Meine Familie
Wohl wissend, dass ich nicht zum Schreiben geboren bin, möchte ich nach fast achtzig Jahren Dasein Erinnerungen schildern, wie sie sich in mir bewahrt haben. Aber bevor ich beginne, will ich mich vorstellen.
Ich wurde am 30.04.1937 geboren, getauft auf den Namen Ludwig Alois Eser. Wie auf dem Foto mit meiner Mutter zu erkennen, konnte ich meine Mutter mit meiner Geburt glücklich machen und Vater August mit einem Stammhalter sowieso.
Um ein gelebtes Leben zu verstehen, sollte man die Wurzeln kennen.
Meine Mutter, geb. 28.08.1914, war das jüngste Kind aus der alteingesessenen Winzerfamilie Körner aus Rauenthal. Wie man auf dem Bild mit Freundinnen und Gitarre erkennt, war sie lebenslustig, hübsch, wohl auch musikalisch. Nach der Volksschule besuchte sie mit Ehrgeiz die Näh- & Kochschule in Eltville. Dies war es, was man Winzertöchtern angedeihen ließ, um sie für das Leben fit zu machen, und eine „gute Partie“ sollte sie natürlich auch sein.
Meine Mutter Josefine und ich
Doch jetzt zu meinem Vater August Johann Eser, geb. 04.05.1904. Er war der zweite Sohn des Johann Josef Eser, seine Mutter war Margareta Eser, geborene Nikolai, aus Erbach.
Brautleute August und Josefine
Um die familiären Zusammenhänge besser zu verstehen, zunächst ein Bild von meinen Urgroßeltern mit ihren acht Kindern.
Sitzend die Eltern Barbara Eser (geb. Fetzer) und Johann Josef Eser (meine Urgroßeltern) und von links nach rechts ihre Kinder Elisabeth (bleibt Junggesellin), Katharina (später verheiratete Augstein), Anton Johann, Johann Josef, Leonhard, Albert, Maria (später verheiratete Nikolai) und Barbara (später verheiratete Kunz)
Dieses ausdrucksvolle Familienfoto dürfte um 1890 entstanden sein. Sitzend sehen wir den Familienpatriarchen, meinen Urgroßvater Johann Josef Eser, der am 20.06.1834 geboren wurde. Seine energisch blickende Frau Barbara Eser, geb. Fetzer, erblickte am 28.12.1835 das Licht der Welt. Aus dieser Ehe entstanden acht Kinder: vier Mädchen und vier Jungen.
Drei männliche Nachkommen heirateten und blieben in Oestrich ansässig, doch Anton Johann vermählte sich und ging nach Johannisberg. Von den weiblichen Kindern heiratete eine in die Familie Kunz in Oestrich ein. Eine andere schloss den Bund fürs Leben und war fortan Teil der Familie Augstein, und die Dritte blieb unverheiratet. Die Vierte nahm einen Nikolai zum Mann und zog auf sein Weingut nach Erbach.
Dieser Urgroßvater, Johann Josef Eser, war ein heller Kopf und sehr früh schon im Gemeinderat. Sein Lehrer hat ihn immer als „meinen Primus“ tituliert, und so ist im Volksmund daraus unser Spitzname: die „Primbes“ oder „Primbeser“ entstanden.
Auf diesem aussagefähigen Bild kann man gut die einzelnen Persönlichkeiten erkennen. Ihr gepflegtes Aussehen zeigt uns, dass wir uns mit niveauvollen Vorfahren schmücken können.
Alle vier Brüder – und ihre Nachkommen – sind bis heute dem Weinbau treu geblieben. Von den vier Schwestern haben drei wiederum Winzer geheiratet, und so spricht man in Oestrich mit Recht von dem Eser-Clan oder auch der Eser’schen Weindynastie.
Festhalten kann man, dass alle Nachkommen mit Fleiß, Anstand, Beharrlichkeit und Liebe zum Beruf erfolgreich im Weinbau ihren Lebenssinn und ihren Lebensweg gefunden und behalten haben.
Wenn früher über Geld geredet wurde, lautete die Devise: Einem Winzer geht es gut, wenn ein Jahrgang am Stock (Weinberg) reift, ein Jahrgang sich im Keller gut entwickelt und die Einnahmen eines Jahrgangs als Polster auf der Bank liegen.
Doch zurück zu meinem Großvater Johann Josef Eser (auf dem Foto hinten der zweite Mann von links): Er war verheiratet mit der Schwester seines Schwagers Nikolai aus Erbach. Er hatte fünf Kinder: Josef Kaspar (geb. 30.04.1901), August (geb. 04.05.1904) mein Vater, Hermann (geb. 23.02.1906), Katharina (geb. 30.09.1907) und Margarete (geb. 16.08.1909).
Hochzeit von Tante Katharina. Brautjungfer ist ihre Schwester Magarete.
Dritter von links ist Onkel Josef. Zwischen Braut und Brautjungfer meine Mutter Josefine.
Links neben Josefine mein Vater August.
Die Hochzeit fand 1936 im neuen Elternhaus statt. Ein Jahr später kam der Kindersegen.
Der Patriarch Johann Josef Eser (geb. 1863) mit 74 Jahren im Jahr 1937.
V. l. n. r.: Lina Eser (Frau von Josef Kaspar) mit Sohn Josef, Elisabeth Eser (Frau von Hermann Eser) mit Tochter Barbara, Katharina Schlesinger (geb. Eser) mit Sohn Peter und meine Mutter Josefine Eser mit mir.
