen für Kinder ergeben und wie Kindheit unter den gegebenen Umständen gelebt wird. Denn allen Kindern Wohlergehen und gelingendes Aufwachsen zu ermöglichen, sollte das zentrale Ziel einer nachhaltigen Familienpolitik sein. Insofern trägt die Studie dazu bei, Familienpolitik neu von den Kindern aus zu denken.
Neue Herausforderungen für Familien – acht Trends
Im Rahmen der Studie wurden acht Trends identifiziert, die die Veränderungen des Familienalltags und seiner Rahmenbedingungen aufzeigen. Diese Trends werden im Folgenden kurz beschrieben.
Trend 1: Zunahme vielfältiger Lebensformen
Lebensverläufe sind in den vergangenen Jahrzehnten dynamischer geworden. Die Koordination der Lebensentwürfe der einzelnen Mitglieder innerhalb einer Familie ist damit komplexer geworden. Zwar ist die Ehe nach wie vor die meistgelebte Familienform in Deutschland – ihr Anteil an allen Familienformen hat sich aber seit 1996 um ein Drittel reduziert (BMFSFJ 2012a: 14), sodass andere Formen zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Bei rückläufiger Heiratsneigung stagniert die Zahl der Ehescheidungen auf hohem Niveau. Seit 2002 liegt der Anteil der Scheidungen bei rund 35 Prozent an allen Eheschließungen. Bei knapp der Hälfte der Scheidungen sind minderjährige Kinder betroffen (BMFSFJ 2012a). Immer mehr Kinder wachsen nur bei einem Elternteil auf – in den allermeisten Fällen (etwa 90 %) bei der alleinerziehenden Mutter. Die Zahl der Eltern, die ein Kind unter 18 Jahren allein großziehen, lag 2011 bei 1,6 Millionen; 1996 lag dieser Wert bei 1,3 Millionen (ebd.: 14).
Abbildung 1: Familienformen 1996 und 2012
Die Zahl der Kinder, die von unverheirateten Müttern geboren werden, steigt ebenfalls kontinuierlich. Während 1998 von allen Neugeborenen jedes fünfte Kind aus einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft stammte, war es 2010 bereits jedes dritte Kind. Dabei gibt es zwischen den Bundesländern erhebliche Unterschiede (Langmeyer und Walper 2013).
Kinder wachsen heutzutage seltener in der sogenannten Normalfamilie auf und erleben mehr Übergänge von der einen Familienform in die andere. Aufgrund von Nichtverheiratung, Trennung bzw. Scheidung oder auch Wiederverheiratung und dadurch entstehenden Patchworkfamilien hat sich das Aufwachsen in verschiedenen Familienformen pluralisiert. Dies kann dazu führen, dass Kinder, insbesondere aus Nachtrennungsfamilien, heute häufiger multilokal, das heißt in verschiedenen Haushalten leben.
Abbildung 2: Anteile nicht ehelich geborener Kinder in den Bundesländern Deutschlands 1998 und 2010
Trend 2: Erosion des konventionellen Ernährermodells
Viele Faktoren, vor allem die Bildungsexpansion, haben zu einer größeren Beteiligung von Frauen und Müttern am Erwerbsleben geführt. Männer sind oft nicht mehr allein verantwortlich für das Familieneinkommen. Unterschiede in Ost- und Westdeutschland hinsichtlich der Arbeitsbeteiligung gibt es dabei nach wie vor: Während in Westdeutschland noch 28 Prozent der Paare mit Kindern das traditionelle Ernährermodell leben, findet es sich in Ostdeutschland nur bei zwölf Prozent der Familien (Tölke 2012: 207).
Obwohl Frauen vermehrt am Arbeitsmarkt tätig sind, hat sich ihr Arbeitszeitvolumen in den letzten Jahren vermindert – die Zahl der Teilzeitbeschäftigungen steigt entsprechend. 1991 waren 57 Prozent der Frauen in Deutschland durchschnittlich 32,1 Stunden erwerbstätig. 2012 waren 67,8 Prozent der Frauen erwerbstätig – jedoch im Schnitt 26,5 Stunden pro Woche (Statistisches Bundesamt 2013d: 121, und 2013e; eigene Berechnungen).
Abbildung 3: Durchschnittlich tatsächlich geleistete Wochenarbeitsstunden der Erwerbstätigen nach Geschlecht, 1991 bis 2012
Der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit hat zu weitreichenden Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen und Geschlechtsidentitäten geführt. Für Kinder bedeutet dieser Wandel, dass sie heute in der Regel nicht mehr ausschließlich von der Mutter betreut werden, sondern sich die Settings, in denen sie aufwachsen, vervielfältigt haben. Dies gilt vor allem für Kinder, deren Mütter erwerbstätig sind. Erwerbstätige Frauen bringen entsprechend weniger Zeit am Tag für die Kinderbetreuung auf als nicht erwerbstätige Frauen (für Kinder unter sechs Jahren: 1:50h zu 2:57h). Allerdings zeigt der Vergleich zwischen 1991/1992 und 2001/2002, dass die durchschnittliche Betreuungszeit nicht ab-, sondern sogar zugenommen hat (Statistisches Bundesamt 2003).
Abbildung 4: Erwerbstätigenquote nach Geschlecht an der Bevölkerung im Alter von 15 bis unter 65 Jahren, 1959 bis 2012
Hinzu kommt, dass Väter als Bezugspersonen für ihre Kinder zunehmend wichtiger werden. Auch wenn in vielen Familien der Vater nach wie vor als wichtiger Ernährer gilt, hat sich das Verständnis der Vaterrolle grundlegend gewandelt. Männer wollen mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Während 2007 erst 12,4 Prozent der Väter Elterngeld in Anspruch nahmen, bezogen dies im vierten Quartal 2011 bereits 27,7 Prozent (Schutter und...