Paradox, aber wahr: Es war der evolutionäre Fortschritt, der uns auf seinem Weg den Schmerz bescherte. Wenn man so will: Mit dem aufrechten Gang fing alles an. Rückenschmerzen sind der Preis für die Fähigkeit des Menschen, sich auf zwei Beinen zu bewegen und die Last seines Körpers zu tragen – oder: tragen zu müssen. Im Kindesalter noch weich und flexibel, wird das Rückgrat mit zunehmenden Jahren hart und unelastisch, weil wir uns in den meisten Fällen nicht mehr genügend bewegen. Die Muskeln, die das Rückgrat stützen, verkümmern langsam. Die Bandscheiben trocknen aus und schrumpfen. Die Faszien, die die Muskeln zusammenhalten, werden unflexibler und starr, die Knorpel der Gelenke trocknen aus oder verkalken. Doch wenn wir den Rücken und seine Strukturen begreifen, haben wir die Chance, uns gesundheitsbewusst zu verhalten, um lange elastisch und beweglich zu bleiben!
Unsere Kräfte und Fähigkeiten verkümmern im Laufe der Jahre nicht von allein, sondern weil wir Aktivitäten aufgeben, in Verkrampfungen verharren und viel zu oft keine gesunde Balance zwischen Anspannung und Entspannung finden. Der Rücken spiegelt unsere Seele.
AM ANFANG: VERSUCH UND IRRTUM
„Ein jeder bewegt sich, empfindet, denkt, spricht auf die ganz ihm eigene Weise, dem Bild entsprechend, das er sich im Laufe seines Lebens von sich gebildet hat. Um die Art und Weise seines Tuns zu ändern, muss er das Bild von sich ändern, das er in sich trägt.“ Dies schrieb der Physiker Moshé Feldenkrais (1904–1984), der Begründer der nach ihm benannten Lernmethode. Feldenkrais stellte faszinierend wie kaum ein anderer dar, wie wichtig das Skelett und die Bewegungen des Körpers auch für die Seele sind.
Babys und Kleinkinder, so Feldenkrais, probieren ihren Körper noch aus. Durch Versuch und Irrtum lernen sie die Bewegungsabläufe. Erst mit zunehmendem Alter, oft auch durch soziale Zwänge, wird die gesamte Vielfalt an Bewegungen, die uns zur Verfügung steht, eingeschränkt. Im Laufe des Erwachsenwerdens gehen frühere Bewegungsmöglichkeiten wie etwa Hüpfen, Springen oder Klettern verloren. Und im Alter von 70 oder 80 Jahren sind viele Menschen sogar froh, wenn sie noch ohne Probleme aufstehen und laufen, Treppen steigen, sich hinsetzen und hinlegen können. Die ursprüngliche Vielfalt unseres Bewegungsrepertoires ist aus ihrem Leben verschwunden. Die Therapie, die Feldenkrais entwickelte, will automatisierte Bewegungsmuster auch in späteren Lebensjahren noch verändern – und Schmerzen dabei verschwinden lassen. Nicht umsonst bezeichnete Feldenkrais seine Methode als eine „Entdeckungsreise durch den Körper“. Er lässt die Behandelten auf spielerische Weise neue Bewegungen erlernen und macht sie zugleich auf Fehlhaltungen und Muskelverspannungen aufmerksam, die aus falschen Bewegungsabläufen resultieren. Dieser Prozess beginnt im Kopf, denn dort werden diese Abläufe programmiert und gespeichert.
DIE ACHSE DES GLEICHGEWICHTS
Millionen von Jahren vergingen, bis die Evolution die Voraussetzungen für den aufrechten Gang geschaffen hatte: Zum Beispiel wurden die Gelenke zwischen Kopf und Nacken so geformt, dass sie alle für das Gleichgewicht notwendigen Bewegungen, das Schauen, Riechen, Fühlen und Hören, zusammen mit allen anderen Bewegungen der Wirbelsäule koordinieren können. Betrachtet man den Schädel von oben, zeigt sich, dass Augen, Ohren und auch die Gleichgewichtsorgane im Inneren des Gehörgangs auf einer Achse liegen. Diese kreuzt sich vertikal mit der Sehachse, die genau zwischen den Augen verläuft. Genau unterhalb dieses Kreuzungspunkts liegt der Axis-Wirbel mit einer Art Zahn, um den sich unser Kopf dreht. Wie mit einem Kompass wird an dieser Schaltstelle das Gleichgewicht der Wirbelsäule reguliert. Jede einzelne Drehung ermöglicht so eine perfekte Kombination von Schauen, Hören und Bewegung.
Beste Grüße ans Gehirn
Der aufrechte Gang ist aber nicht nur eine mechanische Leistung des Skeletts, sondern auch ein Meisterstück des Gehirns und der Nerven: Ohne das ununterbrochene Rechnen und das ständige Feedback von Sinnesorganen und Körperreaktionen würden wir die Balance verlieren und umfallen. Das Gehirn wird also bei jeder Bewegung gefordert. Schon bald reichte unseren frühen Vorfahren die Energie von Blättern und Früchten nicht mehr aus, sie jagten nun Tiere. Erst die Fettsäuren aus Fleisch und Fisch waren es, die zu einer Umbildung des Gehirns führten und den Menschen zu dem machten, was wir heute den Homo sapiens sapiens nennen – ein wissender, reflektierender Mensch. Der Preis für diesen evolutionären Schub aber waren auch: Rückenschmerzen. Denn dort, wo sich der Affe aufrichtete, unmittelbar über dem Kreuzbein, biegt sich unsere Wirbelsäule nun vertikal ab – statt wie bei den Vierbeinern in der Horizontale zu bleiben. Dieser „Karriereknick der Menschheit“ wiegt in mehrfacher Hinsicht schwer: 100 Kilogramm lasten auf der Wirbelsäule im Übergang zum Becken, wenn wir stehen, 90 im Sitzen, 220 sogar, wenn wir uns bücken. Die Last drückt vor allem auf die Bandscheiben, jene gallertartigen Puffer zwischen unseren Wirbelknochen, die dafür nicht gerade konstruiert zu sein scheinen. Sie haben einen sehr mäßigen Stoffwechsel, der nur durch Bewegung aktiviert wird, und sind schnell abgenutzt.
