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E-Book

Flucht über den Himalaya

Tibets Kinder auf dem Weg ins Exil

AutorMaria Blumencron
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783492956345
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
»Wenn Mütter ihre Kinder über das höchste Gebirge der Welt ins Exil schicken, ohne zu wissen, ob sie einander jemals wiedersehen, kann etwas im Schneeland nicht stimmen ...« Rund 1000 Kinder aus Tibet fliehen jedes Jahr über die eisigen Pässe des Himalaya. Oft können sie kaum noch weiter und kämpfen gegen Schnee, Hunger und Erschöpfung. Ihr Ziel sind die Schulen des Dalai Lama in Nordindien. Dort, so hoffen ihre Eltern, erwartet sie eine bessere, freie Zukunft. Die engagierte Dokumentarfilmerin Maria Blumencron hat sechs Kinder auf ihrer Flucht begleitet. Mit ihrer abenteuerlichen, mitfühlend erzählten Geschichte macht sie zugleich auf die Missstände im besetzten Tibet aufmerksam.

Maria Blumencron, geboren 1965 in Wien, arbeitet als Filmemacherin und Schriftstellerin. Ihr ZDF-Film »Flucht über den Himalaya« wurde mehrfach mit deutschen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Begegnung mit den Kindern im Himalaya hat ihr Leben verändert. In Dharamsala hat sie nun eine große tibetische »Familie« und in Köln mit dem Kameramann, der sie damals begleitete, einen kleinen Sohn. Zuletzt erschien von ihr »Das Wunder von St. Petersburg. Rußlands Kinder und die Macht der Phantasie«.

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Leseprobe

Little Pema, das Khampa-Mädchen


»Meine Mutter hat lange Haare. Sie ist zierlich und sehr schön. Sie hat auch ein gutes Herz, und was sie kocht, schmeckt wunderbar. Ich vermisse sie und sehe sie jeden Tag in meinen Gedanken. Sie trägt immer eine Chuba, singt viel und kennt lustige Witze. Das Besondere an meiner Mutter ist, daß sie die Fähigkeit besitzt, in die Zukunft zu sehen. Dazu verwendet sie Würfel, heilige Texte und Gebete. Sie betet immer abends, und ich weiß noch all ihre Gebete auswendig.

Meinen Vater mochte ich nicht. Denn er trank Alkohol und schlug meine Mutter. Er schlug auch mich. Nur meinen kleinen Bruder schlug er nicht. Wenn er mich schlug, weinte meine Mutter.« LITTLE PEMA

Startet der Vater das Moped, um nach Chamdo zu fahren, stehen sie alle in der Tür und hoffen, daß er die alte Rostlaube zum Laufen bekommt. Der Großvater murmelt seine Mantras, die Mutter nestelt nervös an den weiten Ärmeln ihrer Chuba, die Kinder kauen an ihren Nägeln. Dreimal tritt Vater mit seinen spitzen Stiefeln ins Pedal, dann endlich heult der Motor auf. Er schwingt sich auf den Sattel, lenkt die stotternde Maschine auf den Schotterweg und verschwindet grußlos hinter den Hügeln. Haben sie Pech, gibt das Moped seinen Geist auf, und Vater kommt fluchend zurück, die Maschine schiebend und tretend im Wechsel. Doch diesmal hört die Familie erleichtert, daß das Knattern immer leiser wird, je weiter sich der Vater aus ihrem Leben entfernt. Wenigstens für ein paar Tage.

Dann holt der Großvater seine Felle aus dem Stall, und die Mutter läuft ins Haus, um alle Fenster zu öffnen: Frischer Wind soll durch die niedrigen Zimmer wehen und alle bösen Worte, die in den letzten Wochen fielen, vertreiben. Little Pema fegt den Boden blank, klopft im Hof den Teppich aus, der kleine Bruder füllt die silbernen Opferschalen mit frischem Wasser. Langsam kehrt wieder Friede im Haus ein.

