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Meine Familie ist arm

Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen

AutorKarl August Chassé, Konstanze Rasch, Margherita Zander
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783531919638
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Im Buch wird aus Schilderungen von Kindern deutlich, wie sie sich, ihre Familie, ihr Umfeld unter Armutsbedingungen sehen. Eine einzigartige Analyse der verheerenden, vielschichtigen Auswirkungen von Armut auf Kinder. Das Buch liefert die Ergebnisse einer qualitativen Studie, die die Lebenslage von Kindern im Grundschulalter aus der Perspektive der Kinder untersucht. Es handelt sich um eine der ersten Studien, die auf Eigenaussagen der Kinder basiert. Insgesamt zeigt sich, dass die Prozesse zunehmender Benachteiligung und des mehrdimensionalen Ausschlusses von Kindern eine theoretische, empirische und konzeptuelle Herausforderung für die Soziale Arbeit darstellen. Es wird vor allem das bislang unzureichende Instrumentarium der Kinder- und Jugendhilfe deutlich. Im Ergebnis diskutiert das Buch Vorschläge für eine konzeptionelle Umorientierung der Jugendhilfe, womit ein nachvollziehbarer Transfer der Ergebnisse in den Bereich der sozialpädagogischen, erzieherischen und bildungsrelevanten Berufe erfolgt. 

Prof. Dr. Karl August Chassé lehrt am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Jena.
Prof. Dr. Margherita Zander lehrt am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster.
Dr. Konstanze Rasch war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Jena.

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Leseprobe
1. Armut in der Bundesrepublik (S. 11)

1.1 Armut von Familien mit Kindern - Gesellschaftliche Dimension des Armutsproblems

Der im April 2001 von der Bundesregierung vorgelegte erste Nationale Armuts- und Reichtumsbericht hat nochmals deutlich gemacht, was in der Fachöffentlichkeit seit den 1990er Jahren diskutiert wird: Armut im reichen Deutschland hat sich wesentlich verändert. Den "klassischen" Armutsgruppen (Randgruppen, alte Menschen, Behinderte und chronisch Kranke) sind neue und zahlenmäßig größere Gruppen von neuen Armen zur Seite getreten .

Es sind Erwerbslose im "besten Lebensalter", Menschen mit unzureichendem Arbeitseinkommen, allein erziehende Frauen, kinderreiche Familien, MigrantInnen. Vor allem sind Kinder bzw. Familien mit Kindern zunehmend arm. Bereits vor dieser offiziellen Thematisierung von Armut wiesen zahlreiche Studien und Berichte auf die wachsende Armutsproblematik hin (z.B.: DöringlHaneschlHuster 1990, Leibfried/Voges 1992, HauserJHübinger 1993, Hanesch u.a. 1994, BiebacklMilz 1995, Hübinger 1996, Hübinger/Neumann 1997, ManselINeubauer 1998).

Mit dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wurde jedoch eine erste umfassende Bestandsaufnahme vorgelegt, die die öffentliche Debatte um Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland sowohl intensivierte wie fundierte . Detailliert werden die Aussagen des Berichtes der Bundesregierung durch die neueren Zahlen des Datenreports 2004.

Demnach lebte im Jahr 2002 mehr als ein Zehntel (11,1%) der bundesrepublikanischen Bevölkerung in Armut.` Auch dem 2. Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung von 2005 zufolge, der zurückhaltender berichtet, hat sich der Anteil der Haushalte mit Kindern unter der 60%-Armutsgrenze (Median) seit 1998 von 12,6 auf 13,9% im Jahr 2003 erhöht (BMAS 2005: 75). Insgesamt ein Drittel der BundesbürgerInnen (34%) lebte 2002 im Niedrigeinkommensbereich (75%-Schwelle) (GoebelJHabich/Krause 2004: 630).

Die Autoren des Datenreports konstatieren für 2002 gegenüber dem Vorjahr einen steigenden Bevölkerungsanteil im Niedrigeinkommensbereich. Sie verweisen aber auch darauf, dass innerhalb dieses Anteils eine Zunahme von Armutsbetroffenheit sowie Armutsintensität festzustellen ist (GoebellHabichf Krause 2004: 631).

