Einleitung
„Hilf, Herr meiner Tage,
dass ich nicht zur Plage
meinem Nächsten bin.“
Dieses alte Kindergebet leuchtete mir ein. Nachdenklich stieg ich die Stufen des großen Treppenhauses nach oben, vom kleinen, mit Matratzen ausgelegten Andachtsraum meines Gymnasiums zum Klassenzimmer. Ich dachte an die Gemeinheiten, die unter Schülern üblich sind. Später entdeckte ich, was alle Menschen im Lauf ihres Lebens entdecken: Man muss nicht einmal gemein sein – selbst wenn man nett und fair sein will, leiden andere unter den eigenen Schwächen. Oft begreift man gar nicht, was eigentlich das Problem ist und was den anderen verletzt. Die eigenen blinden Flecken machen Beziehungen kompliziert.
Sozial eingestellte Menschen haben den Wunsch, der sich im oben zitierten Kindergebet ausdrückt. Sie wollen nicht, dass andere unter ihren Schwächen leiden. Es quält sie, wenn dies doch passiert. Es gibt aber auch ganz eigennützige Gründe, sich den eigenen Schwächen zu stellen. Denn wenn andere unter unseren Schwächen leiden, fahren sie ebenfalls ihre Stacheln aus. Das kostet Zeit und Kraft. Es hindert uns, Ziele zu erreichen, weil die Zusammenarbeit nicht mehr gut funktioniert. Schließlich verschlechtert es auch Beziehungen, wenn beide Seiten ihre Stacheln einsetzen. Eine gute Zusammenarbeit und glückliche Beziehungen erfordern daher einen guten Umgang mit den eigenen Schwächen.
Dieses Buch lädt Sie auf eine Entdeckungsreise zu Ihren Schwächen ein. Wir alle haben wunde Punkte und wenn bestimmte Situationen auftreten, dann fahren wir unsere Stacheln aus. Manche Stacheln dienen dem Angriff, andere der Verteidigung. Es hängt von unserer Lebensgeschichte ab, zu welchen dieser Stacheln wir greifen. Die meisten Menschen setzen vorwiegend ein oder zwei verschiedene Stacheln ein. Es gibt aber auch Persönlichkeiten, bei denen kein Stachel besonders stark ausgeprägt ist. Sie entdecken dafür oft mehr als zwei bei sich. Je mehr Stress wir in einer Situation erleben, desto deutlicher zeigen sich unsere Stacheln. Dabei kann es auch sein, dass wir in verschiedenen Lebensbereichen zu unterschiedlichen Stacheln greifen, im Berufsleben etwa zu anderen als in Freundschaften.
Dieser Ratgeber macht Ihnen Ihre Schwächen bewusster. Auch wenn Sie sich schon gut kennen, dürfen Sie mit einigen Aha-Erlebnissen rechnen. Die Konfrontation mit den eigenen Schwächen könnte auch entmutigen. Ein wenig Schmerz über die eigene Person jedoch ist heilsam. Denn Sie werden auch entdecken: Niemand muss bei seinen Schwächen stehen bleiben. Jeder kann sich auf einen Weg der Veränderung begeben. Er lässt uns zu Persönlichkeiten werden, die um ihre Schwächen wissen.
Wer darf uns auf unsere Schwächen hinweisen? Wohl nur eine Person, die uns schätzt und auch unsere Schattenseiten annehmen kann. Im Laufe dieses Buches beschreibe ich viele Menschen mit ihren jeweiligen Stacheln, in anonymisierter, verfremdeter Weise natürlich. Ich hoffe sehr, dass dabei auch meine Wertschätzung und mein Verständnis durchscheinen. Mit der Entschärfung meiner eigenen Stacheln bin ich selbst längst nicht am Ende angelangt. Etliche Passagen dieses Buches lese ich mit einem schmerzlichen Gefühl. Auch wenn ich dieses Buch als Fachmann schreibe, fordert mich das Thema selbst heraus. Man kann es vielleicht mit einem Physiker vergleichen, der über die Schwerkraft bestens unterrichtet ist, ihren Gesetzen aber wie jeder andere unterworfen ist. Diese Selbstverständlichkeit würde ich nicht betonen, wenn ich nicht an dieser Stelle um Ihr Vertrauen werben wollte. Wo ich Menschen begleite, werden dabei auch ihre Schwächen sichtbar. Dann hängt alles vom Vertrauen ab. Wer sich verstanden und angenommen fühlt, kann auch eine peinliche Selbsterkenntnis verkraften. Nach einer kurzen Erschütterung finden Menschen ihr Gleichgewicht wieder. Ein zerknirschtes Gefühl, etwas anders machen zu müssen, verwandelt sich in das befreiende Gefühl, nun etwas anders machen zu können. Es öffnen sich neue Möglichkeiten, Beziehungen zu gestalten und mit anderen zusammenzuarbeiten.
Folgende acht Schwächen sind es, die andere verletzen, enttäuschen oder auch bedrohen.
Grenzen überschreiten. Wenn beziehungsorientierte Menschen zu weit gehen, dann vereinnahmen sie andere. Sie stellen mehr Nähe her als die, auf die sich ein anderer einlassen kann. Auch in der Zusammenarbeit, im Teilen von Dingen und Informationen setzen sie manchmal ein „Ja“ voraus, das noch gar nicht ausgesprochen wurde.
Blenden. Wer auf einen guten Eindruck aus ist, stellt manchmal ein Bild von sich aus, das zu schön ist, um wahr zu sein. Selbstdarstellung weckt Erwartungen, die andere irgendwann enttäuschen.
