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E-Book

Meine Tochter verschwindet

Eine Mutter kämpft gegen die Magersucht

AutorJo Schulz-Vobach
Verlagdotbooks GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl335 Seiten
ISBN9783958248021
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Ein bewegender Roman, der Mut macht: 'Meine Tochter verschwindet' von Jo Schulz-Vobach jetzt als eBook bei dotbooks. Es beginnt ganz harmlos: Die 16-jährige Theresa ist ein typischer Teenager, in sich gekehrt, ein paar Schulprobleme, etwas pummelig - und darüber sehr unglücklich. Ihre Mutter Anne merkt zunächst nichts von den Veränderungen, die ihre geliebte Tochter durchmacht: Immer öfter lässt Theresa ihr Essen stehen, starrt stundenlang in den Spiegel. Als sie beginnt, sich nicht mehr nur heimlich zu erbrechen, muss Anne schmerzhaft erkennen, dass sie hilflos ist: Hilflos gegenüber einer Krankheit, die sich leise und heimtückisch in das Leben ihrer Familie geschlichen hat. Schonungslos erlaubt dieser Roman der Autorin Jo Schulz-Vobach einen Einblick in die Welt einer oft tabuisierten Krankheit: eine flammende Liebeserklärung an das Leben! Jetzt als eBook kaufen: 'Meine Tochter verschwindet' von Jo Schulz-Vobach. Ein Roman, nicht nur für Menschen, die mit Bulimie oder Anorexie kämpfen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks - der eBook-Verlag.

Jo Schulz-Vobach arbeitet als freischaffende Journalistin und Schriftstellerin. Auch wenn die gebürtige Ostpreußin seit 1992 in Österreich lebt und schreibt, sind es die Landschaften der Ostsee, die sie dazu inspirieren, vergangenen Geschichten nachzuspüren. Ihre Romane Die Bernsteinfrau, Das Lächeln der Wölfin und Die Sanddistel, die die leisen und unbekannten Spuren der deutschen Geschichte vor dem Vergessen bewahren wollen, sind ebenfalls in bei dotbooks erschienen.

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Leseprobe

Kapitel 2


Vor dem Eingang des Krankenhauses steht ein Taxi. Anne gibt die Adresse ihrer Tochter an. Während der Fahrt schaut sie auf ihre Armbanduhr. Seit sie Theresa gefunden hat, sind noch nicht einmal sechs Stunden vergangen. Bleierne Zeit, denkt sie und erinnert sich an einen Film, in dem sich ein Tänzer durch eine nächtliche Landschaft bewegte – eine seltsam verloren wirkende Figur, die gegen das Dunkel stieß, wieder und wieder, und sich ihm schließlich ergab. Dieser Film, gedreht nach einem Roman, hatte sie beeindruckt, und sie musste danach oft an diese düster-melancholischen Bilder denken.

Und so kommt ihr Theresa jetzt vor – auf einem endlosen Weg in einer dunklen Nacht, die keine Türen, nur die Tiefe kennt, auf der endlosen Suche nach dem eigenen Ich, dem erwachsenen vielleicht, das für sie doch so schwer zu finden ist bei der Wanderung auf dieser diffusen Grenzlinie zwischen Illusion und Wirklichkeit. So viel Widersprüchliches ist in und an Theresa. Alles, was ihr gut tun, was ihr helfen könnte, wehrt sie, wenn auch mit Mühe, ab, denkt Anne, und Liebe und Mitleid für ihre Tochter treiben ihr die Tränen in die Augen. Sie ergibt sich der Angst, der Einsamkeit und Verlorenheit, verwehrt aber Verführung – vielleicht in Form eines gut gefüllten Tellers auf dem Esstisch. Bei Theresa gibt es nur Extreme.

In eine andere, in eine bessere Welt will sie gehen. Doch wer, denkt Anne, wer kann sagen, dass es diese Welt wirklich gibt? Was ist, wenn es dort dunkel ist und eisig kalt? Wenn du, mein Kind, dort niemanden triffst, den du wieder zu sehen hoffst?

Oder keinen, der dir wohlgesinnt ist? Oder wenn dort ein Lärm ist, den du nicht abstellen kannst, wenn dich dort zum Beispiel das unaufhörliche Klingeln eines Weckers, das du so hasst in diesem Leben, begleitet, dich verfolgen wird bis in alle Ewigkeit?

»Sind Sie in Ordnung?«, fragt der Fahrer des Taxis, in das sie vor dem Krankenhaus gestiegen ist. Sie begegnet seinem besorgten Blick im Rückspiegel.

