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Ein geraubtes Leben

23 Jahre unschuldig in der Todeszelle - Der Fall Debra Milke

AutorJana Bommersbach
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783426439906
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Unschuldig zum Tode verurteilt: Debra Milkes erschütternde Geschichte Im Dezember 1989 verschwindet Debra Milkes vierjähriger Sohn Christopher spurlos. Bald folgt die schreckliche Nachricht: Christophers Leiche wurde in der Wüste von Arizona gefunden. Für die deutschstämmige Debra beginnt ein Albtraum, der ihr Leben zerstören wird: Obwohl es keine Beweise gegen sie gibt, wird sie von einem US-Gericht für den Mord an ihrem Sohn zum Tode verurteilt. Der Ermittlungsleiter hatte behauptet, sie habe die Tat gestanden. In Ein geraubtes Leben erzählt Jana Bommersbach die erschütternde wahre Geschichte von Debra Milke, die 23 Jahre lang unschuldig in der Todeszelle saß. Jahrelang kämpfte sie um ihre Freiheit, bis das Fehlurteil endlich aufgehoben wurde. Ein Bericht über Justizirrtum, Hoffnung und Durchhaltevermögen, der tief bewegt und aufrüttelt.

Jana Bommersbach ist eine amerikanische Journalistin und Autorin. Sie kennt Debra Milke seit vielen Jahren und hat über ihren Fall berichtet. Debra Milke hat sie gebeten, ihre Geschichte aufzuschreiben.

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Leseprobe

Kapitel 1


»Sie probten meine Hinrichtung«

Debra Jean Milke schaute gerade einen Reisebericht auf ihrem kleinen Fernseher, als sie kamen, um ihre Hinrichtung zu proben.

Es war der 19. Dezember 1997.

Sie war dreiunddreißig Jahre alt, eins siebzig groß, schlank. Sie hatte langes braunes Haar, das sie gern in Locken legte, und große braune Augen. Wenn sie lächelte, erstrahlte ihr ganzes Gesicht.

An diesem Tag aber gab es nichts zu lachen.

Es war bis dahin ein ganz normaler Freitag gewesen – in einem Leben, in dem Normalität bedeutete: Todestrakt im Gefängnis Perryville am Rande von Phoenix, Arizona – ihrem Aufenthaltsort, seit sie sechsundzwanzig war.

»Gleiche Scheiße, anderer Tag«, wie sie zu sagen pflegte.

Reiseberichte im Fernsehen waren ihre einzige Fluchtmöglichkeit aus diesem Sarg von einem Zimmer – drei mal drei Meter, mit Metallbett, Waschbecken und Klo. Aus dieser Zelle mit ihrem winzigen Fenster, das vergittert war, obwohl sich niemand hätte hindurchzwängen können. Aus diesem Ort, wo alles grau oder braun gestrichen war. Aus diesem Zellentrakt, in dem es nie richtig dunkel wurde und vor allem nie wirklich still. Aus diesem »Zuhause«, in dem Debra Milke tagaus, tagein allein war und sich an Reiseberichte im Fernsehen hielt, als einzige Möglichkeit, all dem zu entfliehen.

Diese Sendungen halfen ihr, sich an die Farben der Realität draußen zu erinnern und davon zu träumen, wie die Luft der Freiheit schmeckte. Sie schwor sich, einige dieser Orte irgendwann einmal selbst zu besuchen – eines Tages, wenn sie wieder frei sein und all das hier der Vergangenheit angehören würde –, und diese Liste umfasste die ganze Welt. Am liebsten wollte sie aber nach Australien reisen.

Wie viele Reiseberichte hatte sie in den sieben Jahren gesehen, die sie nun im Gefängnis saß? Zweihundert? Dreihundert?

