Einführung
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Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.
VICTOR HUGO
Ich erinnere mich noch gut, wie ich aufgeregt an der Hand des Dalai Lama ging, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. Ich muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, als seine Heiligkeit das Stirling-Castle-Heim für tibetische Kinder im nordindischen Shimla besuchte. Ich war eines von mehr als zweihundert Kindern tibetischer Flüchtlinge, die sich in dieser Gegend angesiedelt hatten. Das Heim war 1962 von der britischen Wohltätigkeitsorganisation Save the Children in einem Anwesen aus der Kolonialzeit eingerichtet worden, in zwei Gebäuden, die auf einem kleinen Hügel lagen. Wir Kinder hatten uns eifrig auf diesen Besuch vorbereitet und tibetische Begrüßungslieder geprobt, während die Erwachsenen die Straße fegten und anschließend mit weißem Kalkpulver bestreuten, aus dem sie Symbole des tibetischen Buddhismus formten: Lotosblume, endloser Knoten, Vase, die zwei goldenen Fische, das achtspeichige Rad des Dharma, das Banner des Sieges, Sonnenschirm und Muschelhorn. Am Morgen des Tages, für den der Besuch des Dalai Lama angekündigt war, standen viele indische Polizisten rund um das Schulgebäude. Ich weiß noch, wie ich mit einigen von ihnen Murmeln spielte, damit uns die Zeit nicht so lang wurde. Als das Warten endlich ein Ende hatte, war es ein magischer Augenblick. Dichte Schwaden von Räucherwerk drangen aus einem weiß gekalkten, eigens zu diesem Anlass hergestellten Ofen. In unseren bunten Festtagskleidern standen wir, mit dem Kata, dem traditionellen weißen Begrüßungsschal in Händen, zu beiden Seiten der Auffahrt zum Schulgebäude und sangen aus voller Kehle.
Ich war als einer der Schüler ausgewählt worden, die den Dalai Lama auf seinem Rundgang durch das Schulgebäude begleiten sollten, und als wir nebeneinander hergingen, fragte ich ihn, ob ich wohl auch ein Mönch werden könne, worauf er antwortete: »Lerne fleißig, und du kannst ein Mönch werden, wann immer du es wünschst.« Zurückblickend glaube ich, dass mein noch kindlicher Hang zum Mönchsleben vor allem durch zwei Mönche geweckt wurde, die an der Schule unterrichteten. Unter allen Erwachsenen, die es dort gab, waren sie nicht nur die freundlichsten, sondern schienen auch die gelehrtesten zu sein. Stets waren sie gutgelaunt und von einem inneren Frieden, den sie mitunter geradezu auszustrahlen schienen. Und was für uns Kinder das Wichtigste war: Sie hatten die spannendsten Geschichten zu erzählen.
Und so trat ich, sobald ich die Möglichkeit dazu hatte und ungeachtet der Proteste meines Vaters, mit elf Jahren in ein Kloster ein und wurde Mönch. Wie der Zufall es wollte, war es am ersten Tag des tibetischen Neujahrsfestes, das in jenem Jahr auf Ende Februar fiel. Während fast eines ganzen Jahrzehnts gehörte ich nun dem Dzongkar-Choede-Kloster an, in dessen kleiner Mönchsgemeinschaft ich lebte, arbeitete, meditierte und die heiligen Gesänge anstimmte. Und es war in jener stillen, immergrünen Hügellandschaft des nordindischen Dharamsala, wo ich mein rudimentäres Englisch in Gesprächen mit nach Erleuchtung suchenden Hippies aufbesserte.
So freundete ich mich auch mit John und Lars an. John war allerdings kein Hippie, sondern ein aus Amerika stammender Einsiedler, der allein in einem hübschen einstöckigen Häuschen lebte, das er angemietet hatte, um einem von ihm verehrten tibetischen Meister nahe zu sein, dessen Meditationshütte nicht weit davon entfernt lag. Mit John traf ich mich ein- oder zweimal in der Woche. Wir unterhielten uns, oder ich las aus einem tibetischen Text, der Übersetzung eines bedeutenden Schriftstücks des indischen Buddhismus aus dem achten Jahrhundert. Im Gegenzug machte John mich mit Pfannkuchen und Schinken bekannt. – Lars hingegen war Däne, der ganz in der Nähe des Klosters lebte, und häufig suchte ich ihn auf, um bei Marmeladentoasts ein wenig mit ihm zu plaudern.
Im Frühjahr des Jahres 1972, ich war dreizehn Jahre alt, wurde das Kloster in die sengende Hitze Südindiens verlegt, wo ein tibetisches Neuansiedlungsprogramm begonnen hatte. Wie die anderen Mönche aus meinem Kloster auch, trat ich der Arbeitskolonne des Umsiedlungsprogramms bei, fällte Bäume, hob Gräben aus und arbeitete in den Maisfeldern. Während der ersten zwei Jahre, in denen die Siedlungsanlage vorbereitet wurde, erhielten wir einen Tageslohn von 0,75 indischen Rupien, was umgerechnet etwa 1,5 Cent entspricht.