Die höchsten Armutsquoten sind dabei bei Familien sowie insbesondere bei Ein-Eltern-Haushalten zu finden (ebenda: 634). Bezogen auf Kinder im Alter bis zu zehn Jahren fällt die Armutsbetroffenheit noch deutlich höher aus. Mehr als die Hälfte aller bundesdeutschen Kinder im Alter bis zu 10 Jahren lebte im Jahr 2002 in prekären Einkommensverhältnissen (75% Schwelle), insgesamt 17,6% dieser Kinder lebten in Deutschland unter der Armutsgrenze (50% Schwelle) (GoebellHabichfKrause 2004: 632).

Leben in Armut bedeutet hierbei nicht das Vorliegen existenzieller Notlagen im Sinne von absoluter oder primärer Armut, womit das Fehlen der Mittel zum physischen Überleb en gemeint ist. Leben in Armut - und dies betraf im Jahr 2002 immerhin ein Sechstel der bundesdeutschen Kinder im Alter bis zu 10 Jahren - heißt arm zu sein im Sinne von sozialer Ungleichheit und sozialem Ausschluss. Diese Kinder und ihre Familien leben in relativer Armut, d.h. gemessen an den "mittleren" Standards der bundesrepublikanischen Gesellschaft verfügen sie über zu geringe finanzielle Ressourcen (vgl. BMAS 2001: 8).

Man kann bei der Erfassung von Armut aber auch auf politisch-normative Vorgaben zurückgreifen. Demnach lebt in Armut "wer aus seinem eigenen Einkommen oder Vermögen nicht die zur Lebensführung erforderlichen Mittel schöpfen kann" (ebenda). Im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) garantiert in diesen Fällen die Hilfe zum Lebensunterh alt (HLU) die Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs (Bedarfsdeckungsprinzip). Haushalte und Personen, auf die dies zutrifft, erhalten also laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, deren Eckregelsatz das gesellschaftlich definierte Existenzminimum darstellt. Sozialhilfebezug ist somit definiert als staatlich "bekämpfte Armut".

