Gegen die Schreckensherrschaft unseres Drachen in Gouvernantengestalt hatte sich allmählich eine kleine Partei gebildet. Wenn er gar zu arg wetterte, erschien unversehens Pepinka oder unser feines, braves Stubenmädchen Apollonia und machte dem Tanz ein Ende. Ja, wenn es hier »einen solchen Spektakel« gibt, muß der Papa gerufen werden, hieß es mit vielsagenden Blicken nach der Mademoiselle. Sogleich legte sich der Sturm, und wir merkten wohl, auf wen die Drohung gemünzt war. Auch Tante Helene fand sich oft ein, holte uns ab und nahm uns mit in ihr Zimmer.
Sie bewohnte dasselbe, in dem Maman Eugénie gestorben, und wir sprachen von jüngstvergangenen glücklichen Zeiten, in denen sie noch bei uns gewesen war. Aber auch längst vergangene und sehr traurige Zeiten ließ Tante Helene vor uns aufleben, ihre freudlose, sorgenvolle Jugend. Sie war in Armut aufgewachsen; sie hatte ihren Bräutigam und zwei Brüder in den Kriegen gegen Frankreich verloren. Über den dritten – unseren Vater – war sie lange in quälendem Zweifel geblieben, ob er tot oder gefangen sei. Viel Leiden hatte die Tante erfahren müssen, bis ihr endlich ein Glück erblühte. Ihrer Ehe mit einem ausgezeichneten, allverehrten, aber weit älteren Manne entsproß ein Söhnchen. Nun lernte sie das Beste und Höchste kennen, was das Leben dem Weibe zu bieten hat. Ihr Kind wurde ihre Freude, ihr Licht. Zu einem Loblied gestaltete sich ihre Rede, wenn sie von ihm sprach, und mit Spannung hörten wir zu; denn alles war interessant, und am interessantesten die Kindheit des Onkel Moritz.
So titulierten wir unseren Vetter, nicht wegen des Unterschiedes im Alter, sondern wegen des großen Ansehens, das er bei uns genoß. Seine Mutter verwahrte in ihrem Schreibtisch einen Schatz: alle Zeugnisse, die der »Onkel« sich verdient hatte, als kleiner Junge in der Privatschule Kudlig, später im Theresianum, wo er den Gymnasialunterricht erhielt, und endlich in der Ingenieurakademie, die er als Armeeleutnant verließ.
Eine lange Kette der Ehren.
Für uns war die Zeit, in der Onkel Moritz als kleiner Junge das Institut Kudlig besucht hatte, die interessanteste seines ganzen Lebens. Dieses unglaublich merkwürdige Institut befand sich nämlich auf dem Hohen Markt und dort auch – man denke! – das Polizeihaus. Meisterlich verstanden wir das Gespräch in seine unheimliche Nähe zu lenken, von wo immer es auch ausgegangen sein mochte. Und dann hob ein Fragen an, so dringend und so neugierig, als hätten wir von der Antwort, die kommen würde, keine Ahnung gehabt: »Was hat manchmal dort gestanden, dort, beim Polizeihaus? Vor dem Balkon und vor der großen Figur mit der Waage in der Hand?«
»Was dort gestanden hat? Nun, ihr wißt ja, der Pranger ist manchmal dort aufgerichtet worden.«
»Ja, ja, der Pranger. Wie der nur aussehen muß, so ein Pranger? Und wie das sein muß, wenn man oben ist, und alle Menschen schauen hinauf ... Und einmal, nicht wahr, hat der Onkel Moritz auch hinaufgeschaut?«
»Ja, einmal, weil die Magd, die ihn im Institut abholte, ihn nicht rasch vorbeigeführt hat, wie sie sollte, sondern ihm erlaubt hat stehenzubleiben.«
»Und da waren just zwei Frauen oben auf dem Pranger, eine alte und eine junge, und was haben die getan? Erzähl! erzähl!«
»Ihr wißt es ja ohnehin. Die alte hat geweint, und die junge hat geschimpft und die Leute angegrinst.«
»Auch den Onkel Moritz?«
»Auch ihn.«
»Ach, die muß grauslich gewesen sein! Und was hat er gesagt?«
»Was soll er gesagt haben? Nichts. Abends aber hat er nicht einschlafen können aus Angst, sie kommt und grinst ihn an.«
Der kleine Onkel Moritz von damals stand jetzt – 1840 – im siebenundzwanzigsten Jahre, war Oberleutnant im Geniekorps und kürzlich auf seine Bitte von Olmütz nach Wien transferiert worden, um an der Ingenieurakademie die Professur der Naturwissenschaften zu übernehmen.