»Ja, ja«, antwortet sie und dreht den Kopf, um auf die Straße zu sehen. Sie ahnt, dass der Mann gern weiterreden möchte, doch sie könnte jetzt kein Gespräch über diese nicht mehr nächtliche, aber auch noch nicht morgendliche Stunde beginnen, in der sich alle Bewegungen und Geräusche auf der Straße verlangsamt zu haben scheinen. Ihr Blick streift vorbeihuschende Lichter und Schatten, blinkende Ampeln und nichts sagende Hausmauern, und überall kann Anne doch nur Theresas abgezehrtes Gesicht sehen und diese übergroßen Augen. Was ist so viel besser am Tod als am Leben?, fragt sie wortlos. Warum erscheint dir der Tod so verlockend?

O ja, auch Anne hat diese Art der Verführung bereits kennen gelernt. Über den Gedanken, mit dem Auto gegen einen Baum zu fahren, kann sie heute sogar lächeln. Über den anderen nicht. Wenn sie nach heftigen Diskussionen mit ihrem Mann nachts aus dem Haus flüchtete, lief sie durch den nahe gelegenen Wald auf der Suche nach einem geeigneten Baum, wie sie, gleichzeitig fasziniert und entsetzt über ihre Gedanken, später ihrer Freundin erzählte. In der Dunkelheit des Waldes erwartete sie das Auftauchen noch weiterer Schrecken – überfallen und vergewaltigt zu werden, einen Stich ins Herz zu bekommen, würgende Hände an ihrem Hals, die Zähne eines wilden Tiers und anderes. Sie hoffte auf diese Schrecken – und sie fürchtete sich davor. Und sie dachte damals und noch Jahre danach: Ich kann die Kinder nicht allein lassen, das kann ich ihnen nicht antun.

Aber so leicht war und ist es nicht, die Vorstellung vom einfachen Hinübergleiten in ewiges Vergessen zu verdrängen. In den vergangenen Jahren und wahrscheinlich im Zusammenhang mit diesem unvermeidlichen Älterwerden oder dem hier und da sichtbar werdenden Verfall des Körpers ist es eine seltsame Müdigkeit in Körper und Seele, die von Zeit zu Zeit ausbricht, ohne dass Anne etwas dagegen zu unternehmen vermag. Diese Müdigkeit kann Tage andauern und seltsame Überlegungen in Gang setzen. Dann denkt sie: Im Winter, ja, bei Frost und Schnee werde ich den Berg höchsteigen und mich in einer Mulde vom Tod verführen lassen. Sie hat gehört und gelesen, dass der Tod durch Erfrieren leicht kommt, sozusagen mit dem Schlaf. Sie würde sich nicht wehren, sie würde diese Landschaft, die sie so liebt, bis zum letzten Atemzug in sich aufnehmen und dann wirklich einfach einschlafen. Ohne mit dieser Belastung, an die Kinder denken zu müssen. Sie sind erwachsen, sie brauchen ihre Mutter nicht mehr. Wegschlafen wünscht sie sich also. Und nicht mehr aufwachen müssen.

Doch so einfach ist das nicht. Und Anne weiß, dass die Müdigkeit in ihr und der Wunsch nach immer währendem Schlaf viel mit Theresa und mit all dem Leid und Kummer um sie herum zu tun hat. So, wie sie nicht essen konnte, wenn Theresa nicht aß, so erscheint es ihr nun unmöglich, einfach weiterzuleben, während ihre Tochter stirbt.

Und im Taxi durch diesen grauenden Morgen fahrend, erinnert sich Anne wieder an jenen Tag, an dem sie auf den Dachboden ihres Hauses geklettert war, um die letzten Umzugskartons wegzuräumen. Plötzlich, als sie mit dem Fuß nach der nur locker angelehnten Leiter tastete, hatten alle Kraft und Mut sie verlassen. Mit Mühe schaffte sie es, sich auf den Rand des Durchstiegs zu setzen. Da blieb sie sitzen, den Blick auf die offene Haustür gerichtet. Es war im Spätherbst, die Ferienhäuser am Berg waren bereits verlassen und für den Winter verschlossen. Sie war allein in dieser Siedlung, der Ort zwei Kilometer entfernt, kein Mensch unterwegs. Stundenlang saß sie da und dachte: Das also ist das Ende. Der Gedanke war frei von Angst, frei von Panik. Sie entspannte sich und wurde ganz ruhig. Ihr Leben wurde zum Film, der gemächlich von der Spule rollte. Und als ihr Fuß wie von selbst Halt auf der obersten Leitersprosse fand, konnte sie sich in aller Ruhe umdrehen und hinunterklettern.

