Bretten
Was heute in Bretten Fußgängerzone ist, war am 16. Februar 1497 eine Welthandelsstraße. Von der Reichsstadt Speyer, an deren Rheinhafen die Tuche aus den Niederlanden verladen wurden, oder von der Messestadt Frankfurt, damals schon das Mekka der Büchernarren, zogen die Kaufleute nach Esslingen, Ulm und Augsburg, wo der niederländische Warenstrom mit dem orientalischen aus Italien zusammentraf. Ein Stückchen von dem Wohlstand der Reichsstädte blieb auch in dem kurpfälzischen Amtsstädtchen hängen. Der Landesherr in Heidelberg verdiente am Geleit, und wer morgens in Speyer losgefahren war, aß im bischöflichen Bruchsal zu Mittag, um dann dem Saalbach folgend gegen Abend durchs Gottesackertor in Bretten anzukommen. Das Gasthaus zur Krone gleich links am Marktplatz war imstande, einen Kaiser zu beherbergen. Karl V. war hier dreimal zu Gast, wenige Stunden am 24. Juli 1543 über Mittag, zur Nacht am 27. Juni 1550 auf der Reise von den Niederlanden zum Augsburger Reichstag und am 11. September 1552 auf seinem Heereszug gegen Frankreich. Schräg gegenüber am Südrand des Marktes wohnte damals der Schwager des Kronenwirts, der kurfürstliche Schultheiß und Tuchhändler Georg Schwartzerdt. Es war sein Geburtshaus und auch das seines älteren Bruders Philipp, den wir als Melanchthon kennen. Am 13. August 1689 fiel es dem Stadtbrand zum Opfer, den die Truppen des roi soleil gelegt hatten. Die unglückliche Liselotte von der Pfalz diente als Vorwand. Seit 1903 steht an dieser Stelle ein prächtiges Museum, historisierend in der Architektur, handwerklich solide in der Ausstattung, kostbar durch die Bücherschätze. Nikolaus Müller, Professor in Berlin, hat es zum 400. Geburtsjubiläum Melanchthons zustande gebracht.
1497 wohnte dort Philipps Großvater, der Kaufmann und zeitweilige Schultheiß Johann Reuter. Er war anscheinend kein eingesessener Brettener, doch wissen wir nicht, von wo er zugezogen ist. Verwandte hatte die Familie in Speyer. Das stattliche Haus in bester Lage dürfte seine Frau in die Ehe eingebracht haben. Nachdem erkannt wurde, dass Melanchthons Großmutter nicht die Pforzheimerin Elisabeth Reuchlin sein kann, wie man lange annahm, steht der Vermutung nichts im Wege, dass sie einer wohlhabenden Brettener Familie entstammte. Wir kennen nur zwei Kinder aus dieser Ehe: die Tochter Barbara und ihren erheblich jüngeren Bruder Johann Philipp, der 1551 als Prior des Klosters zum Heiligen Grab in Speyer starb. 1493 wurde die sechzehnjährige Barbara Reuter dem achtzehn Jahre älteren kurfürstlichen Rüstmeister Georg Schwartzerdt angetraut. Er war der Sohn eines Heidelberger Schmieds und hatte in zwei metallverarbeitenden Berufen eine vorzügliche Ausbildung genossen. In der Reichsstadt Nürnberg lernte er das Plattnerhandwerk. Seine leichten und dennoch festen Rüstungen waren von Fürsten begehrt; Kaiser Maximilian bestand auf dem Wormser Reichstag 1495 seinen spektakulären Zweikampf mit dem burgundischen Ritter Claude de Vauldrey in einer Rüstung des Heidelbergers. Dieser verstand aber auch die Kunst, Geschütze zu gießen und sie abzufeuern. Er hatte sie im oberpfälzischen Amberg gelernt. Sein Dienstherr war der angestammte Landesfürst, Philipp der Aufrichtige von der Pfalz. Als die nunmehr zwanzigjährige Barbara am 16. Februar 1497 im elterlichen Haus in Bretten ihr erstes Kind, einen Sohn, gebar, erhielt es den Namen dieses Kurfürsten.
