1.1 Süchtig nach Stress
So schnell, wie die Angst mich packte, konnte ich nicht reagieren. Diese Angst war die spontane Reaktion auf eine quälend heiße Dampfwolke. Sie war so heiß, dass ich die Hitze nicht nur auf der Haut spürte. Einen Moment lang bekam ich keine Luft. Es brannte in der Nase und tief drinnen in den Bronchien. Panisch begann mein Gehirn die möglichen Folgen der Temperaturattacke in Betracht zu ziehen: Versengt sie mir die Haut? Kollabiert die Lunge? Verliere ich die Kontrolle?
Ich war nicht in die Hitzehölle eines Waldbrands geraten. Auch nicht in die Nähe eines isländischen Geysirs. Und nach Sekunden war die plötzliche Angst wie weggeblasen. Ich spürte, wie ich in den Normalzustand zurückkehrte – und fuhr entspannt fort mit dem morgendlichen Wellnessprogramm in meinem Hamburger Spa.
Schuld an der Sekundenpanik war René gewesen. Er machte in der Sauna den Elf-Uhr-Aufguss. René ist der entschlossenste Aufgießer meines Fitnessstudios. Wenn er aromatisiertes Wasser auf die glühend heißen Steine schüttet, dann mit dem Fächer die Saunabesucher anschwitzen lässt, bis die ganze Haut mit Schweißperlen bedeckt ist, und schließlich, nach dem zweiten Schwall, mit dem Handtuch den Saunagästen die kochende Luft ins Gesicht peitscht und die Schweißperlen zu Sturzbächen werden: dann kann man Angst bekommen. Obwohl alle – und das ist der irritierende Punkt an der ganzen Geschichte, und deshalb erzähle ich sie – freiwillig da sind. Immer wieder. Es gibt Menschen, die lieben das Saunen, und ich gehöre dazu. Ich setze mich grundsätzlich in die heißesten Kabinen in der Wellnessabteilung meiner Muckibude, dort immer auf die oberste Etage, wo die quälendste Hitze den Körper martert, und ich bleibe immer länger drin als alle andern, eine Viertelstunde pro Durchgang. Ich sitze in diesen mit Holz ausgekleideten Zellen, obwohl dort mit meinem Körper Dinge passieren, die der im Grunde genommen überhaupt nicht lustig findet – und angesichts dessen, was dort geschieht, in Stress gerät.
An jenem Morgen, von dem ich erzählt habe, geriet der Stress so heftig, dass ich tatsächlich Angst bekam. Ich war drauf und dran, vor den höllischen Dämpfen zu flüchten. Was, wenn plötzlich mein Herz stillstünde? Meine Augen könnten platzen, meine Nieren versagen.
Heute wundere ich mich nicht mehr darüber, dass ich mich freiwillig in enge Räume setze, in denen lebensfeindliche Bedingungen herrschen und ich mit Angstattacken rechnen muss. Während der Recherche zu diesem Buch bin ich vielen Menschen begegnet, die sich willentlich und immer wieder in Stresssituationen begeben. Ein solches Verhalten ist keineswegs ungewöhnlich. Der Mensch setzt es variantenreich um. Skifahrer und Snowboarder wählen statt sicherer Pisten Routen, auf denen sie sich den Hals brechen könnten. Millionen stürzen in Vergnügungsparks auf raffinierten Fahrgeschäften mit angstvoll verzerrten Mienen wie im freien Fall der Erde entgegen. Partygänger setzen sich Technorhythmen aus, deren Beats so hochfrequent auf das Gehör einwirken, dass sie Körper und Geist ausrasten lassen. Bereits Kinder wählen von möglichen Alternativen oft jenes Freizeitvergnügen, das den meisten Nervenkitzel verspricht – und überspielen die Angst mit fröhlichem Kreischen.
Die Sauna, so stelle ich fest, ist eine der moderatesten Möglichkeiten, um jener Leidenschaft nachzugeben, die offenbar fast jeden Menschen ab und zu packt: Wir setzen uns mit Kalkül Situationen aus, die uns stressen. Wir lieben Angst. Wir suchen Extrembelastungen, wir schielen nach Risiken.
Eine Stressreaktion beginnt nie grundlos, im Gegenteil. Das Gehirn muss von den Sinnesorganen Signale geliefert bekommen, deren Auswertung Gefahr vermeldet. Dann versucht es, den Organismus zu schützen. Allgemein gesagt: Ohne die Wahrnehmung einer Bedrohung gibt es keinen Stress. Die Stress-Reaktion ist die Antwort unserer ausgeklügelten körpereigenen Alarmanlage auf bedrohliche Herausforderungen.
Zugegeben, Wellness steht nicht primär für eine gefährliche Umgebung, in der man an Belastungsgrenzen stößt, sondern für Sanftheit, Ruhe und Entspannung. Trotzdem loten wir, oder zumindest einige von uns, auch dort das Maß des Erträglichen aus. Die Reaktion meines Körpers auf Renés Hitzeschwaden war ein Indiz, dass Körper und Geist die Sauna meines Fitnessstudios nicht als Ort der Ruhe wahrgenommen hatten. Sie hatten ein lebensbedrohliches Milieu erkannt – zumindest in diesem einen kurzen Augenblick.
War die Gefahr real? Ein krasser Fall zeigt, was passieren kann, wenn Saunagänger über ihre physiologischen Grenzen hinausgehen. Er ereignete sich im Sommer 2010 in der südfinnischen Stadt Heinola. Wettkämpfer aus aller Welt trafen sich zur Saunomisen Maailmanmestaruuskilpailut, auf Deutsch: zur Sauna-Weltmeisterschaft. Bei diesem Wettbewerb handelte es sich um eine jährlich wiederkehrende, traditionellerweise spaßige Veranstaltung, die wie ein Volksfest begangen wird.