Doch nachts steht er plötzlich wieder an ihrem Bett. Ein großer schwarzer Schatten in der Dunkelheit. Little Pema ruft nach ihrer Ama, die im gleichen Zimmer schläft, aber die Kehle, zugeschnürt, hält jeden Ton darin gefangen. Gleich zerrt die eiserne Hand sie unter der warmen Decke hervor. Manchmal würgt er sie am Hals. Manchmal ist der Dolch ganz stumpf, den er ihr mitten ins Herz stößt. Manchmal, und das ist der schlimmste aller Träume, fühlt sie sich in die Höhe gerissen und in eine dunkle Schlucht geschmissen. Bevor sie unten, am tiefsten Grund ihrer Ängste aufschlägt, wacht Little Pema auf. Mit gelähmten Gliedern und einem sausenden Schmerz im Bauch.

Dann ist das gute Schaffell naß, und Little Pema schämt sich.

»Ama«, flüstert sie in die Dunkelheit, »es ist schon wieder passiert.«

Wird Ama wach, dann hört sie ihre Decken rascheln:

»Ts’uu-sch’oh, Pema-la! – Komm zu mir, liebes Kind.«

Im Sommer duftet Amas Haar nach Kräutern und Gerste. Im Winter riecht es nach Herdfeuer und Schnee. Die Frauen im Dorf tragen ihre Zöpfe unter bunten, karierten Tüchern versteckt. Doch Little Pemas Ama ist anders. Zwar melkt sie die Yakkühe am frühen Morgen. Sie holt auch das Wasser vom nahen Fluß und röstet in einer riesigen Pfanne die goldgelbe Gerste zu Tsampa. Mittags kocht sie Reis mit Gemüse und Brei für den zahnlosen Alten. Die Yakfladen, die in der Sonne zu Brennmaterial getrocknet sind, wirft sie gekonnt über die Schulter in ihren Weidenkorb. Sie flickt den Blasebalg, mit dem der Alte das Herdfeuer am Lodern hält, sie flickt den Reifen des klapprigen Fahrrads, wenn sie in die Stadt fahren muß, um ihre Schaffelle zu verkaufen. Sie flickt das Loch im Dach und auch den Riß im kupfernen Teekessel. Nur die Löcher in Little Pemas Strümpfen bleiben ungeflickt.

»Kang-schug nyingpa«, rufen deshalb die tibetischen Kinder in Little Pemas Klasse: »Alte Socke!«

Und abends, wenn die anderen Mütter Gute-Nacht-Geschichten erzählen – von Felsdämonen und türkisspeienden Drachen – reitet Little Pema mit ihrer Ama über die Weiden, um Yaks und Schafe in den Pferch zurückzutreiben. Diese milden Stunden im Sattel, an Amas Rücken gelehnt und die Hände um ihre Hüften geschlungen, sind die schönsten des Tages.

»Tscho, Tscho, Ho!« Ama kann pfeifen wie ein Mann, und auch die Tiere gehorchen ihr.

Heute hat Ama ihr Pferd viel weiter laufen lassen als sonst. Sie ritten bis zu einem Hügel, der noch höher war als der höchste Hügel ihres Dorfes. Als Amas Pferd die Kuppe erreicht hatte, breitete sich das Land vor ihnen aus wie ein prächtig bestickter Wandteppich. Es war die kurze Stunde vor dem Sonnenuntergang, der die Wiesen so grün und die Berge so nah erscheinen läßt.

»Hinter diesen Bergen  …«, flüsterte Ama und deutete auf das endlose Spiel von Hügeln, die sich verliebt ineinandertürmten, »hinter diesen Bergen und noch viel, viel weiter weg liegt Indien.«

»Indien«, Little Pema ließ das Wort über ihre Zunge schnalzen. Eine seltsame Stille hatte das Land erfaßt.

»In Indien ist es sehr warm. Dort gibt es Elefanten, Affen und riesige Schlangen! Indien ist ein freies Land. Es ist nur von Bergen und Meer umgeben.«

»Wie sieht es aus, das Meer?«

»Das Meer ist ein See ohne Ufer. Ein riesengroßes Land aus Wasser und Wellen.«

Little Pema schwieg. Angestrengt versuchte sie sich einen See ohne Ufer vorzustellen.

