Cité
Die Wiege des Caesar
»Steigen Sie auch bei der Nächsten aus?« fragt mich eine kleine Frau mit schüchternem Stimmchen, während sie mich leicht vorwärtsschubst, um ja nicht ihre Haltestelle zu verpassen. Die Métro bremst mit metallischem Kreischen. Bei der nächsten? Warum nicht? Es wäre doch schön, meine Reise mit der Wiege von Paris, der Île de la Cité, zu beginnen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Insel tatsächlich die Form einer Wiege hat. Der Kern der Hauptstadt, hier ist er. »Der Kopf, das Herz und das Mark von Paris«, schrieb der geistliche Chronist Gui de Bazoches schon im 12. Jahrhundert.
Die Station bohrt sich wie ein Brunnenschacht in den Untergrund der Stadt: Wir befinden uns mehr als fünfundzwanzig Meter unter der Wasseroberfläche der Seine. Wie Jules Verne in seiner Reise zum Mittelpunkt der Erde habe ich den Eindruck, in der Zeit zurückzugehen bis zu den Anfängen. Doch ich brauche keinen Vulkanschlot, um ins Innere einzudringen, keine Nautilus, um unter Wasser zu gelangen: Ich habe die Métro!
Die kleine Dame auf den Fersen, steige ich, immer vier Stufen auf einmal, die endlose Treppe hinauf, die ans Licht führt. Draußen pralle ich an eine kümmerliche Zypresse. Ich drehe mich um – und finde mich vor einem Olivenbaum ohne Oliven wieder … immerhin, ein Hauch von Süden, die diskrete Andeutung einer italienischen Landschaft; mein Ziel ist nicht mehr weit.
Der Blumenmarkt schwappt auf den Métroausgang über, als ob Natur und Vergangenheit verzweifelt versuchten, sich gegenseitig ihre Rechte streitig zu machen. Aber die Mühe ist vergeblich: Zu meiner Linken brummen die Autos in einem unendlichen Strom den Boulevard Saint-Michel hinunter; rechts derselbe kontinuierliche Sog, nur in die andere Richtung, die Rue Saint-Jacques hinauf. Ich habe das Gefühl, mitten auf einer Kreuzung zu stehen. Zwischen den beiden Pulsadern eingeklemmt, von Baron Haussmanns strengen Fassaden der Verwaltungsgebäude aus dem 19. Jahrhundert gesäumt, scheint die Rue de Lutèce um ihr Überleben zu ringen. Ich verlasse diese künstlich anmutende Straße so schnell wie möglich, um an die Seine zu gelangen, die träge ihr bräunliches Wasser vorüberschleppt.
Mit wenigen Schritten bin ich auf den Quais. Ein Stück weiter reihen sich die grünen Boxen der Bouquinisten aneinander. Ich fange genüsslich an zu stöbern, um ein paar alte Bände über die Geschichte meiner geliebten Stadt zu erbeuten. Paris, das ist ein wenig meine Frau; auf jeden Fall ist es eine Frau! André Breton sagt es in Nadja: Die Place Dauphine bildet das Schamdreieck, den Urgrund, an dem alles angefangen hat … Ich würde diese Geburt gerne noch einmal aufleben lassen.
Und wenn das Brummen der Autos für einen Augenblick verstummen würde, die Gebäude mit den grauen Fassaden sich in Luft auflösten? Wenn die Ufer der Seine noch einmal ganz unberührt wären, nur grüne Hänge, schlammiges Moor und Sträucher das Inselchen bedeckten?
*
Im Jahr 701 nach der Gründung Roms, wir schreiben das Jahr 52 vor Christus, gibt es noch nichts auf der Île de la Cité. Keine Spur von diesem Lutetia, das Iulius Caesar in seiner Schrift Der gallische Krieg erwähnt. »Lutetia, Oppidum der Parisii, auf einer Insel der Seine gelegen«, heißt es dort. Das allerdings ist ein kleines bisschen vage. Der Prokonsul hatte ja auch nur einen Tag hier verbracht und war außerdem so sehr damit beschäftigt, mit den gallischen Führern zu verhandeln, dass ihm wenig Zeit für eine Besichtigung blieb. Und als er später die Muße zum Schreiben fand, konnte er von der Stadt der Parisii nur vom Hörensagen erzählen, indem er sich auf Gerüchte und eilig zusammengeschusterte Militärberichte stützte. Er wiederholte, was seine Legionäre zum Besten gaben, die in ihren Beschreibungen ebenfalls recht ungenau blieben.
Da, wo man die große Stadt der Parisii erwartet, war tatsächlich nichts. Die zukünftige Île de la Cité bestand damals noch aus sechs oder sieben Inselchen, auf denen bestenfalls ein kleiner Tempel auszumachen war, ein paar runde Hütten mit Schilfdach und eine Handvoll Fischer, die ungerührt ihre Netze ins Wasser warfen. Jenseits des Flusses, am rechten Ufer, nichts als Sumpflandschaften, im Westen ein dichter Wald. Am linken Ufer noch mehr Sumpf und dahinter eine Anhöhe. Sie sollte später Montagne Sainte-Geneviève genannt werden, Berg der heiligen Genoveva. Um die große gallische Ansiedlung zu finden, müssen wir dem Fluss folgen. Zu jener Zeit war er die Straße, erst unter römischer Herrschaft würden ordentliche Landwege entstehen. Besteigen wir also einstweilen eines dieser Schiffe, mit denen die Gallier sich fortbewegten: Das längliche, zerbrechliche Bötchen aus geflochtenen Zweigen schießt blitzschnell über das Wasser.
