ERSTER TEIL: MEIN LEBEN IN FINNLAND
Ich wurde am 27. August 1928 in Hangö in Finnland geboren. Mein Vater, im Jahr 1900 in Sankt Petersburg geboren, stammte aus der böhmischen gräflichen Familie Waldstein, und zwar aus der Arnauer Linie. Er war Pianist. Er hatte bereits 1912, also mit zwölf Jahren, in Sankt Petersburg sein erstes öffentliches Klavierkonzert gegeben, und zwar nach seiner Schilderung mit großem Erfolg, obwohl er sonst sehr zurückhaltend war mit der Betonung eigener Erfolge. Bei meinem ersten Besuch in Sankt Petersburg im November 1992 hat meine dortige rechtshistorische Kollegin, Genévra Igorevna Loukóvskaya, sogar noch von dem Konzert Kenntnis gehabt und gewusst, dass mein Vater ein bekannter Pianist war. Als sie mir das erzählte, kamen mir die Tränen. Ich hatte selbst noch in Finnland Gelegenheit, einen solch tosenden Applaus bei einem Konzert zu erleben, dass ich als Kind Angst bekam und zur Garderobenfrau vor dem Saal flüchtete, um sie zu fragen, warum die Leute so klatschten. Das muss in der Viborger Zeit gewesen sein, als ich etwa vier Jahre alt war.
Erwähnen möchte ich noch, dass ich erst 1992 sehen konnte, in welch herrlicher Umgebung mein Vater als Kind aufgewachsen war. Sein eigener Vater hatte als kaiserlicher Beamter eine Dienstwohnung an einem der schönsten Plätze in Sankt Petersburg. Sie befand sich in einem Gebäude, das damals zum anschließenden Grand Hotel Europe gehörte. Daher wusste man im Hotel, in dem auch wir 1992 in Sankt Petersburg wohnten, welche Wohnung mein Großvater gehabt hatte. Meine Frau und ich hatten damals nichtsahnend dieses Hotel als Quartier für unseren Aufenthalt in Sankt Petersburg gewählt, weil sich in diesem Hotel ein Büro von American Express befand. Wegen der damals noch irgendwie labilen Situation dachten wir, von dort aus im Notfall leichter eine Verbindung nach draußen bekommen zu können.
Der riesige Platz vor diesem Gebäude ist fast ein Park, mit schönen Bäumen. Die Nordseite des Platzes ist vom großartigen Mikhailovsky-Palast beherrscht, der jetzt das Russische Museum in Sankt Petersburg beherbergt. Die Wohnung befand sich auf der Westseite des Platzes. Auf der Westseite des Blocks ist eine der Hauptstraßen von Sankt Petersburg, der Newski Prospekt. Auf dieser Seite des Blocks befindet sich eine der beiden katholischen Kirchen von Sankt Petersburg. Bei unserem Besuch im Jahr 1992 war dort jedoch nur noch die Fassade vorhanden. Das Innere der Kirche hatten die Kommunisten zerstört, sie war ausgebrannt. So hatte die Familie meines Großvaters mit drei Kindern – mein Vater hatte eine Schwester und einen Bruder – die katholische Kirche im gleichen Block. Obwohl mein Großvater kaiserlicher Beamter war, konnte er den katholischen Glauben beibehalten.
Meine Mutter stammte aus einer finnländischen Familie Grönlund. Die Angehörigen der schwedischen Bevölkerung Südfinnlands werden als Finnländer bezeichnet. Sie wurde im Jahr 1896 in Viborg geboren und war in erster Ehe mit Fürst Nikolai Paschkoff verheiratet. Als Offizier durfte er seine Frau im Ersten Weltkrieg an die Front mitnehmen, wo meine Mutter mit ihm das Offizierszelt teilte und, tapfer wie sie war, auch bei Kanonendonner dort ausharrte. Als zaristischer Offizier ist ihr Mann im Jahr 1918 auf der Krim von den Bolschewiken erschossen worden. Eine Tochter aus dieser Ehe starb mit zwölf Jahren an Pocken, wahrscheinlich im Jahr 1925. Nach den Erzählungen meiner Eltern hat mein Vater meine Mutter anlässlich eines Konzertes im Sanatorium in Kirvu (in Karelien) kennengelernt, wahrscheinlich im Jahr 1926, vielleicht auch früher. Weil meine Mutter damals protestantisch war, musste für die Eheschließung mit meinem Vater Dispens eingeholt werden. Finnland hatte damals, wenn ich mich recht erinnere, noch keine eigene Diözesanverwaltung, keinen Bischof. Es existierte lediglich eine kleine niederländische Mission, mit deren Leiter, Msgr. Wilhelm Cobben, mein Vater einen guten Kontakt hatte. Msgr. Cobben wurde später der erste Missionsbischof in Finnland. Die Sache mit der Dispens war damals offensichtlich schwierig und langwierig. Daher dürften meine Eltern auf Rat von Msgr. Cobben nach Can. 1098 CIC (1917) vor dem orthodoxen Popen die Ehe geschlossen haben. Die Eheschließung in der kanonischen Form konnte erst am 27. Juli 1929 in Hangö vor dem Priester Msgr. Wilhelm Cobben erfolgen.
