1. Das «Quadrat der Nachricht»
Das erste der drei nun vorzustellenden gedanklichen Werkzeuge ist das «Quadrat der Nachricht», das ich 1977 und 1981 vorgeschlagen habe und das inzwischen weithin eine wohlwollende Aufnahme gefunden hat. Zur ausführlichen, systematischen Darstellung verweise ich auf «Miteinander reden 1» (1981), hier reicht eine kurze Erinnerung und ein Zuschnitt auf die vorliegende Zielsetzung.
In diesem Kommunikationsmodell steht das im Blickpunkt, was jemand von sich gibt bzw. das, was beim anderen ankommt. Dafür den richtigen Begriff zu wählen, erweist sich als gar nicht einfach, in (fragwürdiger) Anlehnung an die technische und kybernetische Nomenklatur habe ich von der Nachricht gesprochen und an ihr vier Seiten (Aspekte) unterschieden, die immer gleichzeitig mit im Spiele und seelisch wirksam sind:
1. der Sachinhalt, der Informationen über die mitzuteilenden Dinge und Vorgänge in der Welt enthält;
2. die Selbstkundgabe[2], durch die der «Sender» etwas über sich selbst mitteilt – über seine Persönlichkeit und über seine aktuelle Befindlichkeit (sei es nun in bewusster Selbstdarstellung oder in mehr oder minder freiwilliger Selbstöffnung und Selbstpreisgabe);
3. der Beziehungshinweis, durch den der Sender zu erkennen gibt, wie er zum Empfänger steht, was er von ihm hält und wie er die Beziehung zwischen sich und ihm definiert;
4. der Appell, also der Versuch, in bestimmter Richtung Einfluss zu nehmen, die Aufforderung, in bestimmter Weise zu denken, zu fühlen oder zu handeln.
Mit diesem Modell verbindet sich die Erkenntnis, dass ein und dieselbe Nachricht – oder sagen wir nun besser: Äußerung – viele Botschaften gleichzeitig enthält, welche sich auf die vier Seiten verteilen, wobei explizit ausgesprochen oft nur eine Seite (häufig der Sachinhalt) ist und alle anderen Botschaften «zwischen den Zeilen» stehen, aber deswegen keineswegs weniger bedeutungsvoll und wirksam sind. Wenn eine Mutter ihrem pubertierenden Sohn gegenüber in etwas unwirschem Ton erwähnt: «Da sind wieder Flecken in deinem Bettlaken!» (Beispiel von Benien, 1986), dann erschließt sich das Gemeinte aus dem Gesagten (und nonverbal Gezeigten), wenn wir uns außer für den Sachinhalt auch für die impliziten Botschaften der drei anderen Seiten öffnen – wobei wir uns hier auf unsicheres Gelände begeben; denn die dieser Äußerung zugrunde liegende «Innerung»[3] der Mutter ist prinzipiell nur ihr selbst bekannt (und manchmal nicht einmal ihr in vollem Umfang). An dieser Stelle liegen die Quellen der kognitiven und emotionalen Missverständnisse. Vielleicht «hört» der Sohn als mütterliche Selbstkundgabe «Ich bin der Apostel der sittlichen Sauberkeit und habe zu meiner Entrüstung wieder einmal die Spuren einer schlimmen Verfehlung entdecken müssen!» – wohingegen sie vielleicht ausdrücken wollte: «Ich habe ein Problem damit, und zwar …». Genauso auf der Beziehungsseite: Vielleicht wollte sie sagen «Du bist ja jetzt ein Mann und entsprechend auch sexuell in Fahrt!» – und der Sohn nimmt es mit seinem Beziehungsohr so auf: «Hab ich dich mal wieder ertappt, du haltloses Schwein!», und mit seinem Appell-Ohr: «Reiß dich zusammen und hör auf zu onanieren!» – wohingegen sie vielleicht gemeint hatte: «Kannst du nicht ein Papiertaschentuch nehmen?»
Hier ist jetzt nicht die Frage, ob der Sohn die Äußerung nicht vielleicht auch ganz richtig aufgenommen hat und die Mutter vielleicht erst infolge einer heftigen Konfrontation ein Dementi für angebracht hielt und die «harmlosere» Version ihrer Äußerung nachlieferte. Uns dient das Beispiel nur zur Veranschaulichung des allgemeinen Prinzips: Entsprechend den vier Seiten einer Äußerung verfügt der Empfänger über «vier Ohren», die in ihrer Ausrichtung in starkem Maße darüber mitentscheiden, wie das Gesagte nun «ankommt»:
1. Mit dem Sach-Ohr versucht er den sachlichen Informationsgehalt zu verstehen (im gegebenen Beispiel ist dies einfach, es sei denn, er wüsste nicht, was mit «Flecken» gemeint ist).
2. Mit dem Selbstkundgabe-Ohr ist er diagnostisch tätig: Was ist mit der Mutter los, was geht in ihr vor – welche Gefühle und Motive sind mit ihrer Äußerung verbunden?
