2. Kapitel
Was ist echte christliche Spiritualität?
Kriterien zur Unterscheidung nach Hans Urs von Balthasar
Viel „Spiritualität“ und wenig Christentum
In den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als kirchliche Architekten eine Betonkirche nach der anderen in stolzer Tristesse aus dem Boden stampften, waren Begriffe wie „Mystik“, „Ritual“ und „Kult“ regelrecht geächtet. Mittlerweile hat sich alles gewandelt: Ritual ist „in“, Kult ist angesagt, Mystik ist zum Werbeslogan für relaxte Wellness geworden. Zu den „In-Begriffen“ des beginnenden 21. Jahrhunderts zählt sicher auch der Begriff der Spiritualität.
Die Frage nach den Kriterien authentischer christlicher Spiritualität war Balthasar immer ein Anliegen; sie ist heute drängender denn je. Denn mit atemberaubender Geschwindigkeit ist mittlerweile die „Moderne“ in die „Postmoderne“ übergegangen, der kritische Rationalismus ist in einen abergläubischen Irrationalismus umgekippt.
Das „Neue Zeitalter“ ist bei uns im europäischen Westen auch schon statistisch greifbar: So bezeichnen sich etwa in neueren Umfragen immer mehr Menschen als „religiös“, während negativ-reziprok dazu die kirchliche Praxis, zumindest in West- und Mitteleuropa, zurückgeht! Begriffe wie „Spiritualität“, „Geistigkeit“ oder „Mystik“ begegnen uns heute fast mehr im außerkirchlichen Bereich als im kirchlichen, in dem man sich allzu lange durch Strukturgefechte blockieren ließ. Bei uns in Österreich sind Esoterikmessen bereits eine Selbstverständlichkeit, der Markt für „religiöse“ Angebote sonderlichster Art boomt weiterhin; was da an „Spiritualität“ geboten wird, reicht von Schnellkursen in Astrologie bis zu östlichen Meditationsübungen und esoterischem Mentaltraining. Es ist bedauerlich, dass dafür ein weit professionelleres Marketing betrieben wird als für die christliche Frömmigkeit! Aber ist es nicht ohnehin egal, auf welche Weise man „Spiritualität“ praktiziert? Das genau ist die Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen dem, was außerchristlich an „Religiösem“, „Transzendentalem“, „Mystischem“ und „Spirituellem“ läuft, und dem, was das Christentum unter Spiritualität versteht?
Der berühmte deutsche Trendforscher Matthias Horx übertitelte das Religions-Kapitel seines Buches, in dem er die „Megatrends“ der Gegenwart analysierte, so: „Wie die Gläubigen aus den Kirchen ausziehen und wie sich unsere Gesellschaft langsam, aber sicher spiritualisiert“1. Er stellte also dem Zuwachs an „Spiritualität“ proportional den Verlust an Kirchlichkeit gegenüber. Welche „Spiritualisierung“ ist hier gemeint? Nach Horx ist den vielen Strömungen der neuen Spiritualität eines gemeinsam: sie sind vom östlichen Denken beeinflusst. Er spricht daher von einer „Veröstlichung des Westens“. Wenn etwas so populär ist wie die östliche Spiritualität, dann ist natürlich klar, dass es auch innerkirchlich Tendenzen geben muss, hier nachzuziehen. Seit den 70er-Jahren wird in vielen katholischen Bildungseinrichtungen alles Mögliche angeboten: Zen- und Yogakurse sowie transzendentale Meditationskurse sind auch offensichtlich mehr gefragt als Kurse über das betrachtende Gebet, die ignatianische Kontemplation oder die eucharistische Anbetung.
„Spirituell“ zu sein ist „in“ geworden. Es ist schon bei oberflächlichem Hinsehen leicht zu verstehen, warum der „postmoderne“ Mensch heute „Spiritualität“ mehr schätzt. Der technische und wissenschaftliche Fortschritt der letzten hundert Jahre hat zwar recht viel Angenehmes gebracht, aber doch nicht das Paradies der absoluten Sicherheit, des absoluten Friedens und der absoluten Heilsgeborgenheit. Im Gegenteil: Es gibt weiter Krieg und Krankheit, ja die Umweltzerstörung ist zu einem beunruhigenden Faktor geworden, und viele Probleme scheinen uns geradezu nicht bewältigbar. Da wendet man sich wieder den „höheren Mächten“ zu. Man wird wieder „religiös“, die Gesellschaft „respiritualisiert“ sich.
