Keiner soll hungern, ohne zu frieren
Wenn man heutzutage an Internate denkt, dann fallen einem so berühmte Namen wie »Salem« oder »Louisenlund« ein, Eliteschmieden für den bräsigen Nachwuchs unseres nicht mehr vorhandenen Hochadels und der oberen Zehntausend aus Wirtschaft und Gesellschaft. Reich, abgeschoben und abgehoben. Oder man assoziiert den Begriff »Internat« mit Geschichten aus Jugendbüchern, zum Beispiel »Die Jungens von Burg Schreckenstein« oder »Das fliegende Klassenzimmer«. Geschichten, in denen Lehrer immer hart, aber fair und kumpelig sind.
Wer seine Kinder insgesamt nicht so gelungen findet, der kann sie natürlich auch gleich nach England auf ein altehrwürdiges Lehrinstitut schicken: Dann sind sie erstens weiter weg, zweitens rücken sie einem am Wochenende nicht dauernd auf die Pelle, und drittens sind sie später trink- und prügelfest. Und laufen das ganze Jahr – egal, bei welchem Wetter – im T-Shirt rum. Engländer halt. Mit all dem hatte das »Nordsee-Internat« in Büsum, mal abgesehen vom Alkohol und der Gewalt, nichts gemein. Büsum kam auch nur für Kinder infrage, deren Eltern nicht genug Geld hatten, oder nicht mehr ausgeben wollten. Denn mit den 500 D-Mark, die Büsum im Monat kostete, kann man in Internaten wie »Louisenlund« gerade mal den täglichen Wackelpudding bezahlen. Waldmeister statt Weltmeister.
Das Erste, was mir im »Nordsee-Internat« auffiel, als ich durch die Eingangstür trat, war eine unglaublich steile, lange Treppe, die für mich kleinen, zehn Jahre alten Jungen fast senkrecht in das obere Stockwerk zu führen schien. Rechts neben dem Eingang befand sich das »Erzieherzimmer«, und links ging es in einen großen Speisesaal. Davor war eine freie Fläche, an deren Ende eine Tischtennisplatte stand. Von dort aus ging es in den »Schuhraum«, in dem die Schuhe aller Internierten in einzelnen Fächern lagerten. Ein Geruch, den ich nie vergessen werde. Ein leicht entzündliches Gasgemisch aus verqualmter Hornhaut, käsemaukigen, vollgeschweißten Einlegesohlen und Schuhwichse. Jeden Abend war »Schuhappell«, und jedes Zimmer musste seine geputzten Schuhe vorzeigen. Vielleicht war deshalb der Duschraum auch nur durch diesen muffig riechenden Fuß-Parmesan-Verschlag zu erreichen. Der Duschraum roch allerdings auch nicht nach Chanel, eher nach Kamel.
Der erste Stock, in dem sich unsere Aufenthaltsräume befanden, glich einem Kasernenflur, von dem rechts und links die Zimmertüren abgingen. Hinter den vorderen sieben verbargen sich 6-Mann-Zimmer mit einem Tisch und sechs Stühlen in der Mitte. An den Wänden standen Kleiderspinde, wie man sie auch bei der Bundeswehr verwendet. In drei Ecken waren »Doppelschreibtische«, sodass jeder Bewohner eine kleine Ecke »Privatsphäre« hatte, also einen halben Schreibtisch und ein Stück Wand, an dem man Fotos oder Poster anbringen durfte. Hinter einer der Türen war ein riesiger Waschraum, und am Ende des Ganges verbarg sich unser Heiligtum: »der Saloon«. In diesem Zimmer standen zwei heruntergekommene, abgewetzte Sofas, ein paar durchgefurzte Sessel und der einzige Schallplattenspieler im ganzen Haus. Wer jetzt denkt, dass dieser unglaubliche Luxus nicht mehr zu toppen sei, der folge mir noch ein Stockwerk höher in den 42-Mann-Schlafsaal. Hier verbrachten die Insassen des Nobeletablissements ihre Nächte. Natürlich in Etagenbetten, wie es früher in jeder Art Knast so üblich war. Vor dem Schlafsaal gab es ein Krankenzimmer mit zwei Betten und zwei Zimmer für die »Großen«. Das waren die ältesten sechs, die das unglaubliche Privileg genossen, in Dreibettzimmern zu schlafen. Die »ältesten Sechs« waren zwischen 14 und 16 Jahre alt und sehr gefürchtet, denn den Frust, die Wut und die Aggression, die in diesen pubertären Jungs oft wütete, ließen sie gnadenlos an Schwächeren und Neulingen wie mir aus. Sie waren gleich nach den Erziehern die dunkle Seite der Macht im Internat. Die Darth Vaders vom Todesstern Büsum.
