WEN ODER WAS RESPEKTIEREN WIR?
Eine erste Annäherung
»Der Umgang mit Menschen ist wahrscheinlich das heikelste Problem, das wir zu lösen haben, besonders wenn wir im Geschäftsleben stehen«, schreibt Dale Carnegie im Vorwort zu seinem Klassiker Wie man Freunde gewinnt.6
Der Mann muss es wissen: Carnegie darf getrost als der Inbegriff des erfolgreichen amerikanischen »Selfmademan« gelten; sieben Millionen Menschen hat das Unternehmen Carnegie Training mit seiner Philosophie des gesunden Menschenverstandes seit der Gründung 1912 in 58 Ländern geschult.
Carnegie geht es in erster Linie um die Themen Selbstvertrauen, positive Lebenseinstellung und die Fähigkeit zur Kommunikation – also auch um Respekt: Denn nur wer genug über sich selbst erfahren hat, sich selbst kennt, sich selbst mag und sich selbst vertraut, der schafft auch die Grundlage dafür, andere als gleichwertig wahrnehmen zu können.
Menschen sind als soziale Wesen darauf angewiesen und darauf eingestellt, miteinander auszukommen. So wissen wir schon als Kinder, dass wir uns im sozialen Miteinander zurechtfinden müssen, haben aber keinen blassen Schimmer, wie wir das bewerkstelligen sollen. Wie so vieles im Leben müssen wir auch das lernen.
Im Zuge dieses Lernprozesses kommen wir nicht um die Frage herum, was für uns eigentlich Respekt bedeutet. Wenn das Leben ein Wunschkonzert wäre, wie sollten dann die Menschen um mich herum mit mir umgehen? Wie zeigen sie mir, dass sie mich achten, schätzen – respektieren?
Es fängt schon damit an, dass sich mein Mitmensch genau überlegen sollte, was er mir wie sagt. Er verzichtet darauf, mich abwertend zu kritisieren oder gar zu beschimpfen. Er bemüht sich, mich jederzeit fair zu behandeln. Und er macht sich Gedanken, wie er mir etwas Gutes tun kann, hält mich für kompetent, vertraut mir.
Im Prinzip sind es die kleinen Dinge des Lebens, mit denen für uns der respektvolle Umgang miteinander anfängt. Da sind das höfliche »Bitte« und »Danke«, das Sich-gegenseitig-die-Tür-Aufhalten oder die Tatsache, dass wir im Restaurant die Speisekarte zuerst dem anderen überlassen.
Es geht damit weiter, dass wir den persönlichen Bereich unserer Mitmenschen respektieren. Der Computer unseres Kollegen ist absolutes Tabu für uns, genauso wie der unseres Freundes oder der des Nachbarn.
Wenn Ihr Kind Tagebuch führt, dann ist das nicht die geeignete Lektüre für Sie als Elternteil. Und sollte Ihr Partner den Wunsch äußern, dieses oder jenes Thema jetzt besser zu beenden, dann handeln Sie danach und reden – wenn es unbedingt notwendig ist – am besten ein anderes Mal wieder darüber.
Überhaupt das Gespräch: Wie oft fällt im Plausch im Freundeskreis ein unüberlegtes Wort? Wie oft nennen wir unseren besten Freund einen »faule Socke« oder einen »Messi«? Womöglich sogar dann, wenn er gerade danebensteht: »Na komm schon, Alter, du weißt doch, wie ich das meine …« Diese Abwertung ist bereits ein deutliches Zeichen für mangelnden Respekt.
Alle Menschen um uns herum sind gleichwertig und haben die gleichen Rechte. Wenn Sie selbst respektvoll behandelt werden wollen, dann müssen Sie auch Ihr Gegenüber respektvoll behandeln. Denn Sie wissen ja: Es schallt so aus dem Wald heraus, wie man hineinruft!
Leider ist das Leben aber kein Wunschkonzert. Wir begegnen immer wieder Menschen, die uns eben »nicht gut gesinnt sind«, die uns provozieren, die uns nicht leiden können, die uns vielleicht sogar hassen – aus welchen Gründen auch immer. Und das müssen wir uns dann auch nicht gefallen lassen.
Wenn uns ein Mensch unbeabsichtigt attackiert, weil er vielleicht einen schlechten Tag erwischt hat und sich im Ton vergreift, können wir nonchalant darüber hinwegsehen. Wenn er aber mit seinen Bemerkungen, Kommentaren, Beleidigungen von vornherein darauf aus ist, uns zu demütigen, klein zu machen und unser Tun in Frage zu stellen – dann müssen wir uns etwas einfallen lassen.
Bei Menschen, die vorsätzlich unsere Selbstachtung zerstören wollen, macht es wenig Sinn, sich zu öffnen und allzu großes Verständnis zu zeigen.
Dann heißt es, Abwehrstrategien zu entwickeln, wie sie beispielsweise die Psychotherapeutin Doris Wolf empfiehlt: Übergehen Sie die Bemerkung kommentarlos, senden Sie deutlich ein Stopp-Zeichen, bringen Sie das Gespräch auf eine sachliche Ebene zurück oder setzen Sie Humor ein. Wolf: »Sie können sich selbst mehr innere Stärke verschaffen.«7
Selbstachtung
Der Respekt für den anderen fängt beim Respekt für das eigene Selbst an. Ich muss erst lernen, mich selbst zu achten, bevor ich meine Mitmenschen aufrichtig respektieren kann.