Was aber ist der Inhalt dieser neuen Spiritualisierung? Spiritualität ist modern oder besser gesagt „postmodern“. Aber Spiritualität ist nicht gleich Spiritualität. Eucharistische Anbetung ist doch offensichtlich etwas anderes als das mantrische Sich-Versenken des Zen-Buddhismus; Rosenkranzgebet ist doch offensichtlich nicht dasselbe wie die rhythmische Wiederholung der Mantren im Hinduismus. Ein Blick auf den „Jahrmarkt“ der Spiritualitäten zeigt, dass wir hier die „Unterscheidung der Geister“ brauchen. Sind alle „Spiritualitäten“ gleich gut? Gibt es spezifische Kriterien für die christliche Spiritualität?
Dieser Frage wollen wir mit Hilfe des großen Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar (1905-1988) nachgehen. Und zwar aus gutem Grund: Papst Benedikt XVI. betonte bei Balthasar ausdrücklich die überaus geglückte Synthese der gelebten Spiritualität und gelehrten Theologie.2 Kern-Anliegen der Theologie Balthasars sei es, „dass sich die Theologie nur durch das Gebet entfalten kann.“ Spiritualität verringere nie das wissenschaftliche Gewicht der Theologie, „sondern sie gibt dem theologischen Studium die richtigen Methoden, damit dieses zu wahrhaft gültiger Einsicht in das Mysterium Gottes gelangen kann.“ Balthasars Theologie ist nicht ein kluges Begriffssystem „neben“ der Spiritualität, sondern sie kommt aus dem Gebet und führt zum Gebet. Daher kann man getrost die Prognose stellen, dass kein Theologe das 21. Jahrhundert mehr beeinflussen wird als Hans Urs von Balthasar. Tastsächlich stürzt sich derzeit eine neue Generation von Theologiestudenten, Diplomanden und Doktoranden wie ausgehungert auf das immense Werk3 (drei Meter Buch!) des Schweizer Theologen, der 1988 von Johannes Paul II. – vermutlich auf Betreiben seines Freundes Joseph Kardinal Ratzinger – zum Kardinal erhoben worden war, jedoch zwei Tage vor dem Konsistorium 83-jährig verstarb.
Das gegenwärtige Interesse an Balthasar unter den westlichen Theologiestudenten4 rührt vermutlich genau daher, dass in dieser Theologieform beides in eins ist: hohe intellektuelle Theologie und zugleich eine Offenheit hin auf Spiritualität. Balthasar war ja nie „nur“ Schreibtischtheologe, sondern er war immer zugleich auch Exerzitienleiter, „geistlicher Begleiter“ und – in umfassendstem Sinne – „Spiritual“. Daher soll gerade Balthasar zu Rate gezogen werden um festzustellen, was christliche Spiritualität und was keine ist, und welche Kriterien es gibt, um die Frömmigkeit des Christentums von anderer „Geistigkeit“ zu unterscheiden.
Vielleicht muss auch noch darauf hingewiesen werden, dass die Frage nach dem Wesen der christlichen Spiritualität die eigentliche Überlebensfrage für die Kirche im Westen darstellt: eine Frage auf Leben und Tod! Denn wenn die katholische Theologie liberal ausgedünnt ist, so ist das zwar tragisch; wenn aber das christliche Gebet verstummt ist, so ist das wahrhaft tödlich!
Und hier sind wir eben bei Hans Urs von Balthasar angelangt: Kein anderer Theologe hat sich dieser Frage mehr angenommen (sieht man von dem Buch Albert Cuttats ab5), als er. Balthasar ist mindestens im selben Maße Lehrer der christlichen Spiritualität wie er spekulativer Theologe ist, ja beides fließt ineinander. Er, der ignatianisch geprägte Jesuit, der geistliche Begleiter der stigmatisierten Mystikerin Adrienne von Speyr, der Gründer und geistliche Vater eines Säkular- institutes, der oftmalige Exerzitienleiter und der unermüdliche Übersetzer und Herausgeber der Werke geistlicher und mystischer Schriftsteller, hat es gerade in seinen letzten Lebensjahren für notwendig erachtet, den Großteil seiner Energie darauf zu verwenden, diesen Unterschied herauszuarbeiten. Um es vorweg zu sagen: Für Balthasar ist christliche Spiritualität fundamental verschieden von nichtchristlicher Spiritualität.
Das Wesen der christlichen Spiritualität ist für ihn ein engagiertes Hauptthema, wie seine zahllosen Publikationen es aufzeigen.6 Die substantiellsten Publikationen stammen aus den 80er-Jahren. Einige sind auf Drängen Joseph Ratzingers, dem späteren Benedikt XVI., entstanden.7 Unter der Federführung Ratzingers veröffentlichte die Glaubenskongregation 1989 ein Schreiben mit dem Titel: „Über einige Aspekte der christlichen Meditation“, das in geradezu augenfälliger Weise mit Balthasar übereinstimmt.8
Der „heilige Zorn“ Balthasars
Hans Urs von Balthasar dürfen wir mit Recht als einen der größten Theologen des 20. Jahrhunderts betrachten; mit Sicherheit war er, wie Henri de Lubac gesagt hat,...