Kapitel 1
Das Hotel Electra
Wenn Mike Adams ein Programm schrieb, legte er die Rückseite seines Laptops auf seine Oberschenkel und schaute nach unten auf den Bildschirm. Seine Finger hingen über dem Rand seiner Tastatur, als ob seine Handgelenke gebrochen wären. Er sah aus wie ein frohgemuter Astronaut, der im Weltall schreibt und auf wundersame Weise die Regeln der herkömmlichen Physik außer Kraft setzt. Seine Brillanz spiegelte diese Unabhängigkeit wider, und er bewältigte Herausforderungen immer wieder mit einer Leichtigkeit, mit der es nur eine Handvoll Techniker auf der Welt aufnehmen kann. Mit seinen 29 Jahren war er noch jung genug, um durch den ständigen Stress keine körperlichen Schäden davonzutragen, aber wenn man ihn in seinen komischen Verrenkungen auf verschiedenen Sofas und Sitzgelegenheiten arbeiten sah, fiel es schwer zu glauben, dass das so bleiben würde. Hinter seinen dicken Brillengläsern und dem struppigen Bart nistete ein eiserner Wille, Probleme zu lösen. Er arbeitete oft stundenlang und ignorierte dabei Hunger und andere körperliche Unannehmlichkeiten, bis er endlich mit den gewonnenen Erkenntnissen zufrieden war. Seine Leistungen waren umso beeindruckender, wenn man berücksichtigte, dass er nie ein Buch über Informatik gelesen hatte. Er war ein brillanter, kooperativer und manchmal unglaublich lustiger Autodidakt. Und das Beste daran war, dass er zu meinem Team gehörte.
Wir saßen hart arbeitend zu viert in der Lobby eines Hotels in Athen mit dem unheilverkündenden Namen Electra. Wie bei vielen anderen berühmten griechischen Charakteren ist die Geschichte Elektras eine wunderbare Mischung aus Rache und Muttermord. Laut Sophokles schmiedete sie gemeinsam mit ihrem Bruder den geheimen Plan, ihre Mutter und ihren Stiefvater umbringen zu lassen, um sich für den Mord an ihrem Vater zu rächen. Stellen Sie sich nur mal vor, wie spaßig ein Feiertagsessen bei ihnen zu Hause gewesen sein muss. Die Erzählung von Sophokles könnte Shakespeare zu seinem Hamlet inspiriert haben, aber das weiß keiner so genau. Ich musste jedenfalls jedes Mal, wenn bei der Arbeit in Athen wieder etwas danebenging, automatisch an Elektra und all die Dinge denken, die in Familien und Teams schief laufen können. Ich behielt das natürlich für mich: Chefs sollten nie Witze über Meuterei machen. Unser Team war bisher gut vorangekommen, und ich wollte nicht, dass uns irgendetwas in die Quere kam, egal ob mythologisch oder praktisch.
Wir wurden Team Social genannt und waren eines von vielen Programmierer-Teams, die an einer Website namens WordPress.com arbeiteten. Auf dieser einzigartigen Website existieren Millionen von bekannten Blogs und anderen Websites und auf der Rangliste der meistbesuchten Websites weltweit nimmt sie Platz 15 ein. Die Aufgabe meines Teams war einfach: Dinge zu erfinden, die das Bloggen und das Lesen von Blogs leichter machten. Wenn Sie uns bei der Arbeit in dieser Hotellobby beobachtet hätten, hätten Sie bei uns viele unorthodoxe und abenteuerliche Arbeitsmethoden entdeckt. Aber genau genommen stimmt das nicht. Es existieren zwar viele unorthodoxe Methoden, aber wenn Sie uns bei der Arbeit beobachtet hätten, hätten Sie diese vielleicht gar nicht bemerkt. Bei oberflächlicher Betrachtung hätten Sie wahrscheinlich angenommen, dass wir überhaupt nicht arbeiteten.
Wir saßen in einer kleinen Lounge gegenüber der Hotelbar, die in einem versteckten Winkel hinter der großen Lobby lag – als hätten die Barkeeper dem Architekten einen Sonderbonus angeboten, damit man die Bar nur schwer findet, und das war ihm gelungen. Wir hatten eine Reihe von tiefen roten Sesseln und Sofas in Beschlag genommen und daraus einen »Halbkreis der Web-Entwicklung« gebildet, ein wahres Bollwerk des Nerdismus. An den gelben Wänden hinter uns hingen in dicken Holzrahmen kleine Drucke mit Familienporträts aus der Renaissance. Sie waren von hell leuchtenden, goldfarbenen Wandlampen flankiert, die kläglich auseinanderkippten und ein Licht verbreiteten, das es uns schwierig machte, unsere Bildschirme gut zu erkennen. Die Glasplatte des Couchtischs zwischen uns war zu niedrig, denn sie war wohl eher für Kaffeetassen und Tüten voller Souvenirs gedacht und nicht als provisorischer Schreibtisch für ein Team von Technikern. Um uns mit Strom zu versorgen, zogen wir den Stecker einer der Stehlampen heraus, was – wie wir glaubten – den einzigen Barkeeper, einen stattlichen Russen mittleren Alters, zu der Weigerung veranlasste, uns zu bedienen; und das trotz unserer Begeisterung für die überteuerten, persönlich servierten und mit Schirmchen verzierten Cocktails.