Am Finaltag, dem 7. August, ist es mit dem Spaß jedoch vorbei. Im letzten Saunagang soll der Weltmeister ermittelt werden. Zu Beginn liegt die Temperatur bei 110 Grad Celsius. Alle 30 Sekunden wird ein halber Liter Wasser auf die rotglühenden Steine des Ofens geschüttet. Die Temperatur in der Kabine steigt, ebenso die relative Luftfeuchtigkeit – und sorgt dafür, dass der Körper die Hitze umso mehr spürt. Ein physikalisches Phänomen, das mit der Leitfähigkeit des Wassers zu tun hat. Denn Wasserdampf leitet besser als trockene Luft und überträgt daher die Hitze aus dem Ofen quasi direkt auf die Haut. Hinzu kommt das Phänomen, dass bei Trockenheit fast jeder die Sommerhitze erträgt. Wird es dagegen schwül, geht das Gejammer los. Der Grund: Feuchte Luft nimmt kaum Wasser auf. Dies behindert die Thermoregulation der Haut durch Schwitzen.
Nach fünf Minuten haben die meisten Finalisten die Kammer verlassen. Nur zwei sind nun noch übrig, der Russe Wladimir Ladyschenski und der Finne Timo Kaukonen. Ein Amateurringer aus Nowosibirsk gegen einen Metallarbeiter aus Lahti – Letzterer ist fünffacher Weltmeister und ein hitzeerfahrener Mann.
Die beiden bleiben einfach sitzen, während außerhalb der Kabine, hinter der Glasscheibe, die Sorge wächst. Auf Nachfrage der Juroren nach ihrem Befinden strecken die beiden verbliebenen Finalisten siegesgewiss den Daumen nach oben. Noch bei 116 Grad und 23,2 Prozent Luftfeuchtigkeit weigern sie sich, auf den Hitzestress ihres Körpers mit Abbruch zu reagieren – und beginnen, bei lebendigem Leib und vor laufenden Fernsehkameras zu verbrennen.[6]
Beide verlieren das Bewusstsein, Ladyschenski stirbt. Die Obduktion wird ergeben, dass er sich mit einem Schmerzmittel gedopt hatte, das normalerweise Tätowierer ihren Kunden auf die Haut reiben, um sie unempfindlich zu machen. Große Hautfetzen haben sich von Ladyschenskis Muskulatur abgelöst.
Auch Kaukonen kommt nicht heil aus der Sauna heraus. Die Nieren blockieren, die Lunge nimmt Schaden, 70 Prozent seiner Haut sind verbrannt. Mehrere Wochen lang wird er im künstlichen Koma gehalten. Nach Monaten erst entlassen ihn die Ärzte mit schweren bleibenden Schäden aus dem Krankenhaus. Noch heute spricht er mit heiserem Klang – seine Stimmbänder hat er beim Versuch, zum sechsten Mal Weltmeister zu werden, versengt.
Nach dem verunglückten Wettstreit um die Saunakrone beschließt die Stadt, die Veranstaltung nicht mehr durchzuführen. Der Wettbewerb, so schreibt der Gemeinderat von Heinola in einer Pressemitteilung, könne infolge der traurigen Ereignisse nicht mehr »im gleichen unbeschwerten Geiste« stattfinden.
Als ich damals in Hamburg Renés vergleichsweise moderaten Aufguss bei etwas mehr als 90 Grad überlebte, registrierte ich danach weder Nierenschäden noch Verbrennungen in und an meinem Körper. Nicht einmal eine viertelstündige Rekonvaleszenz oder zumindest Lethargie wollte sich einstellen. Vielmehr lösten Renés thermische Konvektionen eine heftige Euphorie aus. Ja, ich applaudierte, wie alle anderen an diesem Morgen, die Renés Tortur bis zum Ende ausgehalten und nicht die Flucht ergriffen hatten.
Eine Stunde später entschied ich, noch einen Saunagang über mich ergehen zu lassen. Wer kam wohl um die Ecke, um den Aufguss zu machen? René. Ich zuckte zusammen, als ich ihn sah. Wieder dieser Quälgeist. Sollte ich mich erneut diesem Stress aussetzen? Der Angst um Lunge und Herz, der Angst, das Haupthaar zu versengen, der Angst, dass meine Augen platzen?
Es gibt viele Möglichkeiten für eine Stressreaktion. Die Sauna liefert einen eindeutigen, gut nachvollziehbaren Anlass. Wie jeder lebendige Organismus besitzen wir ein Temperaturoptimum. Wird dieses Optimum massiv überschritten, gerät der Organismus in Hitzestress. Nur wer sich oder anderen etwas beweisen will (oder verbissen um den Sauna-Weltmeistertitel fightet), überhört diese Signale absichtlich.
Krämpfe können die Folge sein. Hält die Hyperthermie, die Überwärmung des Körpers, an, kommt es zu einer Hitzestarre, zum Hitzekoma, schließlich zum Hitzetod. Schon während der Hitzestarre laufen irreversible Prozesse ab. Proteine und Enzyme gerinnen – genau dies war den beiden Finalisten der Sauna-WM in Heinola passiert: sie garten buchstäblich.
Aus der Gastronomie wissen wir, dass diese Prozesse, vor denen uns das Gehirn warnen will, schon bei rund 50 Grad Celsius langsam in Gang kommen. Aus diesem Grund können wir mit niedrigen Temperaturen Fleisch zubereiten. Zuerst gerinnt das Muskeleiweiß, ab...