essay
KNOCHEN AUS GLAS
von roberto saviano
Sein Großvater stammte aus Neapel, Antoine, der Vater seines Vaters, genannt Tony. Der kleine Junge beobachtete ihn, wenn er musizierte, bewegte sich ganz zum Rhythmus der Musik, und alle glaubten, er spiele nur. Seine Eltern gaben ihm nicht den Namen des Großvaters, aber er hatte dessen Talent geerbt. Und Tony bemerkte es als Erster. Sein Vater war »ein sehr ängstlicher Mensch, zurückhaltend, sehr italienisch. Zu Hause durfte man nicht viel über persönliche Dinge und auch nicht über Geld sprechen«, erinnert sich Michel Petrucciani. Sein Großvater war Gitarrist, sein Vater ebenfalls.
Die Familie Petrucciani musste mit dem Gitarrenspiel und Schneiderarbeiten der Mutter drei Kinder ernähren. Manchmal gab es zum Abendessen nur Milchkaffee, aber sonst fehlte es an nichts. Telefon, Auto, schöne Möbel. Eines Tages gab es sogar einen Fernseher. Keinen kleinen, bei dem man sich die Augen verdirbt, sondern einen riesigen. Michel setzte sich davor und sah den ganzen Tag fern. Das Fernsehen nahm ihn völlig gefangen und veränderte ihn für immer.
Als kaum Vierjähriger sah Michel eines Abends ein Konzert von Duke Ellington, weil sein Vater den Fernseher angelassen hatte. In dem Kind ging eine Veränderung vor, die man als eine Art Verzauberung beschreiben könnte. Er wollte unbedingt ein Klavier. Der Vater konnte ihm keines kaufen, obwohl die Familie sehr um Michel besorgt war. Denn er war mit einer Krankheit geboren, die den unaussprechlichen Namen »Osteogenesis imperfecta« trägt. Wenn man diesen Begriff hört, kann sich kaum jemand etwas darunter vorstellen, während ihr volkstümlicher Name im Gegenteil erschreckend bildhaft ist: »Glasknochenkrankheit«.
Michels Knochen sind zerbrechlich wie Glas, sie dehnen sich in den Gelenken, drohen zu brechen und zu splittern. Andauernd, bei jeder kleinsten Bewegung. Die Knorpel schwinden. Bei Michel brachen die Knochen zum ersten Mal am 29. Dezember 1962 in dem hübschen südfranzösischen Städtchen Orange. Es war der Tag seiner Geburt. Michel ist bereits mit gebrochenen Knochen auf die Welt gekommen, und seitdem ging es bei ihm unaufhörlich darum, wie die unzähligen Brüche heilen könnten.
Das Klavier, das ihm sein Vater schließlich schenkt, ist verstimmt und klingt ganz anders als in dem Konzert von Duke Ellington. Der kleine Michel macht es kaputt wie ein Spielzeug, das nicht funktioniert. Deshalb besorgt ihm sein Vater ein Klavier bei der amerikanischen Militärbasis, wo manchmal die alten Klaviere ausgemustert werden. Michel, der zu Hause unterrichtet wird und die Lehrer mit seiner Frechheit zur Verzweiflung bringt, bekommt Klavierstunden. Zehn Jahre lang erhält er eine klassische Ausbildung am Konservatorium, die er mit einem Diplom abschließt. Jazz darf er nur als Sport betreiben. Dahinter steckt der sehr reale, praktische Gedanke, dass Jazz seine Muskeln stärken kann, die seine schwachen Knochen zusammenhalten. So setzt man Michel ans Schlagzeug und er tritt mit seinem Vater und seinen Brüdern auf.
Michel Petrucciani leidet an einer seltenen Krankheit, die ihm unendliche Schmerzen bereitet und seine ganze Kindheit mit ständigen Krankenhausaufenthalten überschattet; er bleibt ein Zwerg. Als Erwachsener misst er kaum einen Meter und wiegt zwischen fünfundzwanzig und zuletzt vierzig Kilo, als sein Bauch schon weiter vorstand als sein Kinn. Monate im Bett, der Körper im Gipsbett, das Rückgrat im Stützkorsett, der Hals fixiert. So verbringt Michel die endlosen Zeiten der Bettlägerigkeit damit, das Einzige zu betrachten, das an seinem Körper nicht zerbrechlich ist: die Hände. Seine Hände sind sogar ziemlich groß. Seine Hände sind sein Schicksal. Der einzige Teil seines Körpers, mit dem er sein Leben gestalten kann, um sich nicht unterkriegen zu lassen. Mit seinen Händen kann er die Spielregeln ändern. Etwas entstehen lassen. Das Klavier ist sein Territorium, die Hände seine Waffen. Wenn er auf dem Klavierschemel sitzt, reichen seine Füße nicht bis zu den Pedalen am Boden. Sein Vater konstruiert ihm aus Holz eine Art bewegliches Parallelogramm, damit Michel die Pedale bedienen kann.
Sobald er achtzehn wird, sucht Michel das Weite. Von Paris aus, wo er seine ersten Konzerte gegeben und erste Erfolge erzielt hat, fliegt er, ohne ein Wort Englisch zu können und ohne Geld für die Reise, in die USA. Angesichts der vollendeten Tatsachen sorgt Tony dafür, dass der Scheck, den Michel auf dem Weg in das Geburtsland des Jazz heimlich an sich genommen hat, gedeckt ist. Dort wird er als der genialste nichtamerikanische Jazzmusiker empfangen und als einer, dem ein Platz unter den Großen gebührt.