Gleichwohl kann der Bezug von Sozialhilfe als Armutsindikator geiten, da die Inanspruchnahme deutlich macht, dass die entsprechenden Personen und Haushalte nicht oder nicht ausreichend in der Lage sind, ihren notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus Einkommen und Vermögen, zu sichern (vgl. hierzu Merten 200 1: 373f.).
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis5
Vorwort zur 3. Auflage8
1. Armut in der Bundesrepublik10
1.1 Armut von Familien mit Kindern - Gesellschaftliche Dimension des Armutsproblems10
1.2 Armutsdiskurse und Armutskonzepte16
1.2.1 Armutsmaße16
1.2.2 Armutsbegriffe17
1.2.3 Armutsfolgen22
1.3 Armut in den neuen Bundesländern25
2. Kinderarmut als Forschungsthema30
2.1 Kindheitsforschung heute30
2.2 Kinder und Kindheit im Modernisierungsdiskurs34
2.3 Kinderarmut als Forschungsgegenstand38
2.4 Armuts- und Kindheitsforschung - Einige theoretische Vorüberlegungen43
2.5 Verknüpfung von Elementen der modernen Kindheitsforschung mit Armutsaspekten47
2.5.1 Aktualitätsbezug - Kinder als Seiende48
2.5.2 Kinder als soziale Akteure48
2.5.3 Partizipation von Kindern als Anspruch und (Eigen-)Leistung49
2.5.4 Betonung der Autonomie der Kinder49
2.6 Kindliche Lebenslage - Übertragung eines Konzeptes51
2.6.1 Lebenslage als Lebensgesamtchance51
2.6.2 Lebenslage, Spielräume und Grundbedürfnisse der Kinder53
2.6.3 Übertragung des Spielräumekonzeptes auf Kinder58
2.7 Methodische Aspekte einer Fallstudie mit Kindern63
2.7.1 Methodologische Vorüberlegungen zu Kinderinterviews63
2.7.2 Methodische Konzeption der Fallstudie64
2.7.3 Elternperspektive als Vergleichsmoment69
3. Kinder in armen Familien71
3.1 Kleine Portraits der untersuchten Kinder71
3.1.1 Tina71
3.1.2 Theo73
3.1.3 Dorothee75
3.1.4 Rebecca77
3.1.5 Torsten79
3.1.6 Konstantin81
3.1.7 Sarah82
3.1.8 Anja84
3.1.9 Erik86
3.1.10 Anton88
3.1.11 Karsten90
3.1.12 Frank92
3.1.13 Steffi94
3.1.14 Dennis96
3.2 Die familiäre Situation98
3.3 Die elterliche und die kindliche Sicht auf die Situation104
4. Kinderleben in Armutslagen - Ergebnisse einer empirischen Studie111
4.1 Analyse der Lebenslagen aus der Perspektive der Kinder111
4.2 Materielle Einschränkungen114
4.2.1 Einschränkungen in den Versorgungsbereichen: Ernährung, Kleidung, Wohnen114
4.2.2 Sicht der Kinder aufdie familiäre Einkommenssituation und den Umgang mit Geld125
4.3 Auswirkungen auf die Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten133
4.3.1 Schule in der ambivalenten Wahrnehmung der Kinder133
4.3.2 Bildungsmäßige Förderung142
4.4 Soziale Kontakte und Netzwerke - Soziale Integration oder Ausschluss?154
4.4.1 Soziale Netzwerke der Eltern in ihrer Bedeutung für die Kinder154
4.4.2 Gleichaltrigenkontakte der Kinder in Schule und Nachbarschaft168
4.5 Zugang zu Kinderkultur, Erholung und Freizeit177
4.5.1 Wohnsituation, Familienalltag, Freizeitaktivitäten177
4.5.2 Familienklima, familiäre Belastungen, Eltern-Kind-beziehungen190
4.6 Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum der Kinder197
5. Lebenslagen und Bewältigungsstrategien- Theorie und Typologie211
5.1 Elterliche Lebenslagen: Benachteiligung und Bewältigungsformen211
5.1.1 Erwerbsstatus und Erwerbslosigkeit211
5.1.2 Armut und Sozialhilfebezug219
5.1.3 Schulden und weitere Belastungen223
5.1.4 Familienformen undfamiliale Biografie224
5.1.5 Veränderungen von Netzwerken in Armutslagen228
5.1.6 Eltern-Kind-Beziehung in belasteten Lebenslagen232
5.1.7 Bewältigungsformen der Eltern237
5.1.8 Bewältigungsanforderungen an die Kinder241
5.2 Kindliche Bewältigung unter armutsbelasteten244
5.2.1 Auswirkungen der elterlichen Armut aufdie Kinder-Unterschiede und Gemeinsamkeiten elterlicher und kindlicher Lebenslage247
5.2.2 Eltern-Kind-Beziehung als Einflussfaktor253
5.2.3 Elterliche und kindliche Strategien255
5.2.4 AufBewältigung zielende Strategien der Kinder257
5.3 Strukturen kindlicher Lebenslagen in Armut - Versuch einer Ordnung260
5.3.1 Typ 1: Elterliche Armut - Kindliche Kompensation266
5.3.2 Typ 3: Stark und mehrfach benachteiligte Kinder275
5.3.3 Typ 2 (Das Mittelfeld): kindliche Benachteiligungen inunterschiedlichen Kombinationen288
5.3.4 Strukturen kindlicher Benachteiligung299
5.4 Aspekte einer Theorie von Armut und Kinderarmut302
5.4.1 Neue Ungleichheiten und die Armut302
5.4.2 Ambivalenzen der Modernisierung von Kindheit309
5.4.3 Kindheitstheorie und Kinderarmut313
5.4.4. Auswirkungen von Kinderarmut318
6. Sozialpädagogische Konsequenzen321
6.1 AufgabensteIlung der Kinder- und Jugendhilfe im Hinblick auf Kinderarmut323
6.2 Unzureichendes Armutsverständnis der Sozialen Arbeit326
6.3 Armutsbewältigung in Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe331
6.4 Kinderarmut: Bildringsprozesse und Bildungsperspektiven335
1. Reform der Schule340
2. Ganztagsschulen und integrative Schulformen341
3. Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe341
4. Neufassung des Bildungsverständnisses in der Jugendhilfe342
Literaturverzeichnis343

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