II
Wir waren umgezogen. Die neue Wohnung stimmte in der Anordnung zwar mit der alten überein und war auch in ganz der gleichen Weise möbliert, aber doch enger und weniger komfortabel. Es gab kein Badezimmer, nur ein einziges Waschkabinett ohne fließendes Wasser; mein Vater leerte alle Tage den schweren Zuber aus, der unter dem Waschbecken stand. Wir hatten keine Heizung: Im Winter war die Wohnung eisig, abgesehen von dem Arbeitszimmer, in dem Mama einen kleinen Gaskamin anzündete; sogar im Sommer arbeitete ich stets dort. Das Zimmer, das ich mit meiner Schwester teilte – Louise wohnte im sechsten Stock –, war allzu winzig, als dass man sich darin hätte aufhalten können. Anstatt der geräumigen Diele, in die ich mich so gern geflüchtet hatte, war nur ein Korridor vorhanden. Wenn ich das Bett verlassen hatte, gab es für mich kein Eckchen, das ich als mein Eigen empfand; ich besaß nicht einmal ein Pult, in dem meine Sachen Platz gefunden hätten. Im Arbeitszimmer empfing Mama häufig ihre Besuche; dort plauderte sie auch des Abends mit Papa. Ich musste lernen, bei Stimmengewirr meine Schulaufgaben zu machen und meine Lektion zu lernen. Aber besonders schmerzlich war mir, nie allein sein zu können. Wir, meine Schwester und ich, beneideten glühend die kleinen Mädchen, die ein eigenes Zimmer hatten; das unsere stellte nicht mehr als eine Schlafstelle vor.
Louise verlobte sich mit einem Dachdecker. Ich überraschte sie eines Tages in der Küche, als sie gerade einem rothaarigen jungen Mann ungeschickt auf dem Schoße saß; sie hatte eine weiße Haut, er kräftig rote Wangen; ohne dass ich wusste, weshalb, stimmte der Anblick mich traurig; man billigte jedoch ihre Wahl: Obwohl ihr Zukünftiger Arbeiter war, erwies er sich als ein ‹rechtdenkender› Mann. Sie verließ uns. Catherine, ein junges, frisches Bauernmädchen, mit dem ich in Meyrignac gespielt hatte, trat an ihre Stelle; sie war fast eine Kameradin für mich, aber abends ging sie mit den Feuerwehrleuten von der Kaserne gegenüber aus. Sie war eine ‹Herumtreiberin›. Meine Mutter redete ihr ins Gewissen, entließ sie dann jedoch und beschloss, ohne Hilfe auszukommen, denn mit Papas Geschäften ging es nicht gut. Die Schuhfabrik stand ausgesprochen schlecht. Dank der Protektion eines einflussreichen entfernten Vetters trat Papa in die ‹Finanzberichterstattung› ein; er arbeitete zunächst am Gaulois, dann an verschiedenen anderen Zeitungen; die Tätigkeit brachte wenig ein und langweilte ihn. Zum Ausgleich ging er abends häufiger als früher zu Freunden oder Verwandten oder zum Bridgespielen ins Café; im Sommer verbrachte er seine Sonntage beim Rennen. Mama blieb oft allein. Sie klagte nicht, aber sie verabscheute Hausarbeit und empfand die Armut als drückend; sie wurde überaus nervös. Allmählich büßte mein Vater seinen schönen Gleichmut ein. Sie stritten sich nicht wirklich, aber sie schrien sich wegen geringfügiger Dinge an und ließen oft ihre schlechte Laune an mir und meiner Schwester aus.
Den Großen gegenüber hielten wir fest zusammen; wenn die eine von uns ein Tintenfass umstieß, waren wir beide gemeinsam schuld und wollten auch gemeinsam die Folgen tragen. Indessen hatten sich unsere Beziehungen etwas gewandelt, seitdem ich Zaza kannte; ich schwor einzig und allein auf meine neue Freundin. Zaza machte sich über alle Welt lustig; sie verschonte auch Poupette nicht und behandelte sie als ‹die Kleine›; ich tat es ihr nach. Meine Schwester war darüber so unglücklich, dass sie versuchte, sich ganz von mir loszulösen. Eines Nachmittags, als wir allein im Arbeitszimmer saßen und uns gerade gezankt hatten, sagte sie in dramatischem Ton zu mir: «Ich muss dir etwas gestehen!» Ich hatte auf der rosa Schreibunterlage ein englisches Buch aufgeschlagen und mit meiner Arbeit begonnen; ich wendete kaum den Kopf. «Es ist Folgendes», sagte meine Schwester, «ich glaube, ich liebe dich nicht mehr so sehr wie bisher.» Mit gesetzter Stimme erklärte sie mir diese neue Gleichgültigkeit ihres Herzens; ich hörte schweigend zu, und Tränen rannen mir über die Wangen; sie sprang auf: «Es ist ja nicht wahr, es ist ja nicht wahr!», rief sie und küsste mich. Wir umarmten uns, und ich trocknete meine Tränen. «Du musst wissen», sagte ich, «ich habe es natürlich nicht geglaubt!» Dennoch hatte sie nicht ganz gelogen; sie begann sich gegen ihre Situation als Jüngere aufzulehnen, und da ich sie im Stich ließ, bezog sie mich in ihre Revolte mit ein. Sie war in der gleichen Klasse wie unsere Cousine Jeanne, die sie zwar sehr liebte, deren Geschmack sie jedoch nicht teilte; sie sah sich aber gezwungen, Jeannes Freundinnen zu besuchen, törichte, anmaßende kleine Mädchen, die sie nicht ausstehen konnte; sie war innerlich wütend, dass man diese Geschöpfe ihrer Freundschaft für würdig hielt; aber es kam noch