Damals gab es in Dzongkar Choede nur wenig regelrechten Unterricht. Ebenso wenig war es üblich, dass die jungen Mönche am normalen Unterricht weltlicher Schulen teilnahmen. Zu der Zeit, als unsere mönchische Gemeinschaft nach Südindien umzog, hatte ich bereits mein gesamtes Pensum an liturgischen Texten auswendig gelernt. Das Tagewerk im Siedlungsaufbau war um vier Uhr nachmittags beendet, und so nutzte ich die freie Zeit, um mein Englisch weiter zu verbessern. Da ich aber keine Gelegenheit zur Konversation mehr hatte, behalf ich mich mit dem Lesen englischsprachiger Comics. Eines Tages kaufte ich ein billiges gebrauchtes Transistorradio, und von nun an hörte ich jeden Tag den World Service des BBC und Voice of America. Der amerikanische Sender hatte damals eine Sendung im Programm, die sich »Broadcasting in special English« nannte und in der die Moderatoren betont langsam sprachen und jeden Satz zweimal wiederholten. Das war für mich enorm hilfreich, da ich zu jener Zeit nur über Grundkenntnisse der englischen Sprache verfügte.
Dass ich im Kloster der einzige Junge war, der, wenn auch noch unbeholfen, Englisch lesen und sprechen konnte, erfüllte mich mit Stolz und gab mir das Gefühl von Besonderheit. Hier gab es eine Welt – die im eigentlichen und übertragenen Sinn ja die ganze Welt außerhalb der Flüchtlingsgemeinschaft und des Klosters war –, zu der aus dem Kreise der Mönche ich allein Zugang hatte. Englisch schloss mir diese Welt auf, mit all den großartigen Ländern, von denen ich in den Nachrichten hörte – England, Amerika, Russland und natürlich unser geliebtes Tibet, das tragischerweise an das kommunistische China gefallen war.
Um das Jahr 1976 herum, ich war siebzehn oder achtzehn Jahre alt, begegnete ich einer bemerkenswerten Frau, die meinem Karma mit der englischen Sprache eine Wendung gab. Dr. Valentina Stache-Rosen war eine deutsche Indologin, deren Spezialgebiet in Sanskrit und Chinesisch verfasste Texte waren und die mit ihrem Mann, dem Leiter des dortigen Max-Müller-Instituts, in Bangalore lebte. Sie nahm sich mit großem Engagement meiner Fortschritte im Englischen an, machte mich mit der Literatur des Abendlandes bekannt und schickte mir Bücher – von Hermann Hesse und Agatha Christie, Roter Stern über China von Edgar Snow und vor allem ein großes englisches Wörterbuch mit vielen Verwendungsbeispielen im Satz. Es war in ihrem Haus, in dem ich den Umgang mit Messer und Gabel erlernte. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1980 standen wir miteinander im Briefwechsel. Ich weiß nicht, was ohne ihre herzliche Anteilnahme aus meinem damaligen Englisch – und letzten Endes auch aus meinem Leben – geworden wäre.
So las ich damals auch The Buddha von Trevor Ling, eine Darstellung des Lebens und der Lehre Buddhas, die ihn als Revolutionär, Philosophen und spirituellen Lehrer beschreibt. Gerade in diesem Buch beeindruckte mich die plastische Kraft der englischen Sprache, eine lebendige Unmittelbarkeit, die der des gesprochenen Wortes nahekommt und wie ich sie in auf Tibetisch geschriebenen Texten niemals hatte finden können. (Die Kluft zwischen gesprochenem und geschriebenem Tibetisch ist sehr groß.)
Ungefähr zur selben Zeit traf ich auf jenen tibetischen Lehrer, der später den allergrößten Einfluss auf meine Ausbildung im klassischen Buddhismus erlangen sollte. Ebenso berühmt für seine Gelehrsamkeit wie für seine Dichtkunst, war Zemey Rinpoche der sanftmütigste Mensch, der mir je begegnet ist. Damals hatte er sich weitgehend von seinen weltlichen Aufgaben zurückgezogen und widmete sich, in einer weiteren tibetischen Ansiedlung, die etwa eine einstündige Busfahrt von meinem Kloster entfernt lag, der stillen meditativen Besinnung. Sein Name war mir bereits durch die große Zahl der von ihm verfassten Schulbücher über die tibetische Sprache vertraut. Mit ihm nun persönlich Bekanntschaft zu machen und zu sprechen entfachte in mir wieder jene Lernbegeisterung, die mich ursprünglich dazu gebracht hatte, Mönch zu werden. Von unserer ersten Begegnung an erkannte Rinpoche meinen wissbegierigen Geist und nahm mich unter seine Fittiche. Und so verließ ich im Sommer des Jahres 1978 mein kleines Mönchskloster, um in dasjenige von Ganden einzutreten, ein großes Gelehrtenkloster in einem anderen Teil Südindiens, eine Busreise von zehn oder zwölf Stunden entfernt.
Im Jahre 1985 – zwanzig Jahre nachdem ich als kleiner Junge Mühe hatte, mit seiner Heiligkeit Schritt zu halten – war ich wieder im nordindischen Dharamsala zu Besuch, wo mir, wenn auch durch Zufall, eine hohe Ehre zuteilwurde. Der englische Dolmetscher des Dalai Lama war verhindert, und so wurde ich gebeten, die Vorträge des Dalai Lama zu dolmetschen. Nach ein paar Tagen ließ er mir über sein Verwaltungsbüro mitteilen, dass er mich zu sehen wünsche. Zur vereinbarten Zeit führte mich sein Sekretär in einen Audienzraum im Verwaltungskomplex des Dalai Lama, ein schlichter Flachbau im Kolonialstil aus Stein und Holz mit einem Dach aus Wellblech. Als ich eintrat, sagte seine Heiligkeit zu mir: »Ich kenne dich; du bist ein guter Debattierer aus dem Ganden-Kloster. Aber ich wusste nicht, dass du auch...