KAPITEL 1
Clive
Tenby, Wales, 2002
Wir dachten, er könnte ihn besiegen, genau wie Clive immer alles bezwungen hatte. Vor Jahren war er auf der ganzen Welt umhergesegelt und hatte Jachten ausgeliefert. Er segelte Boote, mit denen niemand sonst zurechtkam. Er entkam auf hoher See Piraten und trotzte allen Stürmen. Er war immer fit gewesen und voller Leben und Lachen.
Clive hatte funkelnde blaue Augen in einem wissbegierigen und fröhlichen Gesicht. Ich lernte ihn 1982 kennen, als ich an einem Tiefpunkt angelangt war, verzweifelt bemüht, ein altes und baufälliges 17-Fuß-Segelboot flott zu machen, um damit allein über den Atlantik zu segeln. Obwohl er ein Geschäftsmann in Pembrokeshire war, konnte er sich vom Meer nie richtig fernhalten und er half bei Kelpie’s Werft in Pembroke Dock aus, wo er mein kleines Boot auftakelte. Clive war, so wie ich, schon einmal verheiratet gewesen und hatte zwei bereits erwachsene Kinder, Jayne und Nigel, die er über alles liebte. Ich stehe meinen Kindern aus erster Ehe, Eve und James, ebenfalls sehr nahe.
Nach meiner Überquerung des Atlantiks feierten wir eine schlichte Hochzeit und hatten fast zwanzig extrem glückliche Jahre miteinander. Wir gingen oft zum Meer hinunter und sahen uns den Sonnenaufgang an, der vom Hafen und North Beach in Tenby, wo wir lebten, eine goldene Bahn aus Licht übers Wasser malte.
»Ich glaube, der Himmel kommt nicht später«, meinte er oft. »Der Himmel ist genau hier und jetzt.«
All diese sorglosen Zeiten endeten jäh. Unsere Welt veränderte sich auf eine Art, die traurigerweise Millionen von Menschen kennen, die aber niederschmetternd neu für uns war. Wir wussten nichts über Krebs – nichts über den furchtbaren Verlust, Schmerz und Kummer. Wir wussten nur, dass er ganz leicht jeden treffen konnte.
Am 26. Juni 2000 ging Clive zu Dr. Griffiths, da er in letzter Zeit ein Unbehagen beim Wasserlassen verspürt hatte. Wir waren schockiert, am Boden zerstört, als die Untersuchungen ergaben, dass Clive Prostatakrebs hatte.
»Das ist nicht so schlimm«, versuchte uns Dr. Griffiths zu beruhigen. »Das ist oft eine der am leichtesten zu behandelnden Krebsarten. Man kann Prostatakrebs haben und neunzig werden – und dann von einem Bus überfahren werden.«
Weitere Untersuchungen ergaben, dass der Krebs bereits in Clives Knochen gestreut hatte. An jenem Abend betete ich um ein Wunder; ich hätte alles getan, um an seiner Stelle zu sein, aber Clive sagte nur: »Ich schaffe das schon.«
Im Laufe des nächsten Jahres ging das Leben fast wie gewohnt weiter. Clive sprach gut auf die Medikamente an und ich staunte über seinen starken Willen. Er begann, am Strand zu laufen, was er noch nie getan hatte – er war kein Läufer. Das Schwere dabei war, dass er lange Zeit nicht wollte, dass irgendjemand – außer mir und seinen Ärzten – von seiner Erkrankung erfuhr.
Eines Tages bemerkte ich, dass er eigentlich nicht mehr dazu in der Lage war, am Strand zu joggen, es aber zu verbergen versuchte. Er blieb stehen und legte den Arm um mich: »Weine nicht«, sagte er, »sonst muss ich mitmachen. Sei stark.«
Es ging ihm gut genug, um sich seinen Wunsch zu erfüllen, im Herbst noch einmal in Irland zelten zu gehen. Es war wunderschön. Die irische Seite meiner Familie sagte immer wieder, wie gut Clive aussehe, was mich mit Stolz erfüllte, aber auch innerlich zerriss, da ich nicht sagen konnte, was los war.
Ich erinnere mich an unser Zelt nahe den nebelverhangenen Dünen, Schilfgewächsen und Gräsern am frühen Morgen in der Nähe von Rosslare Harbour, bevor wir die Fähre zurück nach Hause nahmen. Wir hatten so viel Spaß. Die Zeit unterbrach gnädigerweise ihren grausamen Wettlauf und stand still, wenn auch nur für eine kleine Weile. Es war das Geschenk der Zeit, das alles für uns bedeutete. Dinge währen ewig, nicht in Jahren, sondern in den Augenblicken, in denen sie geschehen.
Clive war wie eh und je voller Träume und Ideen. Letztendlich erzählte er seiner Tochter und seinem Sohn und noch ein paar anderen Leuten von dem Krebs und wir lebten so weiter, wie er es wollte. Es war nicht so, dass er sich seinem Problem nicht stellen wollte; es ging nicht darum, letzte Träume zu verwirklichen. Clive und ich glaubten nicht an das Wort letzte. Träume gründen sich auf die Wirklichkeit und darauf, Schwierigkeiten ins Auge zu sehen. Wir gingen einfach immer weiter vorwärts, da es die einzig mögliche Richtung war.
Er schrieb ein Gedicht, »Ich will die Welt sehen«:
Ich will ein Segler sein, ich will über die Meere ziehen,
nah und fern,
ich will die Inseln sehen und die fernen, entlegenen Länder,
will der Musik der Trommel lauschen.
Ich will auf Kamelen reiten, und auch auf Elefanten,
und mich an Stränden in der Sonne aalen.
