Einleitung
Von den Herausgebern
Es sind nun schon mehr als zwei Jahrzehnte vergangen, in denen die DDR und BRD wieder ein gemeinsames Deutschland bilden. Berechtigterweise stellen viele Bürger sich noch heute die Frage, warum die Entwicklung in der Zeit der politischen Umbrüche 1989/90 in der ehemaligen DDR so verlief, wie sie letztlich verlaufen ist und nicht anders. Dies gilt auch und besonders für das Handeln der Volkspolizei, über das bis heute keine evidente Darstellung vorliegt. Unser Anspruch ist es, Erinnerungen aus erster Hand zu dokumentieren und – gerade auch wissenschaftlich – zugänglich zu machen.
Damals waren wir und die von uns konsultierten Zeitzeugen vor allem Akteure in den verschiedenen Dienststellungen der Volkspolizei Berlin. Im Folgenden werden wir diese schwierigste Periode unserer Dienstzeit kritisch aufbereiten und ohne Vorurteile einschätzen. Wissend, dass wir in unseren Aussagen zu den Vorgängen befangen sein können, war unser Bemühen stets darauf ausgerichtet, am Primat von Fakten und Beweisen festzuhalten. Damit wollen wir vermeiden, dass neue zeitgeschichtliche Mythen von 1989/90 entstehen.
45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs scheiterte der historische Versuch, auf einem Teilgebiet des ehemaligen Deutschen Reiches eine antifaschistische, demokratische und sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Das Wirken der Volkspolizei sollte dieser Entwicklung Stabilität und Sicherheit verleihen. Die Verschärfung der gesellschaftlichen Krise der DDR im Herbst 1989 und die damit verbundene politische Destabilisierung des Staates sowie der beginnende Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse bis hin zur Auflösung des Staates selbst veränderten die Anforderungen an die Volkspolizei radikal.
Wir verdeutlichen, ausgehend von den grundlegenden Aufgaben und der Struktur der Volkspolizei Berlin, die Arbeit des Präsidiums und seiner ihm unterstellten Dienststellen und Einheiten in dieser Zeit der Umgestaltung und Neuordnung der Gesellschaft. An der innerstädtischen Grenze von Berlin stießen zwei weltanschauliche Systeme aufeinander, deren Spannungen im Kalten Krieg in einem völlig absurden Vernichtungspotenzial für alle Zeit erstarrt schienen. Nirgendwo sonst auf der Welt gab es so viele Geheimdienste und Agententätigkeit wie in dieser geteilten Stadt. Das steingewordene Misstrauen der beiden Machtblöcke zog sich als Grenzsicherungsanlage mitten durch die Stadt.
Diese Erstarrung, deren stete Begleitung das Szenario eines möglichen Atomkriegs war, konnte dann ab 1985 mit der Politik Gorbatschows wesentlich entschärft werden.
Die Führung der SED verweigerte sich jedoch den sowjetischen Vorstellungen zur Öffnung, während die USA und die BRD diesen Prozess interessenbezogen aktiv beförderten. Diese Konstellation war eine wesentliche Bedingung dafür, dass 1989/90 in der DDR gewaltige gesellschaftliche Veränderungen durch landesweite Massenproteste herbeigeführt werden konnten. Erich Honecker trat von sämtlichen Ämtern zurück. Kurz darauf erfolgte der geschlossene Rücktritt des ZK der SED und der Regierung Stoph. Die sich immer besser organisierenden Oppositionsgruppen begannen die Staatsmacht, einschließlich der neuen Regierung Modrow, zu kontrollieren. Der massenhafte Wunsch nach Reisefreiheit in einem ideologisch aufgeheizten Klima bewirkte letzthin den plötzlichen Fall der Mauer. Das verfassungsmäßig festgeschriebene Führungsmonopol der SED wurde beseitigt, und der Geheimdienst sowie die Kampfgruppen der Arbeiterklasse mussten ihre Waffen abgeben. Schließlich fand am 18. März 1990 eine Neuwahl der Volkskammer statt, aus der die »Allianz für Deutschland«, bestehend aus der ehemaligen Blockpartei CDU und den neu gegründeten Parteien Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU), als Siegerin hervorging.
Die im Ergebnis der Volkskammerwahlen gebildete Koalitionsregierung de Maizière, in der außer der »Allianz für Deutschland« auch die SPD und die Liberalen mitwirkten, strebte nach dem Slogan »Wir sind ein Volk!« die schnelle Einheit Deutschlands an. Mit dem »Zwei-plus-Vier-Vertrag« 1990 wurden dafür die außenpolitischen Weichen gestellt. Während die politischen und wirtschaftlichen Schauplätze in der DDR die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich zogen, verrichtete die Volkspolizei in Berlin weiter ihren Dienst und handelte bei offener Grenze als alleinige Ordnungsmacht.
