IM REICH DER FEINEN VORSPEISEN
REPORTAGE AUS DEM LIBANON
Morgens früh, sieben Uhr. Noch ist der Himmel über Beirut blassblau mit einzelnen rosa Streifen. In der Küche der 68-jährigen Nayfa breitet sich der klare, intensive Duft von Minze und Petersilie aus. Nayfa sitzt auf dem Boden, vor sich einen Korb, übervoll mit taufrischen Kräutern. Mit routinierten Handgriffen nimmt sie Stängel für Stängel, fasst sie wie einen Blumenstrauß zusammen. Ruhe geht von ihr aus. Ein Bild wie vor Hunderten von Jahren. Der amerikanische Kühlschrank und die Mikrowelle versetzen uns zurück in die Gegenwart.
Tradition und modernes Leben verbinden sich in dieser Küche ganz selbstverständlich. Eine Szene so reich an Kontrasten wie das ganze Land.
Nayfa will dem Besuch aus Deutschland zeigen, wie die echte Tabuleh, der libanesische Petersiliensalat, zubereitet wird. Lebhafte Erklärungen begleiten ihre Handgriffe. Ich verstehe kein Wort. Mein Wortschatz beschränkt sich auf »Salam« und »Marhaba« (Hallo, Guten Tag), »Schukran« (Danke) und »Almani« (Deutsch). Aber Nayfas Gesten verstehe ich: Dieses scheinbar frische Minzeblatt ist nicht frisch genug. Sieh her, so, genau so muss wirklich frische Minze aussehen! Und so muss man den Petersilienstrauß festhalten, die Stiele direkt unter den Blättchen wegschneiden. Das Blätterbündel immer wieder drehen, dabei fest umfassen und dann in engen Abständen »scheibchenweise« abschneiden. Kein Blättchen wird kreuz und quer geschnitten oder gar gehackt. Das ist das Geheimnis. So verliert die Petersilie kaum Saft, bleibt locker und luftig – und unglaublich frisch.
Wenig später wird der Petersiliensalat serviert. Zusammen mit Mutabbal, dem libanesischen Auberginenpüree, und Hummus, der klassischen Kichererbsenpaste. Mit Oliven, taufrischen Blättern von Römersalat und hauchdünnem Fladenbrot. Ich reiße ein Stück Brot ab, um die Tabuleh aufzunehmen, aber Nayfa schüttelt den Kopf und schiebt mir stattdessen den Salat hin. Mohamad erklärt mir später, dass Tabuleh hier traditionell mit Salatblättern gegessen wird, die praktischerweise die Form von Löffeln haben. Das Fladenbrot ist zum Aufnehmen der Pasten gedacht. Sie schmecken besser als alle, die ich bislang probiert habe:
cremig-milder Hummus mit dem leicht herben Geschmack von Sesam und Olivenöl und Mutabbal mit dem rauchigen Aroma von Holzkohle.
Nayfa käme nie auf die Idee, Auberginen im Elektro-Ofen oder in der Mikrowelle zu garen. Stattdessen entzündet sie Stunden vorher Holzkohlen in einem kleinen Grill auf dem Balkon, bis sie unter einer weißlichen Schicht sanft vor sich hinglimmen und den Auberginen das unvergleichliche Aroma geben.
Hier bei Nayfa lerne ich viel über libanesische Familien und ihre Gastfreundschaft. Gutes Essen gehört immer dazu. Die Küche im Libanon gilt als die beste im Vorderen Orient, und die Köche sind als besonders experimentierfreudig bekannt. Einflüsse aus anderen Ländern, z. B. aus Frankreich oder Italien, werden begeistert aufgenommen und in die eigene Tradition integriert.
Nayfa in Festtagskleidung: Auch wenn sie kein Deutsch spricht und ich kein Arabisch – bei Nayfa in Beirut lerne ich viel über libanesische Familien, ihre Gebräuche und ihre unglaubliche Gastfreundschaft.
Ob zu Hause oder im Restaurant, jede Mahlzeit beginnt mit »Jatt Choudr«, einem Teller mit frischen Tomaten, Paprika, Gurke, Radieschen, frischem Thymian und Minze.
Ein Blick von Nayfas Balkon – das Wohnhaus gegenüber signalisiert mit Erkern und Rundbögen neuen Wohlstand.
Gardinenartige Markisen schützen vor Hitze und Lärm und geben den Häusern ein abenteuerliches Aussehen.
Nayfa ist früh aufgestanden. Gleich nach dem Morgengebet hat sie sich auf den Weg gemacht, um die frischeste Petersilie, die aromareichste Minze und die zartesten Frühlingszwiebeln für Tabuleh zu besorgen.
Die ganze Familie arbeitet im Imbisslokal »Ayaam Samaan«, was »Alte Zeiten« heißt. Man ist spezialisiert auf traditionelle, teilweise auch aufwändige Gerichte wie gefüllte Innereien, die zu Hause kaum noch zubereitet werden.
Hier esse ich »Fatteh«, eine köstliche Mischung aus gebratenen Brotstückchen, Kichererbsen und Joghurt, die mit Olivenöl und gerösteten Pinienkernen übergossen und mit Oliven, Zwiebeln und frischer Minze serviert wird.
Der Inhaber des »Ayaam Samaan« ist ein berühmter libanesischer Poet namens Al Shahrour, dessen Dichtkunst so einträglich war, dass er gleich nebenan das nach ihm benannte Restaurant »Al Shahrour« erwerben konnte.