Ich will nach Indien reisen und den berühmten Tadsch sehen,
und dann den Everest und seine Gipfel besuchen …
Viel später, auf meinem Lauf um die Welt, wurde mir bewusst, dass es Clive war, der mir beigebracht hat, dass man sich nie beim Aufstieg eine Pause gönnt, sondern immer erst, wenn man über den Gipfel des Berges ist. Und dass die Berge zuerst in unseren Köpfen überwunden werden müssen.
Clive sehnte sich danach, nach Nepal zu fahren. Er war in Indien geboren und sein Vater war in der britischen Armee für die Gurkhas zuständig gewesen. Clive war nie wieder zurückgekehrt, da er nicht als Tourist dorthin fahren wollte. Vor seiner Erkrankung hatte er eine Einladung des Nepal Trust angenommen. Wir sollten dort trekken und dem Trust helfen, ein Krankenhaus in Humla zu bauen. Er sagte noch immer, er würde alles tun, um dorthin zu fahren. Und er wollte nach Kuba reisen, um einen Film über einen Lauf zu drehen.
Er schaffte es auch fast nach Kuba. Es ging ihm besser und er bestand darauf, dass ich vorausfliegen und dann, nach dem Lauf, zurückkommen und ihn holen sollte, um den Film in nur wenigen Tagen drehen zu können. Er nahm an, dass es ihm gut genug gehen würde, um für ein paar Tage zu verreisen.
Dazu sollte es nie kommen.
Auf einmal ging es ihm deutlich schlechter. Es war im Januar 2002, als wir zusammen im Bett lagen. Ich döste vor mich hin und Clive zog an der Decke – das war alles, was er tat, als sein Arm auf einmal laut knackte.
»Ich glaube, er ist gebrochen«, sagte er.
Der Rettungswagen kam. Im Krankenhaus sagte man uns, der Bruch oberhalb des Ellenbogens sei ein klassisches Anzeichen von Knochenkrebs, der außer Kontrolle geraten war und streute. Bis April kam Clive immer wieder ins Krankenhaus und ging tapfer zur Physiotherapie, um möglichst viel Kraft zurückzugewinnen. Er machte seine Übungen so wie von den Ärzten verschrieben, mit dem Arm in einer Schlinge. Ich sah das alles mit an. Ich begleitete ihn überallhin.
Die Physiotherapeuten wunderten sich, dass er Witze reißen konnte. Er sagte immer: »Oh, es ist ja nicht so, dass ich nichts zu verlieren habe. Ich verliere meine Zähne, ich verliere meine Haare, ich verliere meine Augen …«
Am 10. April, seinem Geburtstag, aß er seinen Kuchen oder zumindest ein klein wenig davon. Ich schenkte ihm eine kleine Taschenlampe. Er gab sie mir wieder mit den Worten: »Bitte behalt sie für mich.«
Bald nach seinem Geburtstag kam er ins Krankenhaus, wo er bis kurz vor dem Ende blieb.
Peter Hutchinson von PHD Designs, die die beste Leichtgewicht-Daunenkleidung der Welt herstellen, schickte Clive eine Daunenweste, die nur 250 Gramm wog, für seine zerbrechlichen Knochen, die ihm so viel Behaglichkeit bereitete.
Nach dem Arm brach er sich die Hüfte. Als man eben hoffte, er würde bald wieder laufen können, führten die Tumore in seiner Wirbelsäule dazu, dass seine Beine gelähmt wurden.
Er ertrug das alles und versuchte immer noch, Späße zu machen. Als sein Freund Chester ihn besuchte und fragte, ob Clive irgendetwas bräuchte, erwiderte er: »Ja, ich brauche einen schnellen Wagen.«
Station 10, die Palliativ- und Krebsstation in unserem örtlichen Withybush Hospital in Haverfordwest, ist ein Ort, den ich nie vergessen werde, mit unendlicher Empathie und Fürsorge, von einer Leichtigkeit und Freundlichkeit, die sich nicht in Worte fassen lässt. Anne Barnes, eine begabte und begnadete Krebsspezialistin, trug zum Beispiel keinen Arztkittel, sondern bunte Kleidung, um ihre Patienten aufzumuntern.
Die fürsorglichsten Krankenschwestern, die ich je kennengelernt habe, ließen mich über lange Monate hinweg in meinem Schlafsack oder sogar auf Clives Bettkante schlafen, wo ich ihn einfach nur hielt. Eines Nachts wachte ich auf und bemerkte, dass Clive mich ansah. Er lächelte und sagte: »Du hast so schön geschlafen.« In seinen Augen lag ein Blick von Stolz und Liebe, den ich nicht beschreiben kann. Die Schwestern brachten mir geduldig bei, Clive zum Beispiel beim Waschen zu helfen. Es war mir ein Privileg, das zu tun: Ich hätte alles für ihn getan.
Der Grundsatz des Krankenhauses war, es den Patienten zu ermöglichen, für die letzten Tage nach Hause zu gehen, wenn sie es wünschten. Ich werde nie vergessen, wie rührend sie sich darum kümmerten. Sie ließen uns sogar ein spezielles Krankenhausbett nach Hause bringen und stellten uns eine Rund-um-die-Uhr-Pflege zur Verfügung.
Clive freute sich so, endlich das Geißblatt zu sehen, das er gepflanzt hatte, und er lächelte beim Anblick der Spatzen, die er immer seine »gefiederten Hooligans« nannte und die sich an den Meisenkugeln vor dem Schlafzimmerfenster gütlich taten. Tatsächlich hatte...