3. Mit dem Beziehungs-Ohr nimmt er auf, was die Mutter von ihm zu halten scheint, und fühlt sich entsprechend behandelt (gerügt, beschämt, beschuldigt). – Die Gefühle des Empfängers nähren sich meist zu einem guten Teil aus den erhaltenen Beziehungsbotschaften, das Selbstwertgefühl eines Menschen resultiert wesentlich aus ihnen.
4. Mit dem Appell-Ohr hört er die Aufforderung heraus, die er an sich gerichtet spürt (zum Beispiel «Hör auf damit!»); dieses Ohr ist überhaupt empfänglich für den «Druck», der sich mit einer Äußerung verbinden und/oder unter den sich der Empfänger gesetzt fühlen kann.
Halten wir das bisher Gesagte zunächst in einem Schaubild fest:
Abb. 1:Kommunikationspsychologisches Modell einer Äußerung
In der kommunikationspsychologischen Arbeit (Erwachsenenbildung, Klärungshilfe) lässt dieses Modell eine Scharfeinstellung sowohl auf den Sender als auch auf den Empfänger zu. Für den Letzteren lässt sich zeigen, wie bestimmte Spezialisierungen und Bevorzugungen eines der vier Ohren für den weiteren Gesprächsverlauf in subtiler Weise die Weichen stellen. Es wird später deutlich werden, wie bestimmte innere Verfassungen und Persönlichkeitsausrichtungen mit der Bevorzugung bestimmter «Ohren» verbunden sind und entsprechend den Kommunikationsstil prägen.
Wie sieht das für die Seite des Senders aus? Der Volksmund sagt: «Man redet, wie einem der Schnabel gewachsen ist!» Wir können präziser sagen: «… wie einem die vier Schnäbel gewachsen sind!» Der Kommunikationsstil ergibt sich je nach Größe und Form dieser vier Schnäbel. Für jeden dieser Stile werden wir eine bestimmte typische «Grundbotschaft» herausarbeiten und in ihrer quadratischen Struktur beschreiben. Bei diesen Grundbotschaften handelt es sich um wiederkehrende Signalkombinationen, die den Empfänger erreichen (sollen) und den Kontakt in bestimmter Weise gestalten. Diese Signalkombinationen (zum Beispiel «Ich bin hilflos und völlig am Ende, du bist stark und musst mir helfen – sonst ist alles aus!») mögen so nie wortwörtlich ausgesprochen sein, und doch geben sie eine Art Grundmelodie ab, die in verschiedensten Variationen immer wieder hindurchklingt, durch Worte, Mimik, Gesten, Handlungen: durch die gesamte «Ausstrahlung». Und sie tun ihre Wirkung, indem sie beim Partner (normalerweise) ganz bestimmte Gefühle und Handlungsbereitschaften auslösen.
Damit ist das für diesen gedanklichen Zusammenhang Wesentliche gesagt. Ich nehme aber die Gelegenheit, ausgehend von der Abb. 1 zwei Grundrichtungen der angewandten Kommunikationspsychologie in der Erwachsenenbildung idealtypisch zu unterscheiden und zu beschreiben. Die eine ist vorwiegend von der Humanistischen Psychologie inspiriert und legt es darauf an,
1. dass dem Sender eine weitgehende Entsprechung von «Innerung» und «Äußerung» gelingt. Dies erfordert Übung in der Selbstwahrnehmung und ist am Zielwert der Authentizität orientiert.
2. dass es dem Empfänger gelingt, die «hinter» der Äußerung liegende «Innerung» aufzuspüren und so zu einem tieferen Verständnis zu gelangen, als es auf der Sprechblasenebene möglich wäre (wo man gewöhnlich aneinander vorbeiredet). Dieses Aufspüren verbindet sich nicht mit einer detektivisch-diagnostischen Haltung, sondern mit einer der wohlwollenden Einfühlung. Dies erfordert Übung im vierohrigen Zuhören und ist am Zielwert der Empathie orientiert.
Eine kommunikationspsychologische Arbeit unter diesem Vorzeichen ließe sich etwa mit der Mutter unseres Beispiels folgendermaßen denken – vorausgesetzt, sie hätte in einem Elternkurs den Vorfall eingebracht. Dabei wäre zunächst überhaupt nicht die Frage «Wie sag ich es meinem Kinde?» vorrangig (Gestaltung der Äußerung), sondern vielmehr
«Was ist es überhaupt genau, das ich zu sagen habe?
Was geht in mir vor, wenn ich diese Flecken sehe?
Welche Erfahrungen habe ich selbst mit Onanie und
welche Einstellung dazu?», usw.
Die zur klaren Kommunikation nötige Selbstklärung wurde hier nachgeholt, der Brennpunkt läge bei der Innerung (vgl. Abb. 1). Die Mutter würde dabei lernen, sich selbst hinter die Kulissen zu schauen, und könnte bei dieser Selbsterfahrung ein Stück Bewusstheit dazugewinnen. Natürlich wäre es hier auch sinnvoll, Informationen zu geben (zum Beispiel darüber, dass es wissenschaftlich keine Gründe gibt, Onanie...