Petrucciani geht nach Big Sur, an die wilde Küste Kaliforniens, wo Kerouac und Henry Miller gelebt haben. Hier ließ Orson Welles für sich und seine Frau Rita Hayworth eine riesige Villa errichten. Michel nistet sich im Haus eines bettelarmen Freundes ein und wird von der ansässigen Hippie-und Künstlergemeinde als einer der ihren aufgenommen.
Michel schlägt sich damit durch, dass er für Kost und Logis täglich einige Stunden in einer Privatklinik für Superreiche Klavier spielt. Er begegnet Erlinda Montaho, in die er sich so heftig verliebt, dass er um ihre Hand bittet. Sie aber willigt schließlich nur ein, damit er die Greencard bekommt. Eine ähnliche Geschichte wie in dem gleichnamigen Film, bemerkt Petruche später, allerdings mit dem Unterschied, dass Gérard Depardieu kein Zwerg und Andie McDowell keine Navajo-Indianerin ist. Das Leben überflügelt die Fantasie, und bei Michel Petrucciani tut es das in großem Stil.
Eines Tages wird er mit Charles Lloyd bekanntgemacht, einem der größten Saxofonisten aller Zeiten. Dieser selbstquälerische schüchterne Musiker hatte in einem Quartett mit Keith Jarrett große Erfolge gefeiert. Dann aber hängte er plötzlich sein Instrument an den Nagel, weil ihn die Welt der Plattenfirmen und Musiker abstieß. Er zog sich in die Einsamkeit der Natur zurück, um zu meditieren, und arbeitete als Immobilienmakler. Die Berühmtheit seines Kollegen am Klavier war einer der Gründe für seinen Rückzug, und deshalb wird Lloyd neugierig, als der seltsame Gast sagt, er sei Pianist. Bei den Konzerten hilft Erlinda ihrem Mann, der so viel wiegt wie ein dreijähriges Kind, auf die Bühne, und auch im Hause Lloyds nimmt sie ihm die Krücken ab und setzt ihn so, dass er spielen kann. Charles Lloyd ist von Michels Musik gefesselt. Bereits wenige Tage später hat er ein Konzert in Santa Monica organisiert, bei dem beide zum ersten Mal gemeinsam auftreten. Der ungefähr dreißig Jahre ältere Saxofonist trägt seinen Mitspieler im Arm herum und stellt ihn überall als das »Wunderkind aus Frankreich« vor, das ihn dazu gebracht hat, wieder auf die Bühne zurückzukehren. Ein seltsames Wunder, das wie ein kalifornischer Mythos klingt, wäre Michel mit seinem unverwüstlichen Humor und seiner mediterranen Vitalität nicht genau das Gegenteil. Petrucciani lässt das Talent von Charles Lloyd wieder aufleben, der ihn seinerseits der Welt bekannt macht.
Als die beiden 1982 beim Festival von Montreux auftreten, hat Petruccianis Karriere gerade erst begonnen. Von diesem Zeitpunkt an feiert er in der ganzen Welt triumphale Erfolge, seine Technik verbessert sich ständig, und seine Musik wird freier und reicher. Er improvisiert oder komponiert, ausgehend von den Themen großer Jazzmusiker wie Bill Evans oder Miles Davis, aber auch von volkstümlichen Liedern wie Besame mucho.
Petruche erreicht alles und spielt mit Jazzlegenden wie Dizzy Gillespie und Wayne Shorter, mit Stan Getz und Sarah Vaughan, mit Stephane Grappelli und vielen anderen. Er gibt Konzerte in der Carnegie Hall in New York und vor Papst Johannes Paul II. Seine Diskografie umfasst etwa dreißig Alben der bekanntesten Labels, und in Paris wird er mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet. Alles innerhalb von weniger als zwanzig Jahren. Als könnte nichts ihn aufhalten, als sprudle in diesem kleinen zerbrechlichen Körper eine unerschöpfliche Quelle.
Wenn er spielt, scheint er manchmal zu ersticken, gewürgt von der Position, die er an der Tastatur einnehmen muss. Dann hebt er, ganz gefangen von seinem Spiel, den Kopf, als würde er auf eine imaginäre Partitur blicken, die nur er lesen und nur er so schnell verändern kann. Er streckt die Zunge heraus, als müsste er nach Luft schnappen und sich konzentrieren. Auch Michael Jordan, der größte Korbjäger der amerikanischen NBA, hatte die Angewohnheit, wie ein durstiger Hund die Zunge heraushängen zu lassen. Petruccianis Zunge ist kleiner, aber sie zeigt sich im Augenblick des größten Pathos, der höchsten Konzentration, wenn er nach Atem ringt.
Michels Spiel versetzte die Welt in Staunen. Einfache Gemüter glaubten, er sei nur bekannt als eine Art geschickter Krüppel, aus dem trotz allem ein guter Pianist geworden war. Wahr ist genau das Gegenteil. Er war ein großartiger Jazzpianist, und der bizarre Anblick der Verrenkungen seines...