Die traditionellen Mezze werden auch weiterhin nach den überlieferten Rezepten zubereitet: unverfälscht und immer so frisch wie möglich.
Es gibt Restaurants mit üppigen Mezzetafeln mit 40 oder mehr dieser köstlichen kleinen Gerichte und bescheidene kleine Lokale mit höchstens einem Dutzend. Diese Klassiker fehlen jedoch nie: Tabuleh, Hummus und Mutabbal, Falafel, die frittierten Bällchen aus geschroteten Kichererbsen. Fattusch, ein frischer Salat mit geröstetem Brot. Teigtäschchen, gefüllt mit Spinat oder Lammhackfleisch, und Sfiha, die beliebten Minipizzen. Und immer werden sie mit dünnem arabischem Fladenbrot, mit Oliven, frischen Gurken, Tomaten und Zwiebeln serviert. Diese klassischen Mezze kann man überall im Land genießen: in den Touristenzentren, im Sterne-Restaurant an der Küste ebenso wie im kleinen Dorf im Libanongebirge. Da ist z. B. das »Ayaam Samaam«, ein kleines Imbisslokal an der Beiruter Uferstraße. Der erste Eindruck stimmt nicht gerade erwartungsvoll. Die frischen Zutaten jedoch lassen mich Vertrauen fassen. Ähnlich ergeht es mir im »Khalifeh«, einem bekannten und beliebten Lokal, wie Mohamad versichert.
Auf mich wirkt es zunächst sehr schlicht und wenig einladend. Das Ambiente aus Plastikmöbeln und die zu hoch eingestellte Klimaanlage lassen mich bestenfalls mittelmäßiges orientalisches Fast Food erwarten. Doch dann kommt der erste Teller mit frisch aufgeschnittenen Gurken und Tomaten, mit Paprikaringen und dicken Büscheln frischer Minze – wie gerade geerntet. Dafür hat sich das Warten gelohnt. Alles wurde frisch hergestellt: Hummus und Mutabbal, Kibbeh und Fattusch. Der Mixed Grill mit Köfte, Geflügel- und Lammspieß, über Holzkohlen zubereitet, hat ein uriges, rauchiges Aroma.
Es ist die absolute Frische, die mich begeistert. Kein raffinierter, aber durch und durch ehrlicher Geschmack.
Die großen Gläser mit köstlichem eingelegten Gemüse, sauren Gurken, Mixed Pickles und Chilischoten sind nicht nur dekorativ. Zusammen mit Minze und frischem Gemüse machen sie aus einem kleinen Imbiss ein köstliches und gesundes Essen.
Neben den traditionellen Mezze gibt es immer mehr Fast Food. Sehr beliebt sind Falafel, die mit Salat und Tahina in Fladenbrot gewickelt werden. Dazu wird neben den westlichen Softdrinks auch Dschalab, eine Rosinenlimonade, angeboten. Überall entlang der Haupt- und Schnellstraßen wird auf überdimensionalen Plakatwänden geworben. Über der Imbissbude preist ein Teppichhändler seine Produkte als die »Schätze der Kulturen für dein Haus« an.
Die 38-jährige Maria, Gründerin und Eigentümerin des »Soufra Daimeh Food Network« und erfolgreiche Produzentin von Kochshows und -zeitschriften, ist ständig unterwegs. Sie kennt die Küchen der Welt und die besten Restaurants. Doch nach wenigen Tagen in London oder New York fühlt sie sich krank.
»Mir fehlen die frischen Kräuter. Die sonnengereiften Tomaten und Zitronen.«
Sie vermisst das gewohnte gesunde Essen ohne künstliche Aromastoffe und Geschmacksverstärker. Maria nennt es »Mezze-Heimweh«. Ihre Kochshow gehört zu der beliebtesten im Land. Für jeden Chefkoch ist es eine Ehre, bei ihr aufzutreten. Der Beruf nimmt Maria ganz in Anspruch. So bleibt ihr keine Zeit, um all die Köstlichkeiten selber vorzubereiten. Dafür lädt sie Mohamad und mich in ihr Lieblingsrestaurant »Al-Halabi« ein. Die Atmosphäre und das Interieur sind eher westlich-anspruchsvoll. Es sind Details, die darauf hinweisen, dass wir im Orient sind: So tragen beispielsweise junge Männer in traditioneller Kleidung und mit rotem Fez die Wasserpfeifen zu den Gästen an die Tische.
In einer kleinen Nische sitzt eine junge Frau und bereitet hauchdünne Fladenbrote zu. Geschickt wirft sie kleine Teigklumpen zwischen den Händen hin und her, dabei zieht sie den Teig in Windeseile zu einem Kreis von etwa 50 Zentimetern Durchmesser auseinander. Dieser wird auf ein rundes, dick gestopftes Polster geworfen und auf eine gewölbte runde Heizplatte gestülpt. Im Nu sind die Fladen gebacken, zu Viertelkreisen zusammengelegt und in Servierkörben arrangiert. So frisch wird hier das Brot serviert!
Maria bestellt das, was man hier eine »mittlere« Mezzetafel nennt. Lebhaft und stolz erklärt sie jedes einzelne Gericht. Es beginnt mit kleinen Knabbereien: frisch gepalten, süßen grünen Erbsen und Bohnenkernen, dazu...