1 Ein kurzer Ausflug zum Ende
Ein Urknall. Unter der linken Hand, mit der ich mich abstütze, löst sich eine Felsplatte. Sie fällt auf meinen linken Fuß und bringt mich aus dem Gleichgewicht. Reflexartig versuche ich, mich irgendwo am Fels festzuhalten. Nichts. Da ist nichts. Alles rutscht. Es geht ab.
Im letzten Moment ein blitzartiger Gedanke: Spring ab! Ich drehe mich um 180 Grad, schaue in den Abgrund und drücke mich mit beiden Beinen ab. Alles kommt auf mich zu. Keine Zeit mehr zu denken. Nur noch reagieren. Ich lande in eine steile Felsplatte hinein. Zuerst mit den Beinen, dann mit dem Hinterteil, und es geht weiter. In weitem Bogen werde ich nach vorne katapultiert, segle durch die Luft … Eine Explosion, ich schlage ein.
15. September 2005, 12.35 Uhr. Ich lebe noch – nach insgesamt sechzehn Meter Fallhöhe.
Seit zwei Wochen waren Thomas und ich im kalifornischen Yosemite Valley, wie schon so oft während der letzten zehn Jahre, in denen dieser Nationalpark fast schon zu unserer zweiten Heimat wurde. Die donnernden Wasserfälle sind für Millionen von Touristen, die jedes Jahr das Yosemite besuchen, die Hauptattraktionen. Für uns Kletterer sind es vor allem die beeindruckenden Felsberge wie der Half Dome und der El Capitan, die majestätisch über dem Tal thronen. Sie machen das »Valley«, wie es kurz genannt wird, seit über hundert Jahren zu mehr als einem unvergleichlichen Naturschauspiel: Tausende Kletterer kommen hier jedes Jahr zusammen, um in ihren senkrechten Wänden das Abenteuer zu suchen – eine weltweit einzigartige Ansammlung wilder Granitfluchten, ein Mekka des Klettersports.
Die herausragende Wand im Yosemite ist zweifellos die des El Capitan, und die bestechendste Linie an dieser Wand ist die »Nose«: die wohl berühmteste Felsroute der Welt. Genau auf dieser Route wollten Thomas und ich uns die schnellste Begehung holen. Speed-Klettern. Klettern auf Zeit. Normalerweise kommt es beim Bergsteigen nicht auf die Zeit an, denn zunächst geht es darum, eine Wand überhaupt zu durchsteigen, den Gipfel zu erreichen. Doch nachdem alle Gipfel bestiegen und alle Wände erklettert waren, begannen die Kletterer, neue Herausforderungen zu suchen. Es liegt in der Natur des Sports, dass mit fortschreitender Zeit die Leistungen immer extremer werden, dass man immer schneller, höher und weiter geht. Auch an den Bigwalls im Yosemite begann das Rennen. Und das Klettern wurde immer schneller: Tag um Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute wurden bei den Begehungszeiten herausgeschunden, ein Rekord nach dem anderen wurde gebrochen, und spätestens in den Neunzigerjahren entwickelte sich eine beständige Speed-Szene, eine Horde junger Wilder, die ein ums andere Mal antraten, um bestehende Rekorde zu brechen.
Ein Jahr zuvor hatten wir auf der Route »Zodiac« mit einer Stunde, 51 Minuten und 34 Sekunden nicht nur einen neuen Rekord aufgestellt, sondern auch die schnellste Begehung überhaupt am El Capitan gemacht. Trotzdem waren wir noch nicht zu hundert Prozent zufrieden. Die altehrwürdige »Nose« ist die Rennstrecke schlechthin – der Speed-Rekord an der »Nose« ist das absolute Highlight, ist der Rekord, der alle anderen in den Schatten stellt. Erst mit einem Rekord an der »Nose« würden wir am Ziel sein, unser letztes großes Ziel im Yosemite abgeschlossen haben.
Außergewöhnlich war aber nicht nur das Ziel. Mit dabei war nämlich auch noch eine vierzehn Mann starke Filmcrew, die unser Projekt als Anlass für eine Dokumentation im Kinoformat genommen hatte. Schon daheim merkten wir an den vielen Vorbereitungen, dass die Welt des Films für uns Neuland bedeuten würde. Und zwar in jeder Hinsicht. Thomas und ich sind ja keine Schauspieler, und auch wenn wir die Anwesenheit einer Filmkamera von anderen Produktionen her schon kannten, hatten wir nicht den Hauch einer Ahnung, wie viel Arbeit da auf uns zukommen würde. Vierzehn Filmleute zu koordinieren ist für den Produktionsleiter sowieso schon eine Herausforderung – umso mehr, wenn sie sich am Berg, vielmehr in einer senkrechten Wand, bewegen.
Bei unserer Ankunft in San Francisco waren Thomas und ich noch allein und machten uns in einer lauen Septembernacht auf den Weg ins Valley. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm. Eine letzte ruhige Nacht in irgendeinem kleinen Straßenmotel. Die leise Vorahnung, dass es bald rundgehen würde.