Diese Sendungen gehörten zu der Routine, die sie sich auferlegt hatte. »Sonst hätte ich nicht funktionieren können. Ich musste eine Routine haben. Ich habe bald gemerkt, dass die Leute hier geistig verwahrlosen, und ich wollte verhindern, dass es bei mir dazu kommt. Ich wollte nicht zulassen, dass sich mein Hirn in Mus verwandelte.«

Und so stand sie jeden Morgen gegen vier Uhr auf – »Das war die ruhigste Zeit des Tages, denn alle anderen schliefen länger«. Sie machte sich in ihrer Zelle einen Kaffee und schrieb dann eine Stunde lang: Briefe, Erinnerungen, Notizen darüber, was sie ihrem Anwalt sagen wollte. Um fünf kam das Frühstück auf einem Plastiktablett: »Gummiartige Pfannkuchen oder pappige Frühstücksflocken, die wie Kleister aussahen.« Dreimal pro Woche durfte sie duschen und erhielt dazu ein dünnes Handtuch. Ebenfalls dreimal pro Woche brachte man sie allein in einen Gitterverschlag auf einem Hof, damit sie ein wenig Bewegung bekam.

Ab elf schaute sie Schatten der Leidenschaft, die beliebteste Seifenoper im amerikanischen Fernsehen, die sich um zwei mächtige Familienclans in der fiktiven Stadt Genoa City in Wisconsin dreht. »Das war auch meine Welt: Fünf Tage die Woche war ich in Genoa City.« Das Mittagessen ab zwölf bestand aus einem Sandwich – Wurst oder Schinken-Käse. Anschließend hielt sie Mittagsschlaf, las etwas oder lernte.

»Ich wusste ja nichts über das Justizsystem. Deshalb musste ich das erst mal verstehen. Ich habe mich sofort für einen Fernlehrgang in Jura angemeldet.«

An diesem Freitag starrte sie wie gebannt auf die Bilder, die aus ihrem 13-Zoll-Farbfernseher drangen und durch die sie sich weit wegträumen konnte. Sie klebte förmlich an der Mattscheibe, denn es war ein Dezembertag, und der Dezember war immer ein schlimmer Monat.

Für die meisten Menschen ist der Dezember ein schöner Monat, erfüllt von den Bräuchen der Advents- und Weihnachtszeit. Selbst im Gefängnis ist das so, da die Häftlinge alles zu schätzen wissen, was den Alltagstrott durchbricht. In den Einzelzellen rings umher, in denen die »disziplinarischen Problemfälle« der Strafanstalt untergebracht waren, und in den Schlafsälen überall in diesem riesigen Gebäudekomplex freuten sich die Häftlinge, dass sie nur noch sieben Tage von dem Tollsten entfernt waren, was ihnen diese Anstalt das ganze Jahr angedeihen ließ.

Das bevorstehende Weihnachtsessen verhieß gebratenen Truthahn samt Füllung – in einem Jahr hatte es sogar mal Cranberrysoße dazu gegeben –, danach vielleicht ein wenig frisches Obst und auf jeden Fall Kuchen.

Manche Gefangene bastelten Geschenke füreinander: auf Pappe gemalte Bilder, handkolorierte Karten, selbst verfasste Gedichte oder Lesezeichen, in Schönschrift mit Worten der Hoffnung versehen.

Für Debra Milke aber war die Weihnachtszeit nicht mit Freuden und Geschenken verbunden. Dezember bedeutete für sie: Trauer und Qual.

Es geschah an einem Dezembertag im Jahr 1984, dass dieses selbsternannte »brave Mädchen« den »bösen Jungen« heiratete, den ihre Eltern verachteten – einen Mann, den sie als Vater ihres einzigen Kindes liebte, der sie aber auch beschämte, beschimpfte, bedrohte und vor dem sie schließlich solche Angst bekam, dass sie ihm davonlief.

Es geschah an einem Dezembertag im Jahr 1989, dass ihr vierjähriger Sohn ermordet wurde – der kleine Junge mit seinem bezaubernden Lächeln, der »Nabel ihrer Welt«.

Es geschah an einem Dezembertag, dass das Phoenix Police Department behauptete, sie habe ihren Sohn ermorden lassen – woraufhin sie hier gelandet war, als einzige Frau, die in Arizona im Todestrakt saß.

Es geschah an einem Dezembertag im Jahr 1993, dass ihr erster Versuch, in Berufung zu gehen und das Todesurteil anzufechten, scheiterte.

Diese ganzen verdammten Weihnachtswerbespots – mit all den glücklichen Kindern, den liebevollen Eltern und der Verheißung, dass sämtliche Wünsche wahr werden – gingen ihr an die Nieren.

