Die erste Welt: Mein Leben am Ende des Deutschen Reiches und danach
1. Teil: Erinnerungen an meine Kindheit
Ich wurde im Oktober 1934 in Bautzen geboren. Das war ein und ein dreiviertel Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Diesen Begriff will ich im Folgenden bewusst vermeiden. Denn so nannten sich die deutschen Faschisten selbst, beschönigend und populistisch. Sie waren aber nicht national und erst recht nicht sozialistisch.
Meine Eltern waren eher bürgerlicher Herkunft. Sie lernten sich in der damals nach dem ersten Weltkrieg verbreiteten Wandervogelbewegung kennen. Diese war unpolitisch, pflegte aber viel Bewegung in freier Natur. Der Vater meiner Mutter war Kleinunternehmer. Er betrieb in seiner „Werkstatt“ Textilproduktion. Etwa 20 Frauen saßen an Maschinen, um Garn zu spulen und zu nähen. Der Vater meines Vaters war ein ausgedienter Offizier der kaiserlichen Armee, was Fotos von ihm bezeugen. Mehr weiß ich nicht von ihm. Meine Mutter arbeitete einige Jahre als Säuglingsschwester und bei der Kleinkindbetreuung. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie treusorgende Hausfrau und natürlich liebevolle Mutter für uns vier Kinder. Ich hatte noch zwei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder. Mein Vater lernte Buchhändler und leitete bald die Filiale eines großen Buchhändlers in Bautzen. So kamen meine Eltern in diese Stadt und erwarben bald auf Kredit ein Eckhaus in einer Reihenhaussiedlung. Soweit ich mich auf meine frühesten Erinnerungen an gesellschaftliche Zusammenhänge berufen kann, waren meine Eltern zunächst dem neuen diktatorischen System gegenüber recht aufgeschlossen. So hatten doch die Herrscher schon für die Kriegsvorbereitung für viele neue Arbeitsplätze gesorgt. Meine Mutter erzählte mir später über den ersten Schreck und das Gefühl der Abneigung, das sie durch eine Urkunde erhielt. Kurz nach meiner Geburt bekam sie eine goldgerahmte Urkunde mit vielen Glückwünschen für ihren ersten Sohn, den sie „für den Führer und das deutsche Volk“ geboren hatte. Das hat sie zu Recht empört. Sie wusste sehr wohl: Der Führer brauchte Soldaten und dazu sollte auch ich im entsprechenden Alter mit verheizt werden. Ich wuchs wohlbehütet auf und wurde wie üblich mit sechs Jahren eingeschult. Dort lief alles streng und straff diszipliniert. Wer zum Beispiel beim Stundenklingeln nicht am Platz stand, musste vortreten, den Arm ausstrecken und erhielt vor der Klasse ein paar harte Hiebe mit dem Rohrstock auf die Handfläche. Mit ungefähr acht Jahren besuchte ich regelmäßig die „Kinderschar“. In dieser Organisation sollten die Kinder auf die „Hitlerjugend“ vorbereitet werden. Neben einigen Gruppenspielen sollten auch wir die Wehrmacht unterstützen. Wir bastelten große Tüten. Diese sollten zu Hause im Badezimmer aufgehängt werden, um darin die ausgekämmten Haare zu sammeln. Mit den Menschenhaaren sollten dann Flugzeugsitze und irgendwelche Matten in den Lazaretten ausgepolstert werden. Das ganze Volk sollte der Wehrmacht helfen. Der faschistische Raubkrieg hatte begonnen. Polen und halb Frankreich waren schon besetzt, England wurde bombardiert. Wir Kinder bekamen davon nicht viel mit, außer den Siegesmeldungen und der Heldenverehrung durch Radio, Kino oder Zeitungen. Eines Tages im Sommer 1941 kam ich in unser Wohnzimmer. Da saßen einige Bekannte und Nachbarn mit sorgenvollen Gesichtern. Ich kann mich noch an einige Gesprächsfetzen erinnern: „Jetzt haben wir uns übernommen!“, „Das hätte ER nicht tun sollen!“, „Das geht nicht gut aus!“, „Denkt mal an Napoleon!“ Was war geschehen? Die Wehrmacht war in die große Sowjetunion eingefallen. Doch bald änderte sich die Stimmung wieder. Wie in vielen Familien wurde eine Karte vom westlichen Teil der Sowjetunion auf Pappe aufgezogen, aufgehängt und durch Stecknadeln mit farbigen Kuppen der aktuelle Frontverlauf markiert. Nach den Anfangserfolgen der Wehrmacht schien keine Gefahr mehr für Leben und Wohlbefinden der deutschen Bürger zu bestehen. Doch später blieben die bunten Stecknadeln stehen, erst vor Moskau, dann bei Stalingrad. Von nun an mussten sie langsam wieder zurückgenommen werden. Letztlich wurde die Karte wieder abgenommen. Kaum einer ahnte oder sprach davon, wie grausam die deutschen Faschisten bei ihrem Vernichtungskrieg besonders in der Sowjetunion vorgegangen waren. Als dann die Invasion der alliierten Armeen der USA und Großbritanniens in der Normandie erfolgreich war, wurde allen klar, dass der Krieg unausweichlich zu seinem Ausgangspunkt ins Deutsche Reich zurückkehren würde. Unvergessen bleibt das allgemeine Erschrecken, als wir in der Nacht des 13. Februar 1945 den Himmel aus Richtung Westen blutrot erleuchtet sahen. „Dresden brennt“, hieß es. Nicht viel später hörten wir ein immer näher kommendes dumpfes Grollen aus dem Osten. Es war der Geschützdonner der kämpfenden Armeen. Breslau war zur Festung erklärt