Die U3 – oder auch: Die Wege der Integration sind unergründlich
Kevser Muratović
Als ich das Thema des ersten muslimischen Kreativwettbewerbs in Österreich erfuhr, hatte ich wenig Anlass, überrascht zu sein: INTEGRATION (sic!).
Ich konnte also wieder einmal getrost feststellen, dass „Integration nach über 30 Jahren wieder in Mode“ war, um wenig später ebenso wie Mark Terkessidis zu konstatieren: „Sehr sinnvoll ist das nicht.“1 Nicht, dass ich eine Integrationsgegnerin oder gar -verweigerin wäre, von denen es zumindest laut Thilo Sarrazin nur so wimmeln dürfte, aber die Tatsache, dass sich dieses Thema seit Jahrzehnten hartnäckiger und nachhaltiger als die globale Erwärmung (und die ist ja wirklich besorgniserregend) in der öffentlichen Diskussion hält, hat etwas Ermüdendes an sich. Ermüdend zum einen, weil die Integrationsthematik wirklich eigenartige Auswüchse hervorgebracht hat, von vermeintlichen Kronzeugen2 bis hin zu pseudowissenschaftlichen Überbevölkerungsneurosen, zum anderen aber auch, weil nach zig Tagungen, etlichen Symposien und Arbeitskreisen, noch mehr Dialogforen und Diskussionsrunden keine wesentliche Veränderung oder Verbesserung erreicht werden konnte. Wenn man mich denn nun fragt, worin diese Veränderung und Verbesserung eigentlich bestehen soll, so muss ich ehrlich gestehen, dass ich es nicht mehr weiß. Ja genau, ich weiß es nicht mehr. Vielleicht habe ich es im Getöse der letzten Jahrzehnte vergessen; aber vielleicht sehe ich auch einfach keine Notwendigkeit mehr darin, mich daran zu erinnern: In der charmanten Universitätsstadt Tübingen geboren, wuchs ich unweit von dort im allseits bekannten Schwabenländle auf. Spätzle standen bei uns genauso auf dem Tisch wie Pizza und Pasta, im Gegensatz zu Döner übrigens. Ich war im Volleyballverein und habe Reitsport getrieben, war ehrenamtlich tätig und habe am Wochenende das Gemeindeblättle ausgetragen, um mir ein Taschengeld zu verdienen. Ich habe auf Deutsch gelernt, gesungen, studiert und abgeschlossen. Ganz normal eben.
Die einzige Frage, die mir in diesem Zusammenhang wirklich legitim erscheint, ist: Warum bin ich eigentlich keine Kronzeugin geworden? Oder all die anderen, die eine ähnliche Geschichte erzählen könnten? Nun ja, vermutlich ist es die falsche. Wie auch immer, zurück zum Kreativwettbewerb oder dazu, warum ich mich trotz allem dafür entschied, an diesem Wettbewerb mit diesem Thema teilzunehmen.
Der einmal ins Rollen gebrachte Integrationsschneeball hat mittlerweile so eine Wucht entwickelt, der sich realistisch gesehen einfach keiner mehr entziehen kann, auch nicht meine Wenigkeit oder sagen wir es so: besonders meine Wenigkeit nicht. Einen Migrationshintergrund zu haben, bedeutet letztendlich, auf das Thema Integration eingeschworen zu sein, ob man will oder nicht. So konnte ich nicht umhin, mich doch vom Thema des Wettbewerbs angesprochen zu fühlen. Denn einen Migrationshintergrund zu haben, bedeutet letztendlich auch von Anfang an, dass Differenz das ausschlaggebende Prinzip ist, wie man selber seine Umwelt betrachtet, als auch von dieser betrachtet wird. Allerdings, und das muss dazu gesagt werden, ist diese Differenzlinie alles andere als freiwillig gewählt. Ich habe mich jetzt hin und her gewunden und versucht, das Unvermeidliche zu vermeiden, um nicht einen weiteren Begriff zu tangieren, der ähnlich wie „Integration“ eine wurmlochähnliche Wirkung entfaltet; aber vergeblich! Wenn ich über Differenz schreibe, so muss ich auch schreiben, worin sich diese manifestiert: Identität. Oder um genauer zu sein, der Teil meiner Identität, der anders ist, als anders und fremdartig wahrgenommen wird, als maßgeblicher Unterschied, als nennens- und bemerkenswerte Unterscheidung. Amin Maalouf drängt sich hierbei auf, wenn er schreibt: „Oft neigt man übrigens dazu, sich gerade in seiner am stärksten angegriffenen Zugehörigkeit wiederzuerkennen. […] Aber ganz gleich, ob man sie annimmt oder versteckt, sich diskret oder lautstark zu ihr bekennt: sie ist es, mit der man sich identifiziert. Die betreffende Zugehörigkeit […] beherrscht dann die gesamte Identität.“3 Die Festschreibung auf ein einziges Identitätsmerkmal ist ein enges Korsett, dessen einschränkende Wirkung mal mehr, mal weniger stark empfunden wird. Es war und ist mir schon immer ein großes Rätsel gewesen, warum Menschen mit Migrationshintergrund bestenfalls Spezialisten für Migrationsthemen sein konnten. Diese „exotistische Instrumentalisierung“4 betrachte ich als großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und auch persönlichen Verlust. Sie verstellt den Blick auf die vielen Identitätsanteile, die einen jeden Menschen aus- und auch so flexibel machen. Alle diese Anteile zu sehen, kennenzulernen, zu nutzen hätte eine äußerst befreiende Wirkung für beide Seiten: sowohl für diejenigen, die als Migranten, als auch für diejenigen, die als Nichtmigranten beschrieben werden.