Nach Berichten der Eltern sind wir von Hangö bald weggezogen und danach mehrmals übersiedelt, zunächst auf eine Insel, dann nach Åbo (Turku) und wohl noch in andere Orte. Nach Aussage meiner Mutter sind wir seit meiner Geburt bis zu unserer Abreise aus Finnland Anfang Dezember 1939 insgesamt siebzehnmal übersiedelt. An immerhin neun dieser verschiedenen Wohnorte oder Wohnungen innerhalb eines Ortes kann ich mich selbst mit jeweils zunehmender Deutlichkeit noch klar erinnern. Am klarsten sind die Erinnerungen natürlich an die letzten Wohnorte in Finnland. Eigene Erinnerungen an Hangö oder Åbo habe ich keine. Meine Mutter hat mir jedoch erzählt, dass ich, als ich wohl kaum zwei Jahre alt war, im Garten des Hauses spielte, in dem wir damals wohnten. Meine Mutter hat immer wieder aus dem Fenster nachgesehen, ob mit mir alles in Ordnung war. Offenbar war ich damals immerhin von meinem Vater zum Fischen mitgenommen worden. Ich muss dann im Garten eine Stange gefunden haben, die wie eine Angel aussah. Dann habe ich wohl gedacht, dem Beispiel meines Vaters folgen zu können, der mit einer solchen Stange Fische gefangen hatte. Als meine Mutter wieder einmal aus dem Fenster blickte, sie war dabei, einen Brotteig zu machen, sah sie mich nicht mehr. Dafür sah sie das Gartentor offen stehen. Mit großem Schreck und den Händen voller Teig rannte sie zum Gartentor. Dort traf sie gerade den Briefträger, der vom Bootslandesteg herkam. Meine Mutter fragte ihn, ob er vielleicht einen kleinen Buben gesehen habe. Er sagte ja, er habe einen gesehen, der eine lange Stange über der Schulter trug und offenbar auf dem Weg zum Meer sei. Meine Mutter rannte mir nach und fand mich am äußersten Ende des Landestegs stehend. Ich hielt dabei die Spitze der Stange in das Wasser. Um mich nicht zu erschrecken und damit möglicherweise meinen Sturz in das Wasser zu verursachen, schlich sich meine Mutter leise an mich heran und packte mich dann mit beiden Händen.
Wir müssen dann bald danach nach Viborg übersiedelt sein, denn als meine Schwester Gunda am 5. Oktober 1930 geboren wurde, war ich gerade knapp über zwei Jahre alt. An folgende Wohnorte kann ich mich selbst erinnern, wobei die beiden letzten nicht zu den siebzehn eigentlichen Wohnorten gehören, sondern Aufenthaltsorte auf unserer Reise waren, als wir Finnland verließen.
Ich möchte hier zunächst einen kurzen Überblick über die Wohnorte geben, an die ich Erinnerungen habe. Dazu möchte ich auch die mit diesen Wohnorten verbundenen besonderen Ereignisse erwähnen.
1. Viborg, am Stadtrand, Geburt meiner Schwester Gunda (Adelgunde) am 5. Oktober 1930. Schuss mit Gaspistole.
2. Viborg, andere Wohnung, Geburt meiner Schwester Mia (Rainelde Maria) am 31. August 1932, Beobachtung eines Einbruches in einem gegenüberliegenden Haus. Ich war inzwischen vier Jahre alt geworden.
3. Bei Viborg, auf dem Land, Häuschen auf einem Felsen, in den der Blitz einschlug, große Birke zersplittert. Kinderwagen mit Mia auf abschüssigem Weg zum Bach ausgelassen. Versuch, am Bach eine Kreuzotter zu fangen.
4. Perkijärvi, Haus im Wald am See.
5. Terijoki, Tschetweruchin-huvila, nahe am Meer.
6. Terijoki, Haus auf einem Hügel, Beobachtung eines großen Nordlichts in klarer Winternacht, eisiger Weg zur Schule, Straße über Hügel mit dickem Eis überzogen, sah aus wie ein gefrorener Wasserfall. Das dürfte 1935 gewesen sein, als ich sechs Jahre alt war.
7. Esboo bei Helsingfors, wohl 1936/37.
8. Aalberga bei Helsingfors, wohl 1937/38. Von diesen beiden Orten aus begann ich mit dem Besuch der Deutschen Schule in Helsingfors, von Esboo aus mit dem Zug, von Aalberga aus mit Autobus.
9. Keksholm/Käkisalmi, 1938/39. Während die Familie dort wohnte, musste ich während der Schulzeit in einem Internat in Helsingfors (finn. Helsinki) wohnen, um die Deutsche Schule weiterhin besuchen zu können. Im September 1939 war dort ein riesiges Nordlicht zu sehen, das die Nacht taghell erleuchtete. Bald danach zog die ganze Familie wegen Kriegsgefahr nach Helsingfors.
10. Dort wohnten wir einige Zeit in einem Hotel,
11. danach im Haus Stella Maris am Meer, von dort gingen wir nach Hungertagen zu Fuß zurück nach Helsingfors. Im Stella Maris die ersten Bombenangriffe auf Helsingfors erlebt, von dort mit Übernachtung im Kloster der niederländischen Schwestern, in deren Konvikt ich früher gewohnt hatte und das im Stadtteil Eira nahe beim Abreisehafen lag, Anfang Dezember 1939 zum Schiff.
I. Was mein Vater über die Geschichte der Familie berichtete
Mein Bewusstsein in der Kindheit war stark durch die Tatsache geprägt, dass mein Vater sich als Österreicher fühlte und ich selbst deshalb auf die Frage, welcher Nationalität wir...