Im Dezember war sie jedes Mal so deprimiert, dass sie sogar auf den Hofgang verzichtete. Manchmal verließ sie ihre Zelle nur für die kurze Dusche, die ihr jeden zweiten Tag gestattet war.

Die Drogen, die anderen über schwere Zeiten hinweghalfen, waren nichts für sie. Sie hatte draußen nie Drogen genommen und war nicht im Geringsten versucht, im Gefängnis damit anzufangen – obwohl Drogen leicht erhältlich waren. Sie lehnte sogar die Medikamente ab, die sie verschrieben bekam und die ihre Stimmung hätten aufhellen und ihren Kummer hätten dämpfen können. Sie hatte sie in der U-Haft genommen, während sie auf ihren Prozess wartete, und sie hatten sie so benommen gemacht, dass sie kaum mehr klar denken konnte.

Wie Debra später sagte: »Das einzige Laster, das ich mir im Gefängnis zugelegt habe, ist das Kaffeetrinken.«

Doch selbst solche Humorversuche standen ihr im Dezember eher nicht zu Gebote. Ihrer Mutter schrieb sie: »Ich hasse diesen Monat und diese ganze Jahreszeit.«

In den meisten Monaten fiel es ihr schwer, im Dezember war es gar unmöglich, mit dem Gedanken zurechtzukommen, dass sie hinter Gittern gelandet war. Sie war immer beliebt und hübsch gewesen. Auf der Highschool hatte sie so gute Noten nach Hause gebracht, dass sie in die National Honor Society aufgenommen wurde. Ihre Eltern waren meist sehr zufrieden mit ihr. »Ich habe immer alles unternommen, um keinen Ärger zu bekommen. Ich habe immer die Anerkennung meiner Eltern gesucht.«

Sie war eine vierundzwanzigjährige alleinerziehende Mutter mit einem temperamentvollen kleinen Sohn gewesen. Sie trank gern mal ein Bier, aber keine stärkeren alkoholischen Getränke. Seit sie als Teenager ihren ersten Job angetreten hatte, hatte sie bewiesen, dass sie eine fleißige Arbeiterin war, und nun hatte sie gerade beruflich einen neuen Weg eingeschlagen, was ihr wie »ein wahr gewordener Traum« vorkam. Gemeinsam mit ihrem Sohn stand sie an der Schwelle zu einem »neuen Leben«. Sie bereitete sich auf Weihnachten vor und hatte schon einige schöne Geschenke für ihren Sohn besorgt.

All das aber endete am 2. Dezember 1989. Es war ein Samstag. Es war der Tag, an dem der kleine Christopher mit einem Freund, dem sie vertraute, losfuhr, um den Weihnachtsmann zu treffen, und nicht mehr wiederkehrte.

Der Staat Arizona behauptete, sie habe den kleinen Christopher in den Tod geschickt. Es hieß, sie habe zwei Männer angestiftet, den Jungen für sie zu ermorden. Zunächst behauptete man, sie habe eine Lebensversicherung über 5000 Dollar auf den Jungen »abgeschlossen« – was heute knapp 10000 Dollar entsprechen würde – und habe diese Summe kassieren wollen. Dann behauptete man, sie habe sich für einen neuen Freund, der keine Kinder wollte, frei machen wollen. Schließlich behauptete man, sie habe verhindern wollen, dass Christopher zu einem Säufer und Junkie heranwachsen würde, wie sein Vater einer war.

Man behauptete, man wisse all dies, weil Debra Milke es »gestanden« habe – einem Ermittler, der seit zwanzig Jahren im Dienst der Polizei von Phoenix stand. Detective Armando Saldate hatte es allerdings nicht für nötig befunden, die fünfundzwanzigminütige Vernehmung unter vier Augen auf Tonband festzuhalten. Oder einen Zeugen hinzuzuziehen. Oder Debra eine schriftliche Aussage unterschreiben zu lassen. Es gab weiter nichts als seine Behauptung, sie habe ihm ihr Herz ausgeschüttet und gestanden, die Ermordung ihres Sohnes in Auftrag gegeben zu haben.

Als sich keine Sachbeweise finden ließen, die sie mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht hätten,...

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