Obwohl ich zehn Jahre älter bin als der Rest des Teams, sahen wir alle aus, als seien wir Mitte bis Ende 20. Für jeden Beobachter hätten wir einfach wie verwöhnte, junge Touristen ausgesehen, die lieber in diesem schrecklichen Hotel mit seiner Unbequemlichkeit und den geschmacklichen Verirrungen mit ihren Laptops und Geräten spielten, als die prächtigen Touristenattraktionen zu genießen, die Athen zu bieten hat. Wenn wir in der Lobby gestanden und mit Kettensägen Eisskulpturen geformt hätten, hätte diese Arbeit für Zuschauer ein Schauspiel geliefert. Vorbeigehende Hotelgäste wären stehen geblieben, hätten uns zugesehen und neugierig gefragt, was wir da machten und wie man das machte.
Aber unsere Arbeit war vollkommen unsichtbar, versteckt in den leuchtenden Bildschirmen unserer Laptops. Keiner konnte wissen, dass jeder von uns mit dem Klick auf einen Button seines Webbrowser Funktionen in Gang setzen konnte, die augenblicklich eine Auswirkung auf Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben. Für jemanden, der in unserer Nähe saß, sah es allerdings so aus, als würden wir Solitär spielen. Das erstaunliche an unserem digitalen Zeitalter ist die Tatsache, dass die Person, die bei Starbucks neben einem sitzt, vielleicht gerade eine Schweizer Bank hackt oder Marschflugkörper auf einem weit entfernten Kontinent abschießt. Vielleicht ist sie aber auch nur auf Facebook. Man kann den Unterschied nicht feststellen, es sei denn, man ist neugierig genug, um über ihre Schulter zu spähen.
Hinter unserer gewöhnlichen Erscheinung verbargen sich ungewöhnliche Tatsachen. Obwohl wir Arbeitskollegen waren, kam es selten vor, dass wir alle gemeinsam zusammensaßen. Die meiste Zeit arbeiteten wir nur online. Dieses Treffen in Athen war erst das zweite Mal, dass wir alle im selben Raum arbeiteten. Wir hatten uns schon einmal in Seaside, Florida getroffen, wo vor ein paar Wochen das jährliche Firmentreffen stattgefunden hatte. Um die anderen im Electra zu treffen, war ich von Seattle nach Athen geflogen. Mike Adams kam aus Los Angeles. Beau Lebens, der, darauf könnte ich wetten, nebenher als Geheimagent arbeitet, war in Australien geboren, lebte aber in San Francisco. Andy Peatling, ein hinreißend schlauer, englischer Programmierer, verbrachte seine Zeit in Kanada und Irland.
Die Vorstellung, nicht im Büro zu arbeiten, erscheint den meisten Menschen merkwürdig, bis sie sich bewusst machen, wie viel Arbeitszeit man an traditionellen Arbeitsplätzen am Computer verbringt. Wenn 50 Prozent Ihrer Interaktion mit Mitarbeitern online stattfindet, zum Beispiel durch E-Mails und übers Internet, dann sind Sie nicht weit von dem entfernt, was WordPress.com macht. Der Unterschied ist, dass die Arbeit bei WordPress.com hauptsächlich, oft sogar vollständig, online erledigt wird. Manche Leute arbeiten monatelang zusammen, ohne jemals auf demselben Kontinent zu sein. Die Teams dürfen sich ein paar Mal im Jahr irgendwo treffen, um die immateriellen Dinge aufzufrischen, die über die Technik nicht vermittelt werden können, was unseren Trip nach Athen erklärt. Wir hatten Griechenland ausgesucht, weil unser Boss das vorgeschlagen hatte, und wir stimmten schnell zu, bevor er seine Meinung ändern konnte. Den Rest des Jahres arbeiteten wir aber online an verschiedenen Orten, je nachdem, wo wir uns auf der Welt zufällig gerade befanden.
Weil der Ort keine Rolle spielt, kann Automattic, die Betreiberfirma von WordPress.com, die besten Talente weltweit einstellen, egal, wo sie sind. Diese räumliche Unabhängigkeit ist eine der grundsätzlichen Voraussetzungen für die Art und Weise, wie die im Jahr 2005 gegründete Firma organisiert ist und »gemanagt« wird. Ich habe gemanagt in Anführungszeichen gesetzt, weil – wie ich später erklären werde – wir nicht in dem Sinn gemanagt werden, wie das in der Wirtschaft üblich ist. Zu Beginn hatte die Firma keinerlei Hierarchie und alle Angestellten berichteten direkt an den Firmengründer Matt Mullenweg. 2010 kamen er und Toni Schneider, der CEO, zu dem Schluss, dass die Dinge selbst für sie zu chaotisch geworden waren, und sie fanden für sich einen besseren Weg: Sie teilten die Firma, die zu diesem Zeitpunkt 50 Angestellte hatte, in zehn Teams auf.
Jedes Team hatte einen Leiter, die erste hierarchische Ordnung in der Firmengeschichte. Die Führungsrolle war locker definiert und es blieb jedem Team überlassen, sie für sich selbst zu bestimmen. Matt und Toni fanden es gut, gleichzeitig mit verschiedenen Dingen zu...