I. Kapitel
Die begrifflichen Grundlagen
Es gab bisher keine zweite Kultur, welche den Leistungen einer anderen, längst erloschenen so viel Verehrung entgegentrug und wissenschaftlich so viel Einfluss gestattete, wie die abendländische der antiken. Er dauerte lange, bevor wir den Mut fanden, unser eigenes Denken zu denken. Auf dem Grunde lag der beständige Wunsch, es der Antike gleichzutun. Trotzdem war jeder Schritt in diesem Sinne eine tatsächliche Entfernung von dem erstrebten Ideal. Deshalb ist die Geschichte des abendländischen Wissens die einer fortschreitenden Emanzipation vom antiken Denken, einer Befreiung, die nicht einmal gewollt, die in den Tiefen des Unbewussten erzwungen wurde.
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes.
1.1 Einleitung
In einer bestimmten Gegend Nordkanadas zeigt die Fuchsbevölkerung eine auffallende Regelmäßigkeit in der Zu- und Abnahme ihrer Dichte. Im Laufe von vier Jahren steigt sie zunächst zu einem Höchstwert an, beginnt dann abzusinken, erreicht einen kritischen Tiefpunkt und beginnt schließlich wieder anzusteigen. Ein Grund für diese Periodizität ist weder im Einzeltier noch in der sozialen Organisation der Gattung zu finden. Erst wenn – wie es heute selbstverständlich ist – die unmittelbare Umwelt einbezogen wird, zeigt es sich, dass die in derselben Gegend lebenden wilden Kaninchen identische Phasen durchlaufen, die allerdings gegenüber denen der Füchse um zwei Jahre verschoben sind: Dem Höchststand der Fuchsbevölkerung entspricht der Tiefstand der Kaninchen und umgekehrt. Da die Füchse fast ausschließlich von Kaninchen leben und diese kaum einen anderen natürlichen Feind haben als die Füchse, erweist sich der Vierjahreszyklus als eine Interferenzerscheinung des Zusammenlebens dieser beiden Gattungen: Je zahlreicher die Füchse, desto mehr Kaninchen werden gefressen; je weniger Kaninchen, desto weniger Nahrung ist für die Füchse vorhanden, und desto weniger Füchse überleben und pflanzen sich fort, was für die Kaninchen eine Schonzeit bedeutet und ihre Zahl rasch wieder ansteigen lässt.
Unter den während des Krieges in England stationierten amerikanischen Soldaten war die Ansicht weit verbreitet, die englischen Mädchen seien sexuell überaus leicht zugänglich. Merkwürdigerweise behaupteten die Mädchen ihrerseits, die amerikanischen Soldaten seien übertrieben stürmisch. Eine Untersuchung, an der u.a. Margaret Mead teilnahm, führte zu einer interessanten Lösung dieses Widerspruchs. Es stellte sich heraus, dass das Paarungsverhalten (courtship pattern) – vom Kennenlernen der Partner bis zum Geschlechtsverkehr – in England wie in Amerika ungefähr dreißig verschiedene Verhaltensformen durchläuft, dass aber die Reihenfolge dieser Verhaltensformen in den beiden Kulturbereichen verschieden ist. Während z.B. das Küssen in Amerika relativ früh kommt, etwa auf Stufe 5, tritt es im typischen Paarungsverhalten der Engländer relativ spät auf, etwa auf Stufe 25. Praktisch bedeutet dies, dass eine Engländerin, die von ihrem Soldaten geküsst wurde, sich nicht nur um einen Großteil des für sie intuitiv «richtigen» Paarungsverhaltens (Stufe 5-24) betrogen fühlte, sondern zu entscheiden hatte, ob sie die Beziehung an diesem Punkt abbrechen oder sich dem Partner sexuell hingeben sollte. Entschied sie sich für die letztere Alternative, so fand sich der Amerikaner einem Verhalten gegenüber, das für ihn durchaus nicht in dieses Frühstadium der Beziehung passte und nur als schamlos zu bezeichnen war. Die Lösung eines solchen Beziehungskonflikts durch die beiden Partner selbst ist natürlich deswegen praktisch unmöglich, weil derartige kulturbedingte Verhaltensformen und -abläufe meist völlig außerbewusst sind. Ins Bewusstsein dringt nur das undeutliche Gefühl: der andere benimmt sich falsch.
In seinen Untersuchungen über den Einfluss von Gruppen auf Einzelindividuen verwendete Asch [3] eine Versuchsanordnung von eleganter Einfachheit. Er arbeitete mit Gruppen von acht Studenten, die im Halbkreis um den Versuchsleiter herumsaßen und von denen einer nach dem andern anzugeben hatte, welche von mehreren parallelen Linien (allen zugleich auf einer Reihe von Tafeln sichtbar gemacht) gleich lang waren. Sieben der Teilnehmer waren jedoch vorher instruiert worden, bei jeder Tafel einstimmig dieselbe falsche Antwort zu geben. Nur ein Student, die eigentliche Versuchsperson, war nicht eingeweiht und saß so, dass er als Vorletzter an die Reihe kam, nachdem also sechs andere Studenten bereits mit großer Selbstverständlichkeit dieselbe falsche Antwort gegeben hatten. Asch fand, dass unter diesen Umständen nur 25 Prozent der Versuchspersonen ihren eigenen Wahrnehmungen trauten, während 75 Prozent sich in einem kleineren oder größeren Grad der Mehrheitsmeinung unterwarfen, einige blindlings, andere mit beträchtlichen Angstgefühlen.