Diese befreiende Wirkung erfuhr ich selber, kurz nachdem ich meinen Lebensmittelpunkt von Tübingen nach Wien verlegt hatte, bei einer U-Bahn-Fahrt mit der U 1. So mich meine Erinnerungen nicht täuschen, war es die Haltestelle Karlsplatz – damals wie heute eher wenig beliebt bei den Wienern –, als ich mit einem Schwall Menschen ausstieg, um Richtung Rolltreppe zu gehen und mir eines schlagartig bewusst wurde: Ich war ein Mensch unter vielen! Niemand wollte oder konnte sich die Zeit nehmen, mich aufgrund meines Kopftuches anzugaffen. Ich war – wenn auch nur für einige Minuten – ein Mensch, der aus der U-Bahn ausgestiegen war. Nicht mehr und nicht weniger. So äußerte sich die viel kritisierte Anonymität einer Großstadt für mich denkbar positiv und erhellend! Wenn man sich dann aus den Tiefen der U-Bahn-Haltestelle an das Tageslicht befördert hatte und am Ring vor der Oper stand, war man neben den ganzen chinesischen, arabischen, indischen, russischen, europäischen Touristen, neben den ganzen Backpackers, Geschäftsleuten, Punks und Diven alles andere als anders.
Ich will nicht in nostalgischen Erinnerungen schwelgen oder Österreich als Schlaraffenland für Muslime stilisieren, aber das Gefühl, dass mein Kopftuch nicht gesehen wird und somit meine augenscheinlich einzige Differenzlinie zur Mehrheitsgesellschaft (wie sehr ich diese Begriffe doch nicht mag!), ist für mich mit Wien verbunden. Hier hatte ich das Gefühl zum ersten Mal und noch viele Male danach. Deswegen spielen Wien, die U-Bahn sowie alle Begriffe in und um den Integrationssalat eine Rolle für mein Gedicht, das ich im Rahmen des Kreativwettbewerbs verfasst habe. Ich bin froh darüber, dass ich, meiner Identität als Migranten-Andere folgend, die Möglichkeit der kreativen Auseinandersetzung mit dem Integrationsthema in Anspruch genommen habe, worin ich übrigens den besonderen Wert des Creative Muslim Contest auch ausmachen kann. Das „Problem Integration“ aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und mit kreativer Distanz zu durchleuchten, hatte etwas Befreiendes. Meines Erachtens konnten auf diese Weise neue Handlungsspielräume generiert werden, da vollkommen andere, eher unerprobte Fähigkeiten und Kompetenzen – nämlich kreative und gestalterische – zum Zuge kamen. Die Übersetzung der eigenen Integrationserfahrungen in die Sprache der Kunst und Ästhetik erfordert nämlich das Beherrschen der verschiedenen „Sprachen“: die Muttersprache, die Mehrheitssprache, die Integrationssprache und die Kunstsprache. Mit Humboldt gesprochen: „Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neue Arten zu denken und empfinden stehen […] vor uns da.“5
Hier nun mein Gedicht:
Die U3 – oder auch:
Die Wege der
Integration
sind
unergründlich.
Integration
in 25 Minuten.
Von Station zu Station
ohne Komplikation?
Das wäre eine Sensation!
OTTAKRING
Einsteigen bitte!
Es beginnt …
1890 Eingemeindung Ottakrings in Wien.
Per Definition
ganz ohne Komplikation.
Einfache Inklusion!
JOHNSTRASSE
Ach, Franz Xaver John!
Du wurdest belohnt für deine
„erfolgreiche Insubordination“.
Heute ich
nur Exklusion,
manchmal sogar Aversion.
WESTBAHNHOF
Knotenpunkt.
43.000 Personenfrequenz.
Menschenakkumulation
unproblematische Transaktion
Geben und Nehmen in Aktion.
NEUBAUGASSE
Entstanden nach der 1. Türkenbelagerung.
Nicht die letzte Konfrontation.
VOLKSTHEATER
Gegründet für die breite Masse.
Eine wunderbare Intention:
Gesellschaft ohne Segregation.
Auch...