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Meine Schriften

Vollständige Ausgabe

AutorWalter Rathenau
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783849633554
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Walther Rathenau war ein deutscher Industrieller, Schriftsteller und liberaler Politiker (DDP). Er wurde als Reichsaußenminister Opfer eines politisch motivierten Attentats der Organisation Consul. Dieser Band umfasst folgende Schriften: An Deutschlands Jugend Die Organisation der Rohstoffversorgung Reden Aus Cannes Und Genua

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Leseprobe

Glaube


 

Keine freiwillige Handlung, keine kleinste Regung unseres Wollens geschieht, die nicht von den tiefsten, allem Denken entrückten Quellen unseres und des kosmischen Daseins getränkt wird. Der Geist kann nur zwischen Vergleichbarem entscheiden, der Wille aber muß zwischen dem Unvergleichbaren wählen, und nur eine innere Richtkraft kann ihn leiten. Aus der Reihe unserer Wahlen und Entschlüsse setzt sich unser Leben zusammen, wir nennen es Charakter und Schicksal und erklären es zum Überdruß aus Erblichkeit, Umwelt und Gesetz. In Wahrheit ist es das Hineinragen des Unergründlichen in unsere Welt, das Walten der Schöpferkraft, die sich in unserer Begrenztheit zum Farbenspiel der Willensregungen bricht.

 

Warum wollen und lieben wir dies? Warum nicht ein anderes? Warum erschrecken wir vor jenem mehr als vor diesem? Warum halten wir dies Übel für größer? diese Freude für reiner? dieses Streben für höher? diese Gestaltung für vollkommener? Warum wählen wir hier den Sinnenreiz und dort die Mühe? Warum hier das gegenwärtige Übel statt des künftigen, dort das künftige statt des gegenwärtigen? Warum ziehen wir hier die Ehre vor und dort den Genuß, und da die Sünde und da die Entsagung? Warum opfern wir uns einem anderen? Warum opfern wir den Inbegriff unserer Freuden einer Idee? Warum sorgen wir für kommende Geschlechter? Warum wollen wir Dinge nach unserem Tode?

 

Wir wägen gegeneinander Besitz und Sünde, Ehre und Schmerz, eigenes Leid und fremde Freude, lebendiges Ungemach und totes Glück, Tagessorge und künftigen Kummer, Gerechtigkeit und Entbehrung, göttliche Liebe und irdische Freude, wir wägen das Unabwägbare, vergleichen das Unvergleichbare und entscheiden bald so und bald so.

 

Verschmäht man die Begründung: wir handeln aus Angst und Gier, aus Furcht vor Entbehrung, Langeweile, Verachtung, göttlicher Strafe, Schmerz und Tod, aus Begehren nach Sinnenlust, Macht, Schein, Besitz, Belohnung und Wechsel; verschmäht man dies menschenunwürdige Bekenntnis, so ist anerkannt: Richtkräfte unseres Lebens sind absolute Werte. Diese Werte können benannt, aber nicht begründet werden.

 

So wenig der Fahrplan uns sagen kann, nach welchem Lande uns die Sehnsucht zieht, noch welches uns bestimmt ist, so wenig kann die Gedankenkunst der Philosophie uns Werte beweisen. Sie kann sagen: tust du das, so geschieht das. Mir scheint dies das größere, jenes das kleinere Übel, dies das höhere, jenes das geringere Gut. Sie schließt: du sollst, oder: du mußt. Darauf steht es jedem frei, zu antworten: ich soll? aber ich will nicht. Ich muß? nein, ich kann auch anders.

 

Dann schweigt die Philosophie beleidigt, oder sie ballt die Faust und droht, oder sie wendet sich ab und schmäht.