Am nächsten Morgen um neun sollten wir dann eigentlich an einer Tankstelle direkt am Taleingang des Yosemite auf die versammelte Filmcrew treffen. Doch keiner kam. Nicht um neun Uhr, nicht um zehn, und nachdem wir dann um elf immer noch warteten, versuchte ich vergeblich, in Europa irgendjemanden von der Filmproduktionsgesellschaft ans Telefon zu bekommen. Gerade als ich die fünfte Nummer ins Telefon hackte, kam Pepe Danquart, der Regisseur. Kommunikation perfekt – die Crew wartete an einer Tankstelle außerhalb des Nationalparks, während Thomas und ich locker und lässig an den Jungs vorbei ins Valley gerauscht waren.
Genauso turbulent ging es dann weiter. Das lag weniger an einer chaotischen Organisation, sondern vielmehr an der komplexen Situation: Mitten in einer Tausend-Meter-Wand zu filmen ist produktionstechnisch der Super-GAU. Drei Kameramänner und ein Toningenieur sollten in der Senkrechten sein, eine Kamera samt Assistenten und Regisseur wahlweise am Einstieg oder am Gipfel. Zelte, Schlafsäcke, Wasser und Proviant hatten zu jeder Zeit in ausreichender Menge am richtigen Ort zu sein. Und vor allem: die horrend schwere und teure Filmausrüstung. Das alles zu guter Letzt noch mit einigen Filmleuten, die nur wenig Erfahrung mit der Materie Berg hatten. Eine logistische Monsteraufgabe, so schwer zu lösen wie ein gordischer Knoten.
Mit jedem Tag der Filmarbeiten verfinsterte sich trotz des dauerblauen kalifornischen Himmels die Stimmung. Es gab kaum Tage, an denen wir den veranschlagten Drehplan erfüllen konnten, und unter dem Leistungsdruck wuchsen die Spannungen. Die Nerven lagen blank. Jeder wusste, dass es schwierig werden würde, und immer öfter wurde heftig diskutiert. Bei einer derart komplexen und unübersichtlichen Aufgabenstellung gab es Hunderte von Lösungsmöglichkeiten. Jeder verfügte über Kompetenz auf seinem Gebiet, trotzdem musste letztlich alles koordiniert sein. Noch dazu gab es kaum Tage, an denen die gesamte Crew im Tal versammelt gewesen wäre. Waren die einen am Berg, befanden sich andere auf dem Weg nach oben, wieder andere auf dem Weg nach unten, und noch weitere holten Kamera-Equipment aus San Francisco.
Die Situation war gewöhnungsbedürftig für uns. Sicherlich ist auch eine Expedition an den großen Bergen der Welt komplex, doch der Berg an sich ist eine klare Aufgabe – während ein Dokumentarfilm sich erst am Ende als feststehendes Produkt in seiner endgültigen Form zeigt. Darüber hinaus sind die Mittel, die wir zum Bergsteigen einsetzen, überschaubar, passen zumeist in einen einzigen Rucksack. Und: Bei einer modernen Expedition sind wir Kletterer selbst am Werk. Jeder ist mittendrin, ist voll dabei. Jeder macht alles. Jeder gibt alles.
Der erste Drehtag in der Wand wurde zu einem endlosen Warten. Es war zwar alles gut vorbereitet, die Kameras und der Ton waren schon vor Ort, bis Thomas und ich am Einstieg der »Nose« auftauchten. Bis dann allerdings eine Einstellung gefilmt werden konnte, dauerte es eine halbe Ewigkeit. Meist waren es nur kleine Details, die korrigiert werden mussten, aber in der Senkrechten dauert eben alles länger. Das eine Mal war das Seil im Bild, das andere Mal der Toningenieur, dann wiederum war die Position zu unstabil. Am Boden eine Frage von Sekunden – in der Senkrechten wurden es Minuten, die sich zu Stunden addierten. Doch jeder versuchte sein Bestes. Als Team mussten wir auch einfach erst Erfahrung gewinnen. Das waren unverrückbare Tatsachen, die wir zu akzeptieren hatten. Aber es fiel uns schwer.
Noch nie hatten Thomas und ich zugelassen, dass sich irgendetwas zwischen uns und unser sportliches Ziel stellt. Die Motivation ist der Schlüssel zu jedem Erfolg. Sie ist wie eine zarte Pflanze, die gehegt und gepflegt werden muss, die nicht das Opfer von Störfaktoren werden darf. Andererseits hatten wir unsere Zusage zu diesem Projekt gegeben und waren von diesem Moment an mit unseren Entscheidungen nicht mehr unabhängig. Neben uns gab es die Produzenten, die ein erhebliches finanzielles Risiko eingegangen waren, dazu Pepe Danquart, den Regisseur, und ein großes Team. Sie alle waren jetzt genauso in dieses Projekt involviert wie wir selbst.
Thomas und ich begannen daran zu zweifeln, ob wir unter diesen Bedingungen überhaupt zum Erfolg kommen konnten. Zu stark wurden wir eingeschränkt, zu wenig konnten wir unseren Plan verfolgen. Thomas und ich sind als Leistungssportler ausgesprochene Egoisten, die es gewohnt sind, alles dem sportlichen Erfolg unterzuordnen. Diesmal jedoch hatten wir Konkurrenz bekommen. Vermutlich waren wir etwas blauäugig gewesen und hatten nicht bedacht, dass Pepe als Regisseur seine Ziele ebenso egoistisch verfolgen muss wie wir. Zwangsläufig prallten unsere Welten aufeinander: die Welt des Films und die Welt des Sports. Auch wir bekamen den Druck, der auf allen lastete, zu spüren. Die Anspannung wurde zum dauerhaften Begleiter, und immer weniger waren wir in unseren...