Die früheste Kindheit verlief ohne Störung. Dem Erstgeborenen einer jugendlichen Mutter in behaglichen Verhältnissen wurde alles zuteil, was für seine seelische und körperliche Gesundheit erforderlich war. Mochte der Beruf des Vaters auch dessen häufige Abwesenheit erfordern, so war doch der Großvater als Oberhaupt der Familie im Hause. Die Geburt der Schwester Anna und des Bruders Georg im Abstand von jeweils zwei Jahren, später noch der Schwestern Margarete und Barbara, ließ dem kleinen Philipp deutlich werden, dass er nicht allein auf der Welt war. Der Sinn für menschliche Gemeinschaft wurde bei ihm gut ausgebildet. Er besaß die Fähigkeit, sich in eine Gemeinschaft einzufügen, sich den Gegebenheiten anzupassen.
Seine sprachliche Begabung wurde erkannt und gefördert, zuerst in der städtischen Lateinschule, danach durch einen Hauslehrer, Johannes Unger aus Pforzheim. Durch dessen Drill lernte Philipp die virtuose Beherrschung der lateinischen Sprache. Täglich mussten zwei Dutzend Verse des zeitgenössischen Dichters Baptista Mantuanus analysiert werden. Fehler wurden mit Schlägen bestraft, doch Unger strafte maßvoll, wie noch der alte Melanchthon versicherte. Das Gelernte wurde in Rede und Gegenrede vertieft. Philipp wurde ein unermüdlicher Disputator. Dabei musste er einen leichten Sprachfehler überwinden. Zuweilen schämte er sich deswegen auch später noch. Aber wirklich gehemmt war er dadurch nicht. Vielmehr ist als frühes Erfolgserlebnis gut bezeugt, dass die Lateinkenntnisse des kleinen Jungen bei durchreisenden Scholaren höchstes Erstaunen hervorriefen.
Bretten: Stadtansicht von Süden, 1645 Melanchthons Geburtsstadt lag mauerbewehrt am Hochufer über dem Saalbach, einem Nebenfluss des Rheins. Der südlichste Vorort der Kurpfalz im Kraichgau, umgeben von badischen, bischöflich-speyrischen, württembergischen und reichsritterschaftlichen Gebieten, konnte 1504 einer zweiwöchigen Belagerung durch Herzog Ulrich von Württemberg widerstehen.
Sehr bald nahm ihn der Vater mit, wenn er in der Residenzstadt Heidelberg zu tun hatte. Überliefert ist der 27. Juli 1503, der Tag, an dem der Wormser Bischof und Heidelberger Kanzler Johann von Dalberg durch einen Treppensturz zu Tode kam. Der sechsjährige Philipp war zufällig in der Stadt und hat dieses Ereignis nie vergessen.
Ein Jahr später erfuhr die behagliche Geborgenheit seiner Familie eine ernste Gefährdung mit nachhaltigen Folgen. Im Krieg um das Landshuter Erbe – die Kurpfalz wurde von mehreren Seiten angegriffen – widerstand Bretten einer zweiwöchigen Belagerung durch den jungen, stürmischen Herzog Ulrich von Württemberg. Philipp erlebte Beschießung und Ausfall, und vielleicht musste er mit ansehen, wie sein Großvater von wütenden Söldnern am Leben bedroht wurde. Jedenfalls wusste er hinfort sehr genau, was Krieg bedeutet. Wir erkennen darin eine Wurzel seines lebenslangen Wirkens für Frieden durch Überbrückung der Gegensätze. Die Kurpfalz musste damals Gebietsverluste hinnehmen, gerade auch in der Nachbarschaft Brettens, wo Württemberg das Städtchen Knittlingen (den Geburtsort des historischen Dr. Faust) und das Kloster Maulbronn gewann, was noch heute in der Kreisgrenze berücksichtigt wird.
Der Vater hatte mit seiner Artillerie an der hessischen Front bei Mannheim gekämpft. Er kam als kranker Mann nach Hause. Die Familie war überzeugt, dass von hessischen Feinden vergiftetes Brunnenwasser die Ursache war, und noch nach vielen Jahren konnte bei Melanchthon darüber Groll aufbrechen. Vielleicht aber hatte der ständige Umgang mit Chemikalien und giftigen Metallen die Gesundheit des Geschützmeisters untergraben. Jedenfalls lebte Philipp von seinem achten Lebensjahr an mit einem chronisch kranken, nach damaligen Begriffen alten Vater, der sein Schicksal mit ernster Frömmigkeit bewältigte. Gleichzeitig brachte ihm der Hauslehrer Unger die humanistische Bildung nahe. Sie sollte sein Lebensberuf werden. Dass Melanchthon kein einseitiger Rationalist wurde, sondern ein frommer Beter blieb, ist die Folge dieser Prägung seiner Kindheit.