 

Das Denken schafft keine Werte. Sie sind gegeben, oder sie sind nicht. Wer ehrlich ist, weiß, daß er manchmal Folgen mit dem Verstande abgewogen hat, niemals Ziele. Er handelt wie er handeln muß, nach innerem Gesetz, und dies Gesetz ist tierisch oder es ist göttlich. Wer Werte ergrübelt, ist hilflosen oder kranken Geistes und nicht berufen. Die Gründe, die jemand nachträglich für sein Handeln gibt, sind falsch. Niemand weiß, was in irgendeinem Augenblick in ihm vorgeht; ein tausendfältiges Ich kreuzt seine widerspruchsvollen Fühlungen und Wollungen, und ein Innerstes entscheidet.

 

Werte werden nicht erdacht und erstritten, sondern geschenkt. Geschenkt dem, der reinen Herzens ist, und dessen Geist schweigen kann. Sie sind das Geschenk überintellektueller Kräfte, deshalb bedürfen sie keiner Begründung und keines Beweises, sie bestehen aus eigener Kraft, denn sie entstammen dem Reich der Seele. Den Eingang zu diesem Reich erzwingt man nicht, und doch steht es himmelweit offen. Der höchsten Menschenmacht ist es erschlossen, der Liebeskraft des Glaubens.

 

Glauben! Zögernd gestehe ich euch, Freunde: ich liebe das Wort nicht. In der griechischen und römischen Schrift stehen die Wörter πίστις und fides, die heißen Treue und Trauen. Als man sie mit Glauben übersetzte, da stand dies schöne Wort seinem Ursinn näher, jetzt ist es verwelkt und sagt nicht viel mehr als "für wahr halten". Nur wenn wir bekennen "ich glaube an Gott", so erklingt der alte Glockenton. Nichts steht dem Glauben ferner als das Meinen. Und so wie wir das schwachgewordene Wort zum reinen Sinn beleben müssen, ist uns das Gleichnis gegeben, wie wir die alte Worteskraft erwecken sollen.

 

Kränker ist das Wort Religion. Bei den Römern war es stark, es hieß Bindung, eine rechte Knebelung mit Stricken, wie die Liktoren sie pflogen. Wir denken leicht an Kirchenglauben, an etwas, das in Schulen gelehrt und geprüft wird, an ein bürgerliches Unterscheidungsmerkmal. Man hat Religion das "Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit" genannt, das betont die Bindung und entbehrt der göttlichen Freiheit; der Begriff der Transzendenz ist erfüllt vom Denken; zuweilen möchte ich Gottesbund, zuweilen Gottesfreiheit und am liebsten Gottesfriede sagen.

 

Wollen wir vom Glauben reden und gar von kommendem Glauben, so laßt es uns in großer Freiheit und ohne Schämen beginnen. Wir, die wir nicht in Gemeinden knien können, wir wagen vor beschämter Ehrfurcht nicht, die höchsten Worte auszusprechen und fürchten uns, unsere Seelen zu entblößen. Wird es uns schwerer als den berufenen Glaubensverkündern, diese Scham zu überwinden, um zu bekennen, wie es in unseren Herzen um den Glauben steht, so soll es um so rückhaltloser geschehen, ja wir wollen vor allem den Versuch wagen, in harter Selbsterforschung das zu offenbaren, was jenen nicht obliegt: den unbewußten Widerwillen gewissenhafter Menschen unserer Zeit gegen den Glauben.

 

Die erste Hemmung ist die der sittlichen Haltung. Abendländische Sittlichkeit und Erziehung beruht auf der alten Verherrlichung des Mutes, der Verdammung der Furcht. Mut mit seiner Gefolgschaft der Wahrhaftigkeit, Treue, Herrenhaftigkeit, des vornehmen Verzichts; Furcht mit ihrer Sippe der Heimlichkeit, Lüge, Zweckhaftigkeit, Unterwürfigkeit, Begehrlichkeit und Zudringlichkeit. Der Begriff der Sünde besteht nicht. Verwerflich ist nicht das Menschliche an sich, am wenigsten Ungehorsam und Selbstherrlichkeit; verwerflich ist nur das Unehrenhafte, die Feigheit und was sie verrät. Keiner Erlösung bedarf es, der anständige Mensch getraut sich, mit Welt und Überwelt aus eigener Kraft fertig zu werden, allenfalls mit Hilfe mutfreudiger Mächte, die den Tapferen, als einen ihres Gleichen, nicht im Stiche lassen.