Diese drei scheinbar wahllos aus der Ethologie, der Kulturanthropologie und der Experimentalpsychologie herausgegriffenen Beispiele haben einen gemeinsamen Nenner: Sie zeigen, dass bestimmte Phänomene unerklärlich bleiben, solange sie nicht in genügend weitem Kontext gesehen werden, oder dass in diesem Fall dem betreffenden Organismus Eigenschaften zugeschrieben werden müssen, die er nicht besitzt. Die Zu- und Abnahme der Füchse würde unerklärlich bleiben, wenn man sie isoliert untersuchte – es sei denn, man wollte den Füchsen zu gewissen Zeiten einen «Todestrieb» zuschreiben. In derselben monadisch beschränkten Sicht ließe sich eine Engländerin unschwer als «hysterisch» oder «nymphomanisch» diagnostizieren (je nachdem, ob sie die Beziehung zum Partner nach dem ersten, für ihn harmlosen Kuss überstürzt abbricht oder sich praktisch zum Geschlechtsverkehr vorbereitet). In den Asch-Experimenten wird offenkundig, dass das Außerachtlassen des zwischenmenschlichen Kontextes der Versuchsanordnung dem Beobachter keine andere Wahl ließe, als der Versuchsperson eine mehr oder weniger schwere Störung ihrer Wirklichkeitswahrnehmung zuzuschreiben und eine psychiatrische Diagnose zu stellen.
Die Phänomene, die in den Wechselbeziehungen zwischen Organismen im weitesten Sinn des Wortes (Zellen, Organe, Organsysteme, komplexe elektronische Netze, Tiere, Personen, Familien, wirtschaftliche oder politische Systeme, Kulturen, Nationen usw.) auftreten, unterscheiden sich grundsätzlich und wesentlich von den Eigenschaften der beteiligten Einzelorganismen. Während diese Tatsache in der Biologie und den ihr verwandten Disziplinen unbestritten akzeptiert wird, fußt die menschliche Verhaltensforschung noch weitgehend auf monadischen Auffassungen vom Individuum und auf der ehrwürdigen wissenschaftlichen Methode der Isolierung von Variablen. Dies wird besonders augenfällig, wenn ein sogenanntes gestörtes (psychopathologisches) Verhalten zum Gegenstand der Untersuchung wird. Werden solche Verhaltensformen in künstlicher Isolierung gesehen, so steht zwangsläufig die Frage nach der Natur dieser Zustände und damit im weiteren Sinn nach dem Wesen der menschlichen Seele im Vordergrund. Wenn aber die Grenzen dieser Untersuchung weit genug gesteckt werden, um die Wirkungen eines solchen Verhaltens auf andere, die Reaktionen dieser anderen und den Kontext, in dem all dies stattfindet, zu berücksichtigen, so verschiebt sich der Blickpunkt von der künstlich isolierten Monade auf die Beziehung zwischen den Einzelelementen größerer Systeme. Das Studium menschlichen Verhaltens wendet sich dann von unbeweisbaren Annahmen über die Natur des Psychischen den beobachtbaren Manifestationen menschlicher Beziehungen zu.
Das Medium dieser Manifestationen ist die menschliche Kommunikation.
Wir werden in der Folge dieselbe Dreiteilung auf das Gebiet der menschlichen Kommunikation übertragen, die Morris [104] und nach ihm Carnap [30, S. 9] für das Studium der Semiotik (der allgemeinen Lehre von den Zeichen und Sprachen) vorgeschlagen haben, nämlich Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Auf die menschliche Kommunikation angewendet, ist das erste dieser drei Gebiete das Anliegen des Informationstheoretikers, der sich mit Problemen der Nachrichtenübermittlung (Code, Kanälen, Kapazität, Rauschen, Redundanz und anderen statistischen Eigenschaften der Sprache usw.) zu befassen hat. Diese Probleme sind vor allem syntaktischer Natur und haben praktisch nichts mit der Bedeutung der verwendeten Symbole zu tun. Bedeutung ist vielmehr das Hauptanliegen der Semantik. Während es durchaus möglich ist, Symbolserien mit syntaktischer Genauigkeit zu übermitteln, so würden sie doch sinnlos bleiben, wenn Sender und Empfänger sich nicht im Voraus über ihre Bedeutung geeinigt hätten. In diesem Sinn setzt jede Nachricht ein semantisches Übereinkommen voraus. Schließlich beeinflusst jede Kommunikation das Verhalten aller Teilnehmer, und dies ist ihr pragmatischer Aspekt. Theoretisch ist somit eine klare begriffliche Trennung der drei Gebiete möglich; praktisch jedoch sind sie natürlich wechselseitig voneinander abhängig. Wie George aufzeigt, ist es «in vieler Hinsicht zutreffend, zu sagen, die Syntax entspreche der mathematischen Logik, die Semantik der Philosophie oder der Wissenschaftslehre und die Pragmatik der Psychologie, doch sind diese Gebiete nicht klar voneinander abgrenzbar» [51, S. 41].
Insofern wird das vorliegende Buch alle drei genannten Gebiete berühren, obwohl es hauptsächlich die Pragmatik, d.h. die verhaltensmäßigen Wirkungen der Kommunikation, zum Thema hat. In diesem Zusammenhang sei von Anfang an darauf verwiesen, dass wir die beiden Begriffe Kommunikation und Verhalten hier als praktisch...