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»Menschheitswissenschaft« als Erfahrung des Ortes

Erich Rothacker und die deutsche Kulturanthropologie

AutorFrank Tremmel
VerlagHerbert Utz Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl375 Seiten
ISBN9783831608850
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis38,99 EUR
Erich Rothacker (1888–1965) gehörte neben Martin Heidegger zu den seinerzeit einflussreichsten deutschen Geisteswissenschaftlern. Rothackers Anliegen, eine aus dem Geist der Konkretion und der Anschauung entwickelte „Menschheitswissenschaft“, eine historisch-komparative Formenlehre des kulturellen Lebens, bündelt gleichsam die unterschiedlichsten gedanklichen Strömungen der damaligen Zeit und gibt diesem Werk seinen paradigmatischen Stellenwert in der deutschen Geistesgeschichte.

Die vorliegende Untersuchung beabsichtigt, sowohl wissenschaftsgeschichtlich als auch systematisch, den kulturanthropologischen Erfahrungs- bzw. Wissenschaftsbegriff am Beispiel „Rothacker“ zu rekonstruieren. Dabei wurde in einer Reihe von komparativen Studien die Spezifik dieses Ansatzes in der formativen Phase der deutschen Kulturanthropologie herausgearbeitet. So werden die Grundmuster einer aus dem Historismus heraus entstandenen und im Dialog mit zeitgenössischen philosophischen Positionen weiterentwickelten Kulturanthropologie deutlich.

Rothacker ging es darum, dem historisch-philologischen Verständnis der Menschheit eine Hermeneutik der affektnahen Ausdrucksformen unseres Menschseins zugrundezulegen. Seine anthropologische „Situationssemantik“ liefert einen wertvollen Beitrag zu einer Theorie der geschichtlichen Lagen und der Lebensstile. In Rothackers Werk kommt den konkreten Lebensformen in materialer Hinsicht die Funktion einer Vermittlung zwischen universalen und partikularen Tendenzen der Menschheitsgeschichte zu.

Die deutsche Kulturanthropologie lässt sich insofern als ein spezifisch modernes Phänomen betrachten, vorausgesetzt, wir legen einen Modernitätsbegriff zugrunde, der sich ausdrücklich von Vorstellungen eines linearen Rationalismus verabschiedet, durch den die lokale, leibliche Lebensform als idiosynkratische abgewertet wurde.

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Leseprobe
I. Auf der Suche nach der Philosophie der Geisteswissenschaften (Seite 21)

„Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.“ Diese Bemerkung aus dem Vorwort zu Goethes Farbenlehre kann durchaus als Leitfaden durch das Werk Erich Rothackers betrachtet werden. Ihr entspricht Rothackers auf Anschauung orientierender, Bedeutungen umschreibender und nicht ausschließlich auf Begriffsrealisierung hin angelegter Denkstil. Wir können zwar davon ausgehen, dass sich begriffliche Zusammenhänge als unanschauliche Exaktheit entfalten, aber die eigentliche Grundlage einer kulturwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung ist eine andere. Auch der Marburger Ethnologe und Kulturwissenschaftler Martin Scharfe hat neuerdings in seinen „Erkundungen über Kultur“ darauf hingewiesen, dass dieses methodologische Problem gerade in einer gewissen Entsprechung von Leben und Kultur begründet ist: „[S]o wie das Leben sich letztlich einer exakten begrifflichen Eingrenzung entzieht, ist auch Kultur, wenn man sie in vermeintlich immer und überall gültige Schemata pressen will, schon längst wieder durch die akademischen Finger geglitten.“ Bereits Jakob Grimm hatte in seiner Ansprache vor der Germanistenversammlung in Frankfurt am Main im Jahre 1846 die historisch-philologischen Wissenschaften als „ungenaue Wissenschaften“ bezeichnet. Diese Ungenauigkeit, die der Anschauung als menschlichem Basisphänomen methodologisch gerecht zu werden versucht, ist nun aber bei Rothacker gerade Zeichen eines strengen Denkens und gründet in der Vermutung, dass die Wirklichkeit selbst kein System darstellt und darum auch nicht exakt ist. Was hier angestrebt wird, entspricht vielmehr jener `zarten Empirie´, von der bereits Goethe annahm, dass sie sich auf eine Weise mit ihrem Gegenstand verbindet, die ihm nicht vorschreibt, was und wie er zu sein hat. Ein Denken, das sich bezüglich seiner Mitteilungsform eher dialogisch, poetisch und indirekt entfaltet.
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis8
Einleitung10
1. Abschnitt: Vom Historismus zur hermeneutischen Kulturanthropologie24
I. Auf der Suche nach der Philosophie der Geisteswissenschaften24
II. Wilhelm Diltheys lebensphilosophische Hermeneutik58
III. Phänomenologisch inspirierte Anthropologie: Max Scheler92
IV. Der Übergang zur Kulturanthropologie127
2. Abschnitt: Zur Genealogie der Kultur oder von der Anschauung zur Lebensform162
I. Anthropologie und Wissenschaftstheorie162
II. Grundzüge einer kulturanthropologischen Bewusstseinstheorie198
III. Logos, Pathos und Weltgeschichte238
IV. Gefühl, Phantasie und Kultur278
Schluss: Mit Rothacker über Rothacker hinaus317
Literaturverzeichnis335

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