Diese fünf Kinder, meine Onkel und Tanten, haben in ihrer Kindheit den 1. Weltkrieg erlebt und Entbehrungen erfahren. In der großen Schulpause waren zu Hause Bratkartoffeln und Kuhmilch vorbereitet. Es gab kein Radio, die Zeitung bestand aus einem Blatt. Man hat sich mit den Nachbarn am vorbeifließenden Pfingstbach getroffen, geschwatzt und gesungen. Wie mein Vater erzählte, habe er in Erinnerung, dass die Familie vor dem 1. Weltkrieg von den Zinseinnahmen habe leben können. Darum hätten die Preissteigerungen vor der großen Inflation 1923 den Vater dazu verführt, den Wein mit Fass zu verkaufen. Die beiden Ältesten, Josef und August (damals 22 und 19 Jahre alt), haben daraufhin das Zepter in die Hand genommen, um das Überleben zu sichern, da sie kein Zutrauen in die Geldgeschäfte des Vaters mehr hatten.
Der Weinbau war zu dieser Zeit von Handarbeit geprägt. Mit sogenannten Fahrkühen oder Ochsengespannen – wer es sich leisten konnte, hatte ein Pferd – wurden die Rebzeilen bearbeitet. Der Drahtrahmen zur Unterstützung der Reben setzte sich durch. Mit Sichel und Sense musste man die Vegetation zähmen. Im Winter – auch bei Schnee und Frost – wurde der Boden für Neuanlagen systematisch 60–70 cm tief umgegraben, die Steine entfernt und sogenannte Findlinge für den Mauerbau verwandt.
Das Wissen um den Rebenanbau und den Weinausbau wurde vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Vater August – mit einer guten Weinzunge ausgestattet – hat in jungen Jahren mit seinem Bruder Josef Kaspar viel im Weinbau experimentiert und im Keller ausprobiert. Unter den Geschwistern sowie den Cousins wurde viel über den Weinanbau und Ausbau debattiert. Gerätschaften – für uns heute vorsintflutlich – kamen auf den Markt und wie zu allen Zeiten ließen sich Entwicklungen nicht aufhalten. So reifte in den späten 1920er Jahren bei den Gebrüdern Eser die Überzeugung, sich zu „Selbstvermarktern“ zu entwickeln. Die wirtschaftliche Depression Deutschlands zwang, zu „neuen Ufern“ aufzubrechen.
Der Wein wurde dann nicht mehr im Fass verkauft, sondern selbst in Flaschen abgefüllt. Aber nun kam die Herausforderung: Die Flaschen mussten auch verkauft werden! Da war Vater August gefragt. Sein erster Kunde war wohl in Schierstein Familie Horscher vom „Grünen Baum“. Geliefert wurde per Pferdewagen von Onkel Herrmann. Die schriftlichen Aufzeichnungen oblagen Onkel Josef. Tante Katharina verwaltete das Geld. Doch ihre Hauptaufgabe war die Mutterrolle, denn die Mutter Margareta, geb. Nikolai, war bereits gestorben. Tante Katharina hatte bei ihren vier Machos, ihren Vater mit eingerechnet, keinen leichten Stand. Die Herren der Schöpfung bekamen alles vor den Hintern getragen und waren zu hilflos, sich selbst einen Schlips zu binden.
Der eingeschlagene Weg ging erfolgreich weiter. Es kamen immer wieder neue Kunden dazu. Man muss wissen, in den 1930er Jahren gab es keinen Getränkemarkt und auch kein Flaschenbier. Die Gastronomie war der Ansprechpartner für den Privatmann. Entweder man feierte in der Wirtschaft oder man holte sich die Getränke beim Wirt. Der Privatmann war Selbstversorger und hatte im Keller diversen vergorenen Mostvorrat, zum Beispiel Apfelwein. Die Winzer hatten ihren „Bubbes“ oder „Leier“. Dieser durfte für den Eigenverbrauch gemacht werden: Dafür wurden die ausgepressten Weintrauben in Wasser eingeweicht und nach circa 24 Stunden Standzeit erneut ausgepresst. Dann wurde dem Saft Zucker zugesetzt und alles vergoren. Natürlich war auch damals für den gehobenen Anspruch Wein zum Feiern angesagt, den der Wirt dann vermittelte.
Mit der Machtergreifung Adolf Hitlers kam Bewegung in die Volkswirtschaft. Es gab die ersten Autos, wie die von Opel. Die Esers bekamen ein Auto, einen Opel Olympia, Baujahr 1935. Damit wurde der Kundenkreis immer größer. Es ging Richtung Limburg, Westerwald, Siegerland und Rhein-Main-Gebiet samt Frankfurt. Aber in Frankfurt war das „Stöffche“, der Apfelwein, beheimatet und ein starker Konkurrent des Weins.
Aus Erzählungen weiß ich, dass 1934 und 1935 sehr große Weinernten eingefahren wurden. Dementsprechend lagen die Preise für Fassweine am Boden. Erschwerend kam hinzu, dass das neue Regime der NSDAP unter Adolf Hitler Kontakte zu Spanien pflegte. So entstand 1936 die Legion Condor, die General Franco zum Gelingen seines Aufstands inoffiziell helfen sollte. Es kam nach der Machtergreifung Francos zu einem Abkommen zur Lieferung spanischer Weine nach Deutschland. Diese wurden von den Deutschen gut angenommen, sehr zum Leidwesen der deutschen Weinerzeuger. Deshalb wurden die...