Diese Macht bekam ich gleich am ersten Tag zu spüren, denn alle »Neuen« mussten sich am Nachmittag vor der »Vollversammlung« einfinden. Das bedeutete im Klartext: Die mächtigen Sechs saßen hinter einem Tisch aufgereiht wie die Arschgeigen der heiligen Inquisition, und die gesamte restliche Meute stand dahinter. Ich, der kleine Mike, saß auf einem Stuhl davor und musste Fragen beantworten, die dem Intelligenzgrad einer Hirnamöbe zur Ehre gereicht hätten: »Wieso haben dich deine bekloppten Alten denn in diese Drecksbude eingeliefert? Wie siehst du denn aus?« Ich konnte zum Glück die wichtigste aller Fragen: Kannst du Fußball spielen?, mit einem klaren »Ja« beantworten und hatte so bis zum ersten Testspiel schon mal Zeit gewonnen. Ich dachte, wenn ich erst mal einen auf unterwürfig mache, würde ich vorerst am besten durchkommen, und damit sollte ich leider auch recht behalten. Denn mein Nachfolger als Delinquent, ein Junge aus Bochum, war unvorsichtigerweise etwas zu aufsässig cool und wurde gleich zu zweimal »Prügelgasse« verurteilt. Prügelgasse war eine brutale Angelegenheit, zu der sich die 48 Internatler in zwei Reihen aufstellten. Der verurteilte Unglücksrabe musste durch die entstandene Gasse laufen, und jeder versuchte, ihm auf seinem Weg ordentlich eine zu verpassen. Das war echt übel, denn die meisten droschen drauf wie auf »kaltes Eisen«. Aber zweimal Prügelgasse, wie es der Junge aus Bochum bekommen hatte, war kaum zu schaffen, da sich die Großen meistens ans Ende der Gasse stellten, um dem dort schon schwer Angeschlagenen den Rest zu geben. Der arme Kerl schaffte es auch nur anderthalbmal und wurde dann ins Krankenzimmer getragen. So hatte ich schon an meinem ersten Tag meine wichtigste Lektion gelernt: Die Prügelgasse sollte ich auf jeden Fall vermeiden. Heute frage ich mich ziemlich verwundert und entsetzt, wo bei solchen Aktionen eigentlich die Erzieher waren und warum das ganze unmenschliche Szenario nicht unterbunden wurde. Naiv und gutgläubig, wie ich nun mal war, konnte ich ja nicht ahnen, dass die größte Gefahr genau von diesen für uns abgestellten Elitepädagogen ausgehen sollte.
Büsum war auch 1962 schon ein verschlafener Badeort an der Nordsee. Es gab eine »Mainroad« mit ein paar Kneipen und Geschäften, einen kleinen Hafen, in dem die Fischkutter bei Ebbe auf dem Trockenen lagen, und einen Strand ohne Sand, aber mit Rasen. Dazu kamen ein Gymnasium und drei Internate. Ich weilte im Haus »Sommerlust«, das war die Abteilung für die Kleinen. Im »Seeblick« wohnten die Jungen aus der Oberstufe, die waren so zwischen 16 und 20 Jahre alt – je nachdem, wie oft ein Schüler seinen Vertrag per Sitzenbleiber-Ehrenrunde verlängerte. Zu unser aller Freude war der dritte Schulknast ein Mädcheninternat ganz am anderen Ende von Büsum. Die »Internatis« wurden von den anderen Schülern gleichermaßen bewundert, bestaunt und beneidet, weil sie ja aus vermeintlich »reichen« Familien kamen. Jeden Morgen gingen wir – wie alle anderen Schüler aus Büsum und Umgebung – ins »Nordsee-Gymnasium«, das heißt, dort trafen sich »Internatis«, Bauernsöhne, Fischköppe und die Söhne und Töchter aller anderen Einwohner, die die Anforderungen dieser Hochbegabtenschmiede erfüllten.
Zu meiner Zeit war natürlich alles besser, denn früher war ja auch alles aus Holz. Im Ernst, der Unterricht wurde damals noch in Holzbaracken abgehalten. In jedem Klassenzimmer stand ein Holzofen, der vor dem Unterricht von nervösen, gewaltbereiten Schülern auch gerne mal mit zertrümmertem Inventar liebevoll ergänzend versorgt wurde.
Da ich leider zum Herbst in diese Einöde gekommen war, lernte ich das Kaff gleich von seiner hässlichsten Seite kennen. Der Winter war nicht nur die Zeit, in der die bitteren, saukalten Winterstürme über das flache Land und die Nordseeküste fegten, sondern auch die Zeit, in der die Internatis versuchten, ihre schlechten Noten vom letzten Halbjahr wieder aufzuholen. Dazu gab es dann alle möglichen Nachhilfe-AGs. Im Speisesaal, der nachmittags zum sogenannten Büffelbunker wurde, versuchte sich jeder verzweifelt an irgendetwas vom morgendlichen Unterricht zu erinnern. Das waren Monate voller Tristesse, die ich noch heute nur zu gerne mental storniere.
Ansonsten war Sport die »Nummer 1« im Internat, besonders und vor allem: Fußball. Gespielt wurde dreimal die Woche, und zwar so lange, bis der Platz gefroren und damit unbespielbar war. Ich hatte schnell spitzgekriegt, dass man als Stammspieler der Schulmannschaften unter dem persönlichen Schutz des Direktors stand, der in einer beleuchteten Vitrine vor seinem Rektorenzimmer voller Stolz die errungenen Pokale zur Schau stellte. Und da ich einen ausgeprägten Überlebenswillen besaß und nach dem Debakel meines Bochumer Mitschülers eine Prügelgassenallergie entwickelt hatte, meldete ich mich umgehend bei der »Fußball AG« an.
Keine schlechte Idee, sich nach einem Protektor umzuschauen. Das bestätigte sich nur wenig später, als eines Morgens ein »Großer« – nennen wir ihn mal Bernd – in unserem Zimmer stand und mir ohne Vorwarnung rechts und links eine Backpfeife gab. Nach dieser herzlich humanen Begrüßung klärte mich Bernd über die edlen Beweggründe seiner Tat auf: »Moin, ich bin Bernd. Du bist ab heute mein Diener. Dafür passe ich ab jetzt auf dich auf.« Halleluja! Bernd, der Retter war mir erschienen! Wie schön! Und wie praktisch, dass er mich gleich schlug! Was für eine gute Idee, dann brauche ich mir morgens nicht mehr selbst eine zu scheuern!
Von da an holte ich morgens für Bernd Kuchen vom Bäcker. Oft auch von meinen eigenen 2 Mark Taschengeld, die wir pro Woche...