schlimmer. Im Cours Désir sah man auch weiterhin Poupette als einen notwendigermaßen unvollkommenen Abklatsch ihrer älteren Schwester an; sie fühlte sich oft gedemütigt, woraufhin sie als hochmütig galt; als gute Erzieherinnen hatten die Damen nichts anderes im Sinn, als sie noch mehr zu demütigen. Da ich in allem schon weiter fortgeschritten war, beschäftigte mein Vater sich vor allem mit mir; ohne für ihn die gleiche Verehrung zu hegen wie ich, litt meine Schwester unter dieser Parteilichkeit; den einen Sommer in Meyrignac lernte sie, um zu beweisen, dass ihr Gedächtnis besser als meines sei, die Liste sämtlicher Marschälle Napoleons mit allen Namen und Titeln auswendig; sie sagte sie in einem Zuge auf; meine Eltern lächelten nur. In ihrer Verzweiflung betrachtete sie mich mit ganz neuen Augen: Sie suchte nach Schwächen bei mir. Mich aber reizte es, dass sie jetzt – wenn auch nur ganz schüchtern – darauf Anspruch erhob, mit mir zu rivalisieren, mich zu kritisieren und sich von mir unabhängig zu machen. Schon immer waren wir aneinandergeraten, weil ich heftig war und sie leicht weinte; sie weinte jetzt weniger, doch unsere Zwietracht nahm einen ernsthaften Charakter an: Wir setzten unsere Eigenliebe darein; jede suchte das letzte Wort zu haben. Indessen söhnten wir uns immer schließlich wieder aus, wir brauchten eins das andere. Wir hatten die gleiche Art, unsere Kameradinnen, die Damen des Cours Désir, die Familienmitglieder zu beurteilen; wir verbargen einander nichts und fanden noch immer das gleiche Vergnügen am gemeinsamen Spiel. Wenn unsere Eltern abends ausgingen, machten wir uns ein Fest daraus; wir bereiteten uns Omelette soufflée, die wir in der Küche aßen, wir stellten die Wohnung mit viel Lärm auf den Kopf. Jetzt, da wir im gleichen Zimmer schliefen, setzten wir noch lange im Bett unsere Spiele und Gespräche fort.
In dem Jahr, in dem wir in die Rue de Rennes umzogen, fing ich an, schlechter zu schlafen. Hatte ich wohl die Enthüllungen Madeleines schlecht verdaut? Nur eine dünne Wand trennte jetzt mein Bett von dem meiner Eltern, in dem ich meinen Vater schnarchen hörte; war ich empfindlich gegen dies nahe Zusammenhausen? Ich wurde von Albdrücken heimgesucht. Ein Mann sprang auf mein Bett, er drückte mir das Knie in den Magen, mir war, als müsste ich ersticken; ich träumte angestrengt, dass ich aufwachte, doch das Gewicht meines Angreifers lastete nur noch mehr auf mir. Zur gleichen Zeit ungefähr wurde das Aufstehen für mich ein so schmerzhaft dramatischer Vorgang, dass meine Kehle schon am Abend vorher, wenn ich nur daran dachte, wie zugeschnürt war und meine Hände sich mit Schweiß bedeckten. Wenn ich am Morgen die Stimme meiner Mutter hörte, wünschte ich mir, ich würde krank, ein solches Grauen empfand ich, sobald ich mich dem einlullenden Dunkel wieder entziehen musste. Am Tage hatte ich Schwindelanfälle, ich bekam die Bleichsucht. Mama und der Arzt stellten fest: «Das ist das Entwicklungsalter.» Ich hasste dieses Wort ebenso sehr wie die unmerklich sich vollziehende Veränderung in meinem Körper. Ich beneidete die ‹erwachsenen jungen Mädchen› um ihre Freiheit, aber großes Unbehagen befiel mich bei der Vorstellung, dass mein Körper sich stärker ausprägen würde; ich hatte früher einmal erwachsene Frauen geräuschvoll ihre Blase entleeren hören; wenn ich an die wassergefüllten Schläuche dachte, die sie in ihrem Innern bergen mussten, erfasste mich ein Grauen, wie Gulliver es verspürte, als eines Tages junge Riesinnen vor ihm ihre Brust entblößten.
Seitdem ich das Geheimnis der verbotenen Bücher gelüftet hatte, erschreckten sie mich weit weniger als zuvor; oft ließ ich meinen Blick auf den Stücken Zeitungspapier ruhen, die im WC aufgehängt waren. Auf diese Weise geriet ich an einen Feuilletonroman, in dem der Held seine glühenden Lippen auf die weiße Brust der Heldin drückte. Dieser Kuss brannte in mir fort; gleichzeitig Mann, Frau und begieriger Zuschauer, gab, ertrug und erschaute ich ihn. Sicherlich konnte er mich nur so tief erregen, weil mein Körper schon wach geworden war, aber jedenfalls kristallisierten sich meine Träumereien seitdem um dieses Bild; ich weiß nicht, wie oft ich es vor dem Einschlafen in mir heraufbeschwor. Ich erfand auch noch andere: Ich frage mich, woher ich sie nahm. Die Tatsache, dass Ehegatten wenig bekleidet im gleichen Bett schlafen, hatte bislang nicht genügt, mir Umarmung und Liebkosung zu verdeutlichen; ich vermute, dass ich sie aus meinem eigenen Verlangen heraus erschuf. Eine gewisse Zeit hindurch wurde ich von quälenden Wünschen verfolgt, ich wälzte mich mit trockener Kehle auf meinem Lager umher, sehnte mich nach dem Leib eines Mannes, der sich dicht an meinen presste, nach Händen auf meiner Haut. Verzweifelt rechnete ich mir aus: ‹Man kann erst mit...