worden. In den Mauern der Bautzener Kasernen wurden Schießscharten geschlagen und an den Einfallsstraßen Panzersperren gebaut. Meine Mutter sorgte sich um das Leben ihrer Kinder. Da erfuhr sie, dass ein bekannter Spediteur einen Lastwagen mit Fluchtgütern nach Plauen sandte. Mit diesem sollten meine drei Jahre ältere Schwester und ich mitfahren und einstweilen bei unserer Tante wohnen, bis der Krieg zu Ende sei. In bedrückender Erinnerung ist mir noch immer, wie uns der Fahrer in Dresden in stockdunkler Nacht mitten in der zertrümmerten Stadt vielleicht eine Stunde stehen ließ. Voller Angst starrten wir die schwarz verkohlten Ruinen zu beiden Seiten der Straße an. Am Morgen in Plauen angekommen, wurden wir nicht nur von unserer treusorgenden Tante und ihrem Mann empfangen, sondern sogleich von dem nervtötenden Sirenengeheul in auf- und abschwellenden Tönen: Fliegeralarm! Wir rannten in den Keller einer nahen Zuckerfabrik. Dieser sollte eine einigermaßen stabile Decke haben. Viele Menschen füllten bald den Keller. Kurz darauf krachte es laut hinter uns. Eine Bombe war im Aufzugsschacht explodiert, und schon zog schwarzer Rauch in den Keller. Die Fabrik brannte. Alle Flüchtlinge mussten schnell den Keller verlassen. Es wurde gedrängelt. Aber unverletzt kamen alle auf die Straße und versuchten, neue Schutzräume zu erreichen. Dabei mussten wir dicht an den Hauswänden entlang gehen, denn über uns dröhnten die Tiefflieger knapp über die Dächer hinweg. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob sie auch geschossen haben. Aber es genügte, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Fast den ganzen April 1945 wurde oft täglich mehrmals Fliegeralarm verkündet und wir mussten unter heulendem Sirenenlärm einen mutmaßlich sicheren Luftschutzkeller in der Nachbarschaft aufsuchen. Auch nach vielen Jahren spürte ich beim Klang einer Sirene einen schnelleren Herzschlag und bekam eine Gänsehaut als Zeichen, dass wir Kinder allein durch die Luftangriffe traumatisiert waren. Später durften wir bei Alarm in den Felsenkeller gehen. Das war eine in den Felsen gehauene Lagerhalle einer Brauerei. Doch dort standen keine Bierfässer, sondern massenweise Stapel frisch gedrehter Panzerräder. Die Rüstung zum unglaubhaften Endsieg war den Nazibonzen wichtiger als der Schutz der Bevölkerung. Immerhin hatten wir nun 30 Meter Fels über uns. Doch wir mussten zehn Minuten bis dahin gehen. Die Vorwarnzeit war aber oft kürzer. Unsere Tante fühlte sich voll verantwortlich für uns. So gelang es ihr, meine Schwester und mich in den letzten Apriltagen in Theuma, einem kleinen Dorf in der Nähe von Plauen, bei engen Verwandten von ihr unterzubringen. Wir nannten diese „Onkel“ und „Tante“ und sie waren nett zu uns, sodass wir sogar eine kleine Kammer mit einem Bett für uns bekamen. Dort hatten wir Ruhe vor den Fliegerangriffen. Zugleich begann eine grausame Hungerzeit. Es gab bei Kriegsende kaum noch etwas zu kaufen. Zum Glück hatten Onkel und Tante einen winzigen Garten und ein kleines Hühnergehege. Am Sonntag gab es einen Mürbekuchen, sächsisch „Bebe“, den wir uns zu viert teilten. Meistens stand dieser schon am Tag zuvor in unserer Schlafkammer und der Duft machte mich halb wahnsinnig. Doch ich hörte im Geist meine Mutter, die oft sagte: „Nicht eine Stecknadelkuppe darfst du nehmen von dem, was dir nicht gehört!“ Also das hieß: Nicht einmal ein Kuchenkrümel durfte ich stibitzen. Als der Donner des Geschützfeuers auch hier immer näher ertönte, gingen wir mit einem Teil des Dorfvolkes in den nahen Kirchturm. Dieser hatte fast drei Meter dicke Mauern. Aber auch hier fühlten wir uns nicht sicher. Einige faschistische Generale folgten noch immer dem Führerbefehl, jede Stadt und jedes Dorf „bis zum letzten Blutstropfen“ zu verteidigen. Die Leute waren wütend auf den Bürgermeister, der es noch immer nicht wagte, die weiße Fahne am Kirchturm heraushängen zu lassen. Es trieben sich auch noch Gruppen der berüchtigten Feldgendarmerie der Wehrmacht herum, die meist die Verantwortlichen, die das Dorf übergeben wollten, ohne Prozess erschossen. Am nächsten Morgen war für uns der Krieg vorbei. Wir lagen noch kaum ausgeschlafen im Bett, da traten zwei amerikanische Soldaten in voller Ausrüstung und Bewaffnung in unsere Kammer. Wir waren ängstlich, aber auch neugierig. Ich sah, wie sie in den Kleiderschrank und unter das Bett schauten. Sie suchten nach versprengten Wehrmachtssoldaten, die ihnen gefährlich werden konnten. Gleich nach Kriegsende konnten wir wieder nach Plauen zurückkehren. Aber wie sah das Haus aus? Durch den Luftdruck einer in der Nähe explodierten Sprengbombe war das Dach ausgehoben und in zwei Teile gespalten worden und in allen Mauern waren Risse und Löcher. Es kam sogar eine Baufirma mit Zimmermännern, die mit dem alten Material ein neues Dach bauten. Ich half jeden Tag krumme Nägel aus Balken und Brettern zu...