Energie rauben. Manche Menschen verlangen zu viel von sich. Sie überfordern sich und suchen dann ein offenes Ohr oder Unterstützung. Anderen kann das Zeit und Kraft rauben.
Abwerten. Kritische Menschen urteilen manchmal streng, wenn andere ihren Maßstäben nicht gerecht werden. Das entmutigt, kränkt und verletzt. Es weckt auch den Zorn auf den, der sich selbst zum Maßstab macht.
Einschüchtern. Dies ist die Versuchung starker Persönlichkeiten, die anderen Angst machen und sich auf diese Weise durchsetzen.
Vermeiden. Vorsichtige Menschen gehen Unangenehmem manchmal aus dem Weg. Wenn in Beziehungen etwas schwierig wird, ziehen sie sich lieber in ihr Schneckenhaus zurück. Auch bei schwierigen Aufgaben zögern sie manchmal lange. Das kann enttäuschen.
Rächen. Manche Menschen sind sensibel für Ungerechtigkeiten. Wenn ihnen die widerfahren, greifen sie zur Macht der Ohnmächtigen. Sie bestrafen andere, oft auf unauffällige Weise.
Menschen ohne Stacheln. Auch Friedfertigkeit kann man übertreiben. Ein Übermaß an Toleranz und Gelassenheit macht andere wütend.
Jeder Schwäche ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Jedes schließt mit einer Einladung zu einem spirituellen Weg. Psychologische Werkzeuge verändern erstaunlich viel. Doch irgendwann kommen sie an ihre Grenzen. Denn hinter unseren menschlichen Schwächen stehen auch existenzielle Fragen, die eine existenzielle Antwort erfordern. Ich schöpfe hier aus der christlichen Tradition, in der ich verwurzelt bin. Darüber hinaus habe ich schon viele Menschen begleitet, die kirchlich geprägt sind.
Vielleicht sind Sie in einer anderen religiösen Tradition verwurzelt. Dann werden Sie sehen: Die existenziellen Fragen stellen sich jedem Glaubenden und müssen dort eine Antwort finden. Vielleicht inspiriert Sie ja der Vergleich mit der christlichen Tradition und hilft Ihnen, die Schätze Ihrer eigenen Religion zu bergen. Vielleicht verstehen Sie sich auch als Atheistin oder Atheist oder auch als Agnostikerin oder Agnostiker. Auch dann könnte Sie die Beschäftigung mit Existenzfragen anregen. Sie führen zu einer Lebenskunst, die mit Ohnmacht, Ungerechtigkeit, Mangel und Angst umgehen kann.
Hinter den Stacheln, die ich in diesem Buch beschreibe, stehen psychologische Konzepte. Am stärksten ist mein Ansatz von der sogenannten Schematherapie geprägt, in der ich als Psychotherapeut beheimatet bin. Sie ist eine moderne Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie und findet in Deutschland eine große Verbreitung. Ihre Grundidee ist folgende. Bei jedem Menschen gibt es einige wunde Punkte (Schemata), die in Stresssituationen seine Gefühle und sein Verhalten bestimmen. Um diese wunden Punkt zu schützen, bildet ein Mensch Verteidigungs- und Angriffsstrategien aus. Die haben allerdings Nebenwirkungen, die zwischenmenschliche Probleme verursachen.
Die Verteidigungs- und Angriffsstrategien habe ich in einer Weise aufbereitet, die mir verständlich und anschaulich erscheint. Diese habe ich auch schon einem anderen Buch zugrunde gelegt: „Stachlige Persönlichkeiten. Wie Sie schwierige Menschen entwaffnen“. Dieses Buch hat eine außerordentliche Resonanz gefunden. Ende 2014 befand es sich zum Beispiel für drei Monate unter den Top 10 der Idea-Bestsellerliste, die die Verkäufe in evangelischen Verlagen und Buchhandlungen abbildet. Bereits innerhalb eines Jahres wurde eine zweite und dritte Auflage gedruckt. Das habe ich auch als Bestätigung für meinen Ansatz gewertet, der die Schwächen von Menschen mit sieben Stacheln beschreibt. Auch in meinen Vorträgen ließen sich Fallbeispiele von Teilnehmern hier gut einordnen.
Während es bei den „Stachligen Persönlichkeiten“ um extreme Ausprägungen schwieriger Verhaltensweisen geht, nimmt „Meine Stacheln“ auch die leichteren Ausprägungen in den Blick. In diesem Ratgeber habe ich neben den sieben Stacheln auch einen achten Typ beschrieben: Menschen ohne Stacheln. Auch Friedfertigkeit kann man übertreiben. Dann kann sie zu einer Schwäche werden, die anderen Probleme bereitet.
Dieses Buch können Sie auf mindestens drei Weisen nutzen. Pragmatische Leserinnen und Leser werden gezielt zu den Kapiteln gehen, die sie selbst betreffen. Die Leitfragen am Anfang jedes Kapitels führen Sie schnell zu Ihren Schwächen. Andere werden die Kapitel sowohl für sich selbst als auch für andere lesen. Besonders wenn Sie in einem sozialen Beruf arbeiten, Menschen führen oder anleiten, hilft Ihnen auch ein Verständnis für die Schwächen der anderen. Wenn Sie psychologisch interessiert sind, werden Sie vermutlich auch alle Kapitel lesen. Hinter jeder Schwäche verbirgt sich ein menschliches...