Tante Helene lebte auf nach seiner Ankunft. Man kann sich ein innigeres, schöneres Verhältnis nicht denken als das zwischen dieser Mutter und diesem Sohne. Dafür mußte bei unserem Vater und seinem Neffen die gegenseitige Zuneigung und Wertschätzung ihre Kraft bewähren, um die Kontroversen, in die beide Männer oft gerieten, friedlich ausklingen zu lassen. Der ältere verteidigte seine Ansichten mit sprudelnder Lebhaftigkeit, der junge die seinen gelassen und nachdrücklich. Am Ende eines solchen Streites war es immer Papa, der die Hand zur Versöhnung bot. Er hatte ein starkes Emotionsbedürfnis und liebte Versöhnungen ebensosehr, wie er den Kampf liebte. Ihm, der als sechzehnjähriger Jüngling der Theresianischen Akademie und ihren Schulen Valet gesagt hatte, um sich dem Kriegsdienst zu widmen, war es nicht recht begreiflich, wie ein Soldat sich auf die Wege der »Gelahrten« begeben konnte. Der Gelahrten! Durch das Vertauschen des zweiten e in diesem Worte mit einem a glaubte er seine geringe Meinung von dem Stand, den es bezeichnet, an den Tag zu legen. Sie tragen einen Fluch an sich, diese Menschen; sie sind unpraktisch und finden jedes Stühlchen, auf dem sie beim Mahle des Lebens Platz nehmen möchten, immer schon besetzt. Papa hatte vor Jahren zu gleicher Zeit mit Hegel die Kur in Karlsbad gebraucht und von der äußeren Erscheinung des berühmten Philosophen einen befremdlichen Eindruck erhalten. Sie blieb für ihn das Urbild der Gestalt, in der die Leuchten der Wissenschaft auf Erden wandeln. Er versäumte nie, wenn er von seiner Begegnung mit Hegel sprach, dessen vermeintes Wort zu zitieren: »Ich habe nur einen Schüler gehabt, der mich verstanden hat, und auch der hat mich mißverstanden.« Ebenso brachte er gern ein Kommando in Erinnerung, das während Bonapartes ägyptischen Feldzuges vor jedem Zusammenstoß mit dem Feinde gegeben wurde. Da hieß es zur Sicherung der notwendigen wie der überflüssigen Begleiter des Hauptquartiers: »Les ânes et les savants au milieu!«
Diese Spötteleien ließen Onkel Moritz sehr kühl. »Ich fühle mich nicht betroffen«, sagte er; »ich bin kein ›savant‹. Ich komme mir vor wie ein Schwamm, sauge mich an in den Vorlesungen Ettinghausens und Schrötters und presse mich am nächsten Tage in meiner eigenen Vorlesung aus.«
An seinem freien Tage, am Sonntag, speiste er regelmäßig bei uns und erwies uns vor dem Diner manchmal die Ehre eines Besuches im schoolroom. Es befriedigte unsere Eitelkeit gar sehr, daß er Mademoiselle Henriette nicht mehr Beachtung schenkte, als die Höflichkeit gebot, und deutlich merken ließ, er sei nicht ihret-, sondern unsertwegen gekommen. Gewiß aber nicht, um uns Komplimente zu machen. Er belächelte unser seit Frau Krähmers Scheiden gänzlich in Verfall geratenes Klavierspiel und unser fortwährendes Französischparlieren. Eines Tages machte er sich darüber lustig in Gegenwart Mademoiselles. Sie nahm es übel – was ihr freilich nicht zu verargen war –, schleuderte ihm einige zornige »Mais Monsieur!« zu und stolzierte aus dem Zimmer. Uns schwebten die Folgen vor Augen, die aus der bedrohlich gewordenen Stimmung unserer Gouvernante erwachsen würden. Onkel Moritz fuhr fort, uns zu hänseln. Er bedauerte die arme deutsche Wissenschaft, weil wir so gar keine Notiz von ihr nahmen. Wohin man auch blickte, weit und breit war kein deutsches Lehr- oder Lesebuch zu erschauen. Und unsere Hefte, die auf dem Tische lagen, die er zur Hand nahm und durchblätterte! Sie trugen die Aufschriften: Grammaire; Calligraphie; Dictée; Dictée; Calligraphie; Grammaire. Die Abwechslung war gering. Nun aber, zu meinem Entsetzen, kam ihm ein Heftchen in die Hand, das ich, von Mademoiselle am Lehrtisch beim Dichten überrascht, in eines meiner großen Hefte geschoben und dort vergessen hatte. Er schlug es auf und las: Ode à Napoléon – mein letztes Gedicht. Etwas grandios Heroisches, das der Nachwelt, wenn es ihr erhalten geblieben wäre, erst den rechten Begriff vom Genie des Imperators gegeben hätte. Den Schluß bildete ein cri de haine an die Adresse des perfiden Albion, dem ich schmachvollen Untergang auf Erden, im Jenseits die ärgste Höllenpein verhieß.
»Von wem ist denn das?« fragte Onkel Moritz in einem Tone, bei dem mir heiß und kalt wurde und der so wegwerfend war, daß meine Schwester sich in meiner Ehre gekränkt fühlte. Die Getreue, der meine Dichterei doch so herzlich zuwider war, nahm sie einem andern gegenüber in Schutz und sagte mit allerliebster Würde, als ob von etwas Respektablem die Rede sei: »Es sind Gedichte von der Marie.«
Er lachte, las weiter und verzog während des Lesens keine Miene, und ich hatte die Empfindung, daß mich jemand würgte und daß mir dabei hunderttausend Ameisen über die Wangen liefen und über den ganzen Körper, mit kalten, hastigen Füßchen.
Nach einer Zeit, in der ich mir einbilden konnte, daß ein Begriff der Ewigkeit mir aufgegangen war, legte Onkel Moritz das Heftchen auf den Tisch zurück. Gleichgültig, wie wenn es ein Knäuel Zwirn oder irgendeine andere Geringfügigkeit gewesen wäre. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, und noch weniger, ihn zu fragen: Hat es dir denn gar nicht gefallen? Was wir gestern gelitten haben, ist nichts; was wir heute leiden, ist alles. Die Abfertigung, mit der Großmama mich vor einigen Jahren so unglücklich gemacht hatte, erschien mir bei weitem weniger grausam als das Schweigen des ersten Lesers meiner von Flammen der Begeisterung durchloderten Ode.
Im Laufe der Woche erhielt ich eine hübsche, mit einem Seidenband umwundene Rolle zugeschickt. Sie enthielt sehr gutes Zuckerwerk und einen Briefbogen. Auf den hatte der Onkel in seiner beneidenswert klaren, gleichmäßigen Schrift das Loblied auf den Rhein aus dem Waldfräulein von Zedlitz hingesetzt. Vom Anfang:
O Rhein, wie...