Selbstachtung bildet die Basis für ein glückliches und zufriedenes Leben. Ohne Selbstachtung wären ein positives Selbstwertgefühl und echtes Selbstvertrauen undenkbar. Achte ich mich selbst nicht genug, nehme ich mich selbst nicht wichtig genug, dann frage ich mich ständig, was die anderen wohl über mich denken, gehe, wenn überhaupt, nur zögerlich auf andere Menschen zu und schlucke vieles herunter. Kurz: Es geht mir einfach nicht gut!
Bevor Sie Ihre Mitmenschen respektvoll behandeln können, achten Sie einmal ganz bewusst darauf, wie respektvoll Sie eigentlich mit sich selbst umgehen. Was für eine Meinung haben Sie von sich? Verfluchen und beschimpfen Sie sich im Stillen, wenn Sie einen Fehler gemacht haben, oder beruhigen Sie sich gleich wieder?
Können Sie in liebevoller Weise über sich nachdenken, sehen Sie zuerst die positiven Anteile in Ihrem Charakter oder stellen Sie Ihre Schwächen in den Vordergrund? Verurteilen Sie sich selbst, fechten Sie einen inneren Kampf mit einem anderen Ich aus? Stellen Sie Ihr Selbstbild immer wieder aufs Neue in Frage?
Ein gesundes Ego ist förderlich, ein zu großes Ego hilft Ihnen jedoch nicht weiter. Mir fällt dazu Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray ein. Der reiche und schöne Dorian Gray besitzt ein Porträt, das statt seiner altert und in das sich die Spuren seiner Sünden und Vergehen eingravieren. Während Gray immer maßloser und grausamer wird, bleibt sein Äußeres dennoch jung und makellos schön.
Am Ende bereut Dorian den Hochmut seines Gebets um ewige Jugend, er begreift, dass nichts ihn reinwaschen kann, erst recht keine Selbstverleugnung. Er zerschneidet das Bild, um sich zu befreien. Als die Dienstboten seine Leiche finden, ist sie kaum zu erkennen: verlebt, faltig, widerwärtig. Das Porträt hingegen strahlt wieder Jugend und Schönheit aus.
Seit dem Jahre 2000 bezeichnet das Dorian-Gray-Syndrom das psychische Krankheitsbild, das eigene Altern und Reifen nicht ertragen zu können. Es ist durch exzessiven Gebrauch sogenannter Lifestyle-Produkte der Medizin gekennzeichnet. Diese narzisstischen Wesenszüge – das sind überhöhte Anspruchshaltung, unkritische Selbsteinschätzung, allzu egoistische Einstellung, Neid und Überheblichkeit – nehmen zu in unserer Zeit.
Wir sind uns also einig, dass auf keinen Fall ein zweiter Dorian Gray aus Ihnen werden sollte. Doch schauen Sie sich ein bisschen von ihm ab: Schreiten Sie positiv überzeugt und realistisch beseelt von Idealen wie Erfolg, Glück, Scharfsinn oder Schönheit durchs Leben, ohne dabei gleich in Verblendung abzudriften.
Das ist für viele von uns schon schwierig genug, denn da ist ja diese penetrante innere Stimme, die einem ständig alles miesmacht, die uns klein hält und oft zögern lässt, den entscheidenden Schritt nach vorn zu riskieren, so dass man sein Ziel am Ende nicht erreicht.
Ich habe einen Bekannten – nennen wir ihn Klaus –, für den Selbstzweifel überhaupt kein Thema sind. Klaus marschiert lächelnd und ohne Ängste durch die Welt, er lässt sich anscheinend von nichts und niemandem in seinem positiven Denken erschüttern. Natürlich erleidet auch er Rückschläge, aber es gelingt ihm, das Gute an diesen Entwicklungen zu erkennen, er steht sofort wieder auf, macht weiter. Unermüdlich.
Er hat verstanden: Genau so, wie wir an Lebenssituationen, die wir vorfinden, zunächst einmal nichts ändern können, bis wir gelernt haben, sie so anzunehmen, wie sie sind, genau so kommen wir mit uns und anderen nicht zurecht, wenn wir uns nicht selbst akzeptieren. Klaus ist zufrieden, er wirkt tatsächlich so, als hätte er immerzu eine aufregende Liebesbeziehung – zu sich selbst.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Klaus hält sich nicht für was Besseres, er hat nur ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Er schaut weder auf andere herab, noch hat seine (Selbst-)Zufriedenheit auch nur im Entferntesten mit Arroganz zu tun.
Wer sich mag, überlegt nicht lange, ob andere ihn mögen oder was sie überhaupt von ihm halten. Diese Menschen sind ganz bei sich, machen ihren Frieden mit den kleinen Schwächen und großen Fehlern, die sie wie wir alle mit sich herumschleppen. Sorgen Sie dafür, dass auch Ihre Seele überflüssigen Ballast abwirft und bald nur noch mit Handgepäck unterwegs ist.
Der Weg zum inneren Gleichgewicht ist ein steiniger Weg. Aber auch er beginnt mit dem ersten Schritt. In unserem Falle ist es der Schritt hin zur Achtsamkeit. Sich selbst zu achten heißt, zu sich selbst stehen, in Einklang mit den eigenen Schwächen leben und über sich selbst lachen zu können. Es bedeutet auch, sich Grenzen zu setzen, sich nicht zu verausgaben. Und Auszeiten zu nehmen! Sind wir achtsam, dann sind wir jeden noch so kleinen und unwichtig erscheinenden Augenblick wach und gegenwärtig, dann gelingt es uns, das...