GUT ZU WISSEN
Kostenfaktor Rückenschmerzen
An jedem Arbeitstag fehlen fast 70 000 Beschäftigte in Deutschlands Betrieben, so listet es die Techniker Krankenkasse in ihrem Gesundheitsreport 2017 auf. Bei den Hauptursachen von Krankschreibungen rangieren Rückenschmerzen demnach hinter Atemwegsinfektionen auf Platz zwei. Hochgerechnet auf die rund 31 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland, entfielen damit mehr als 25 Millionen Fehltage allein auf die Einzeldiagnose „Rückenschmerzen“.
Die Last auf den Schultern
Emotionen lassen uns oft erstarren. Um körperliche wie seelische Schmerzen zu vermeiden, ziehen wir Brustkorb und Bauch ein oder halten Kopf und Nacken gerade. Wir tragen, wie es auch sprichwörtlich heißt, eine „Last auf den Schultern“. Zunächst stellt sich bei dieser Haltung ein Gefühl größerer Sicherheit ein, aber man wird weniger flexibel. Kinder haben eigentlich einen natürlichen Bewegungsdrang, der aber geht ihnen zunehmend verloren. Schon in jungen Jahren sitzen oder „hängen“ sie viel vor einem Computer- oder Fernsehbildschirm. Wegen der damit verbundenen Konzentration der Augen und des Gehirns nimmt der Körper vor dem Bildschirm eine einseitige Haltung ein: Der Kopf ist wie bei einer Schildkröte nach vorn gestreckt. Schultern und Brustkorb bilden eine Art Block, der auch die Drehfähigkeit des Nackens einschränkt. Dessen wichtige Ausgleichsfunktionen werden deshalb lahmgelegt und das Gleichgewicht wird gestört. Nicht ohne Grund können viele Kinder heutzutage nicht mehr auf einem Bein hüpfen, geschweige denn, rückwärtslaufen.
Der Schutz, der keiner ist
Die Schaltzentrale im Kopf versucht, die Situation durch weitere Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit der Wirbelsäule zu entschärfen. Die Muskelketten des Rückens werden angeregt, mehr zu arbeiten. Der Atem wird flacher, Nacken-, Schulter- und Kreuzschmerzen stellen sich ein. Hochgezogene Schultern zum Beispiel, eine typische Abwehrhaltung bei Belastungen jeder Art, bremsen die Flexibilität des Brustkorbs. Auch die Arme lassen sich nicht mehr frei bewegen und die Drehbewegungen zwischen Hüfte und Schultern werden immer anstrengender. Oft führen auch Schutzhaltungen als Folge früherer Verletzungen dazu, dass die Beweglichkeit stark eingeschränkt ist und wirkliche Entspannung immer schwerer fällt. Das kann zu den unterschiedlichsten Symptomen führen, die nicht selten falsch diagnostiziert werden. Deshalb ist es wichtig, jeden Menschen und seine Geschichte als Ganzes zu betrachten.
Eine 72-jährige Patientin etwa, der ein arthrotischer Verschleiß ihrer Hüftgelenke attestiert wurde, leidet – wie sich herausstellte – in Wirklichkeit unter den Folgen einer jahrzehntelangen Fehlbelastung der Wirbelsäule. Die Muskeln, die an den Gelenken ziehen, üben Druck auf die Sehnen aus, bringen diese aus dem Gefüge und lassen sie schließlich verschleißen. Ihre leichte Schieflage und Verdrehung nimmt die Patientin selbst nicht mehr wahr, weil ihr Gleichgewichtssinn durch die Gewöhnung an diese einseitige Haltung bereits verzerrt ist. Sie leidet an einer „sensomotorischen Amnesie“, an einer Funktionsstörung des Nervensystems. Ihr körperliches Wohlbefinden gewinnen solche Patienten erst dann zurück, wenn sie wieder neu lernen, ihren Körper wahrzunehmen und ihre innere wie äußere Balance zu finden.
Viele körperliche Symptome, die dem Alter zugeschrieben werden, wie etwa ein Verschleiß der kleinen Wirbelgelenke, sind im Wesentlichen eine Folge falschen Lernverhaltens: Nicht unsere Kräfte und Fähigkeiten verkümmern, sondern wir geben im Laufe der Jahre immer mehr Aktivitäten auf. Vor allem vernachlässigen wir zunehmend den notwendigen Ausgleich zwischen Ent- und Anspannung: Wir verharren immer mehr in unserer individuellen „Verkrampfung“. Nicht nur die Überbeanspruchung, sondern das Nichtnutzen führt zum Verschleiß der Gelenke und zur Arthrose. Der Gedanke „Ich muss mich schonen, ich habe ja Schmerzen“ ist in den meisten Fällen falsch. Viel wirkungsvoller ist es, sich rechtzeitig um seinen Rücken zu kümmern.
AUF DIE HALTUNG KOMMT ES AN
Langfristige Schmerzen und Schäden können entstehen, wenn wir uns nicht genügend um unseren Rücken kümmern, um dieses Wunderwerk, das uns aufrichtet und Haltung gibt. Ja,...