 

Nie wäre es der mittelalterlichen Kirche gelungen, das Mutideal zu brechen und das Zeichen der Unterwerfung zu erhöhen, wäre ihr nicht die aufquellende europäische Unterschicht gefügig gewesen. Die Kirche mußte die Greuel der Hölle ins Unaussprechliche häufen, um den Funken von Furcht in mutigen Herzen zu entfachen, sie bedurfte der fügsamen Kinderseele und der Frauenwelt. Dennoch hat sie im abendländischen Geistesleben nicht mehr als ein Gleichgewicht erreicht, das seltsamste in aller Geistesgeschichte der Erde. Abgesehen von religiös begabten Naturen und von Beschränkten ist der europäische Mann in der Blüte seiner Jahre nicht Christ. Bestenfalls kreuzt sich in ihm eine Wochentagsanschauung mit einem Sonntagsglauben, der auf das Fühlen, geschweige das Handeln, nicht wirkt. Wenn Mutvorschriften, wie etwa Zweikampf, in Frage stehen, muß die Glaubenskonvention schweigen; das Gebot des Backenstreichs ist schlechthin Ärgernis.

 

So mischt sich für den normalen männlich erwachsenen Europäer in die Dinge des Glaubens ein Beigeschmack von Unwahrhaftigkeit, Unterwürfigkeit. Widerliche Sünden bekennen, sich selbst hinstellen als einen, mit dem man nicht verkehren würde, wenn man ihn träfe, Verzeihung erbitten in unwürdiger Haltung und schlechtem Gewissen, erlöst zu werden durch Gnade, von einer Gottheit, die das Gröbste an Schmeichelei hinnimmt, ja vielleicht verlangt, die von ihren Anhängern eine geläufige Konvention der Salbung in Rede und Gebärde fordert: das sind Empfindungen, die mit Schrecken zurückgedrängt und verleugnet, sich ins Unterbewußte flüchten und den Widerglauben nähren. Wer in seiner Jugend eine Periode atheistischer Ungläubigkeit erlebt hat, der erinnert sich unter allen Nöten und Leerheiten eines Gefühls resoluter Ehrlichkeit, das lieber auf Trost und Heil verzichten als dauernd das Opfer der Einsicht und der ritterlichen Gesinnung bringen will. Ein schwacher Widerschein dieses alten Gefühls dämmert auf, wenn wir einem handfesten, naturwissenschaftlichen Atheisten begegnen; wir betrachten kopfschüttelnd die selbstbewußte Gewißheit, mit der in den höchsten Dingen der Vorrang des Verstandes gefordert wird, doch wir empfinden, dieser Mann macht es sich nicht leicht, er hat es schwerer als wir, und nicht aus unedlen Gründen. Vergangene Jahrhunderte hatten die Kraft und Pflicht, den Gottesleugner als Störer irdischer und göttlicher Ordnung mit Feuer und Schwert zu verfolgen; doch nur ein Gefühl verärgerten Selbstbewußtseins und unfreiwilliger Achtung erklärt die selbstbetäubende Wut und schaustellende Verachtung jener eifernden Gerechten.

 

Vorblickend nehmen wir wahr, daß künftiger Glauben manches Erbteil von Babylon und Zion, von Byzanz und Rom, ja einiges auch von Wittenberg abstreifen wird; er wird ein freier und männlicher Glauben sein, ohne Sündenlümmelei und Salbadarei, ohne Selbstentehrung, Schmeichelei, Bettelei und Winselei, für uns Deutsche aber so, wie er aus deutschen Herzen kommt, und von deutschen...

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