Die Barke war für die Stämme, die sich hier niedergelassen hatten, das althergebrachte Transportmittel. Es erstaunt also nicht, dass die ältesten Spuren der Sesshaftigkeit aus der Neusteinzeit (5000 vor Christus) Einbäume sind. Sie wurden erst unlängst auf dem Baugelände für die Einkaufsstraße Bercy Village im 12. Arrondissement entdeckt. Diese Pirogen können im Musée Carnavalet besichtigt werden, das heute das Pariser Gedächtnis beherbergt.
Das wahre gallische Lutetia befand sich fünf, sechs Meilen flussabwärts. Dort beschreibt das Flussbett einen fast geschlossenen Bogen, der für einen zerstreuten Römer durchaus eine Insel andeuten konnte. Und in diesem weiten Mäander tummelte sich eine ganze Stadt, mit Straßen, Handwerkervierteln, Wohnbezirken und einem Hafen. Willkommen in Lutetia, oder genauer, auf Gallisch, in Lucotecia, ein Name, der genauso vage und unsicher ist wie der Standort der Siedlung selbst. Erst Caesar würde für Klarheit sorgen und den Ort Lutetia nennen, womit er das lateinische lutum, Schlamm, dem gallischen luto annäherte, Sumpf. Die aus dem Sumpf Hervorgegangene – gut beobachtet, der Ausdruck trifft den Nagel auf den Kopf.
Von Norden kommend, hatte sich der Stamm am Ufer des Flusses niedergelassen, dem er seinen Wohlstand verdankte. Für ihn war der Fluss eine Göttin, Sequana, die alles Übel heilen konnte, und sie gab dem Wasser, das ganz Lutetia durchfließt, ihren Namen. Der Reichtum, den der Fluss den Menschen bot, war sehr real. Er versorgte sie nicht nur mit dem nährenden Fisch, mit dem Wasser, das den Weizen wachsen, Menschen und Vieh trinken lässt, sondern diente auch als Verkehrsweg. Ihre Goldmünzen, mit dem Gesicht Apollons auf der Kopf- und einem galoppierenden Pferd auf der Zahlseite, zählten denn auch zu den schönsten von ganz Gallien. Außerhalb der Stadt garantierte die fruchtbare Erde den Überfluss der Parisii, die sich als Landwirte, Tierzüchter, Schmiede oder Holzfäller betätigten.
Jahrhundertelang haben die Historiker beteuert, Lutetia habe sich auf der Île le la Cité befunden. Eine winzige Kleinigkeit störte die Gelehrten allerdings: Man konnte graben, wie man wollte, es kam nicht die geringste Spur dieser berühmten gallischen Siedlung zum Vorschein. Pah, sprachen die schlohweißen Häupter, die Gallier haben eben nur Strohhütten gebaut, und das alles ist bei dem großen Drunter und Drüber von militärischen Invasionen und Völkerwanderungen abhandengekommen.
Und richtig, die Insel ist so oft zerstört, wiederaufgebaut und umgestaltet worden, dass sämtliche ursprünglichen Spuren dabei verlorengegangen sind. Und wenn man die Umwälzungen durch Baron Haussmann im 19. Jahrhundert bedenkt, der fast die ganze Cité dem Erdboden gleichgemacht oder umgewandelt hat, kann man sich schlecht vorstellen, hier noch auf ein Relikt der Vergangenheit zu stoßen. Einzige Gewissheit: Wenn man bei der kleinen Grünanlage an der westlichen Spitze der Insel, dem Square du Vert-Galant, sieben Meter hinabsteigt, befindet man sich auf dem Niveau der Zeit der Parisii. Sieben Meter Erhöhung in zweitausend Jahren!
Hat man denn gar nichts gefunden? Das wäre vorschnell geurteilt. Zur Entlastung des Stadtverkehrs wurde die A86 gebaut, die super-périphérique, die Paris in einem großen Kreis umfährt. Die Ausgrabungen, die im Jahr 2003 bei diesen Bauarbeiten vorgenommen wurden, brachten die Reste einer großen, florierenden gallischen Siedlung zum Vorschein, und zwar unter dem Gebiet des heutigen Nanterre westlich von Paris. Alles ist da: Häuser, Straßen, Brunnen, der Hafen und sogar Grabstätten.
Innerhalb der Häuserreihen haben die Archäologen eine freie Stelle entdeckt, umgeben von Gräben und Palisaden: Der Fund eines Bratspießes und einer Kochgabel lässt vermuten, dass es sich um einen Platz handelt, an dem gemeinsame Festmahle abgehalten wurden. Der Standort Lutetias in Nanterre, in der Flussschleife von Gennevilliers – die damals noch viel ausgeprägter war als heute –, wurde gleich einem doppelten Anspruch gerecht: Zum einen bot er geographisch Sicherheit durch den Mont Valérien und den Fluss, zum andern, was noch wichtiger war, einen zweifachen Zugang zum Wasser, Verkehrsachse und Quelle des Reichtums zugleich. Mag den heutigen Parisern das Herz auch noch so sehr bluten: Das erste Lutetia liegt unter der Erde von Nanterre begraben.
Die Kwarisii, das keltische Volk der Steinbrüche, sind hier um das 3. Jahrhundert vor Christus, als sich das keltische K zum gallischen P wandelte, zu den gallischen Parisii geworden. Bevor sie sich an diesem Ort niederließen, waren sie mit ihren Booten so weit herumgekommen, dass sich in der Folgezeit ihre Herkunft und die Legenden, die sich um sie rankten, mit denen anderer Völker vermischten. Um ihren Ahnen etwas mehr...