Sie hat dieses Erlebnis oft erzählt, auch ihrer nun toten Freundin, lachend und gleichzeitig fasziniert von dem Morbiden in der eigenen Fantasie. »Stell dir vor – auf dem Dachboden, verrottet, zu Staub zerfallen!«

Anne saß, als sie davon erzählte, am Krankenbett ihrer Freundin. »Ich will verbrannt werden«, sagte diese, »und meine Asche verstreust du von deinen Bergen aus in die Landschaft. Lade alle Freundinnen und Freunde dazu ein. Ich will, dass mein Tod eine Riesenfete wird. Versprich es mir, Anne!«

Und Anne hielt diese schmale weiße Hand fest und drückte sie vorsichtig.

»Du stirbst noch lange nicht. Aber wenn es einmal so weit sein sollte, dann feiern wir eine Fete. Das verspreche ich dir.«

»Ich bin dabei, ich merke es, wenn du mich anlügst«, warnte die Freundin mit fiebrig glänzenden Augen. Sie brachen in Gelächter aus. Die Vorstellung, rund um eine Aschenurne ein Picknick auf einem Berggipfel zu veranstalten, war makaber und einfach zum Lachen, war rabenschwarz. Und in dieser Nähe zum Tod wollten sie beide manchmal Makabres und Rabenschwarzes. Aber mit jedem Tag, schließlich mit jedem Atemzug entfernten sich die Freundinnen voneinander. Das gemeinsame Lachen war längst verklungen, ihre Sprache verstummt.

»Mir ist so kalt«, flüsterte die Freundin, »so kalt.«

Anne legte sich neben sie und hielt sie im Arm, bis der Körper ihrer Freundin ruhig wurde, ganz ruhig, und bis der leichte Atem verflog und der Blick sich zurückzog ins Innere und sich irgendwohin verlor.

Es war das erste und bisher einzige Mal, dass Anne das Sterben miterlebte. Als ihre Mutter starb, war sie ein Kind, und man hatte sie nach draußen geschickt. Sie hatte am offenen Fenster auf das Seufzen der Kranken, auf das Klagen der Großmutter und die beruhigenden Worte des Arztes und einer Nachbarin, die zu Hilfe gekommen war, gehorcht. Anne trägt die Erinnerungen an eine von der Krankheit gezeichnete, aber stets fröhliche Mutter in sich. Sie wird nie jenen Tag vergessen, an dem ihre Mutter sich aus dem Bett helfen ließ, an dem sie, Anne und ihre Schwester Sibylle, ihr Stöckelschuhe anzogen und ihre Mutter mit dem jungen Arzt, der nun täglich ins Haus kam, Walzer tanzte. Anne hat das Bild genau vor Augen: Ein federleichter Wind bauschte den Gardinenstoff vor dem offenen Fenster, griff nach dem schulterlangen und trotz der Krankheit glänzenden Haar ihrer Mutter und verwandelte es in einen Schleier, der die tiefen Spuren von Schmerz und Leid in ihrem Gesicht verdeckte. Nur ihre Lippen waren noch zu sehen und manchmal auch die Augen – und sie leuchteten und glänzten einen Herzschlag lang, vielleicht auch zwei. Der Arzt hielt Annes Mutter in seinen Armen und trug sie zurück zum Bett. Sie hatte einen der Stöckelschuhe beim Tanz verloren. Die Großmutter hatte aufgehört zu singen, die Nachbarin pfiff nicht mehr; sie schickte die Kinder aus dem Haus. Diese versteckten sich unter dem offenen Fenster und hörten dem Sterben ihrer Mutter zu.

Vielleicht ist es nicht der Tod, vor dem wir Menschen uns fürchten, sagt sich Anne, während das Taxi noch immer durch die Straßen fährt, wo die Ampeln an den Kreuzungen nur gelb blinken, Lichtblitze, vor denen sie die Augen schließen muss – vielleicht ist es dieses Sterben, das uns Angst macht. Diese Zeit, die oft mit Schmerzen verbunden ist und mit dem Wissen um das Ende. Sie weiß nicht, ob Theresa diese Ängste vor dem Sterben überdacht hat, sie weiß nur, dass ihre Tochter den Tod ersehnt hat.

***

Diese Wohnung nun, im fünften Stockwerk eines schon älteren Hauses, direkt unter dem Dach, mit schrägen Wänden. Über den anderen Dächern und dem Himmel nahe, so hatte sich Theresa ihre erste eigene Wohnung vorgestellt. Dann war sie plötzlich in eine winzige Einzimmerwohnung im Souterrain gezogen. »Nur raus – raus – raus!«

Nach fünf Monaten war sie aus der...

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