»Ich bin keine gute Mutter für dich, denn ich muß Mutter und Vater sein. In Indien lebt die beste Mutter der Welt! Die Schwester des Dalai Lama. Sie ist die Mutter aller Kinder im Exil.«

»Du bist die beste Mutter für mich.«

»In Indien wärst du sicher vor deinem Vater.«

Little Pema machte sich steif in Amas Arm.

»Es liegt nicht an dir, daß er dich schlägt«, fuhr die Mutter fort, »es liegt an der Leere in seinem Leben. In seinem Herzen ist er ein guter Mann. Doch der Alkohol hat seine Seele ruiniert. Er schlägt uns, weil er verzweifelt über sein verpfuschtes Leben ist.«

Es ist nicht üblich in ihrer Familie, über Gefühle zu reden. Die plötzliche Offenheit der Mutter verwirrte das Kind. Manches im Leben ist besser auszuhalten, wenn man nicht daran denkt. So wie der Großvater die Folter ertrug, erträgt sie die Schläge des Vaters. Doch Amas überraschende Worte fallen bis auf den Grund ihres Herzens. Darauf war sie nicht vorbereitet. Sie wünschte zu schreien – so laut, daß alle Vögel erschrocken aus den Gräsern hoch in den Himmel fahren. Gleich würde sie vom Pferd fallen und nur noch weinen – mit dem Gesicht zur Erde. Sie würde sich in die Hügel, die weiten Täler und Berge hineinweinen.

Ihr Schmerz war ein See ohne Ufer. Ein Land aus Scherben und Tränen.

Durch die Ritzen der Tür pfeift leise der Wind und löscht die letzte Glut des Feuers aus. Nun ist es ganz dunkel im Zimmer. Little Pema spürt, wie es in der weichen Mulde, die Po und Rücken in das Fell gegraben haben, allmählich klamm wird. Sie beschließt, durchzuhalten diese Nacht. Sie ist doch schon bald sieben! In der Seitenlage fühlt es sich vielleicht weniger feucht an.

Durch das Fenster kann sie die Sterne funkeln sehen. Wenn Großvater von seiner Zeit im Gefängnis erzählt, sagt er immer: »Mit leerem Magen dauern die Nächte lang.«

Mit nassen Hosen auch, denkt Little Pema und lauscht dem rasselnden Atem des Alten. Wenn der Vater im Haus ist, wohnt Großvater im Stall. »Lieber schlafe ich bei den Viechern als mit diesem Hurensohn unter einem Dach!« Übersiedelt Großvater zurück an das warme Plätzchen hinterm Herd, bringt er mit seinen Fellen auch wieder eine ganze Armee von Flöhen ins Haus. Wenn Little Pema seine krummen Zehen krault, schnurrt Opa wie ein alter Kater.

»Du mußt sehr lieb sein zu Großvaters Füßen«, hat Amala einmal gesagt. Denn als Großvater sich im Gefängnis weigerte, den Dalai Lama eine ›Schlangenzunge‹ zu schimpfen, mußte er eine Winternacht lang auf dem Gefängnishof stehen. Eiskaltes Wasser haben ihm die Wärter über die bloßen Füße geschüttet. Und als er auf dem Beton festgefroren war, haben sie mit ihren Gewehren Löcher in die Luft geschossen und gedroht, auch ihn zu durchsieben, wenn er nicht endlich Beine mache. Als Großvater nicht von der Stelle kam, haben sie gejohlt und ihn schließlich mit Gewalt von der Stelle gerissen.

Großvaters Geschichten waren immer schaurig und schön. Doch seit einiger Zeit redet er nicht viel. Er fürchtet, daß die Zeit nicht mehr reicht, um genügend Mantras für die Verfehlungen seines Lebens zu beten. Wenn Amala spätabends die Löcher in den Zäunen repariert, hockt Little Pema mit Großvater im Dämmerlicht und staunt, mit welcher...

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