Eine gewisse Ironie der Geschichte ist: Die Volkspolizei begleitete nun über weite Strecken einen Prozess, den sie im Herbst 1989 mit aller Macht hatte verhindern sollen.
Es bleibt zu fragen, warum diese gewaltigen Veränderungen friedlich verliefen. Es greift sicher zu kurz, den friedlichen Umbruch nur einer Interessengruppe, einer politischen Person oder einem bestimmten Aufruf zum Gewaltverzicht zuzuschreiben. Für eine endgültige historische Einordnung der Geschehnisse wäre auch zwingend der Umstand zu erforschen, warum auf keiner Ebene des Staates und der SED ein Befehl zum Gebrauch von Waffen in den Reihen der Staatsorgane erlassen wurde. Die damalige Befehlslage schloss jeden Gebrauch von Waffen sogar ausdrücklich aus.1
So darf auch die Berliner Volkspolizei ihren eigenständigen Beitrag für den insgesamt friedlichen Verlauf im historischen Gefüge zwischen 40. Jahrestag der DDR und Wiedervereinigung beanspruchen und muss sich nicht auf medial dargestellte Befugnisüberschreitungen reduzieren lassen, die es zweifellos bei einzelnen Aktionen während des Ordnungseinsatzes zum 40. Jahrestag der DDR gegeben hat.
Um das Denken und Handeln der Berliner Volkspolizei in dieser Zeit möglichst objektiv beurteilen zu können, erschien es uns wichtig, im I. Kapitel eine Übersicht über ihre Aufgaben und Struktur ohne jegliche Bewertung der Ergebnisse ihrer Tätigkeit voranzustellen. Darauf verweisen wir dann im Zusammenhang mit den volkspolizeilichen Handlungen in den letzten zwei Jahren der DDR. Mit den umfangreichen Einsätzen zum 40. Jahrestag der DDR, zur Großdemonstration am 4. und zur Grenzöffnung am 9. November 1989 befassen wir uns ausführlich.
Gründlich und kritisch äußern wir uns zum Ordnungseinsatz am 7./8. Oktober 1989. Hier weisen wir nahezu vollständig die damals bestehende Befehlsgebung nach. Wir benennen Verstöße bei der Wahrnehmung der Befugnisse und Verletzungen der Menschenwürde an diesen Tagen, vor allem bei zugeführten und vorläufig festgenommenen Personen auf dem Transport und in den Zuführungspunkten durch einzelne Einsatzkräfte. Die zu Grunde liegenden Ursachen werden von uns aufgehellt. Wir wissen, dass viele Menschen, besonders die aktiv und passiv beteiligten Personen, durch diese Handlungen eine negative Meinung von der Volkspolizei bekamen.
Ungesetzliches Verhalten Einzelner, so das Ergebnis unserer Recherche, war weder gesetzlicher Auftrag noch befohlen. Das macht es nicht ungeschehen, erklärt lediglich, dass es keine Kausalität zwischen Befehlserteilung und Befugnisüberschreitung gegeben hat. Dennoch gab es ein schwerwiegendes Versagen der politischen und polizeilichen Führung bei diesem Einsatz, nämlich in Fehlbeurteilung der tatsächlichen Lage die Einsatzkräfte darauf orientiert zu haben, dass oppositionelle Kräfte überwiegend Staatsfeinde seien. Auch nicht rechtzeitig für die notwendigen personellen und sachlichen Voraussetzungen zur menschenwürdigen Unterbringung und zum ordnungsgemäßen Ablauf in den Zuführungsräumen gesorgt zu haben, gehörte zu ihren Fehlern. Darauf gehen wir im Einzelnen ein.
Mit der Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär des ZK der SED erfolgte im Herbst 1989 die längst überfällige grundsätzliche Neuorientierung, dass politische Probleme nur mit politischen Mitteln zu lösen sind. Zum ersten Mal fand am 4. November 1989 in Berlin auf dem Alexanderplatz eine genehmigte Großdemonstration statt, die diesem Anliegen voll entsprach. Die enge Sicherheitspartnerschaft zwischen den Veranstaltern und den Sicherheitskräften beweist, dass sowohl die Leiter und Vorgesetzten als auch die operativen Kräfte der Volkspolizei Berlin begonnen hatten, Lehren aus den vorangegangenen Ereignissen zu ziehen. Zunehmend wurde ihr Handeln unter den neuen Bedingungen souveräner.
Bei der unerwarteten Grenzöffnung am 9. November 1989 stellen wir das gewachsene Maß an Verantwortungsbewusstsein der beteiligten Sicherheitskräfte in den Mittelpunkt unserer Betrachtung. Schnelle richtige Lagebeurteilungen, flexibler Kräfteeinsatz und vor allem das besonnene Handeln der Volkspolizisten in Uniform vor Ort trugen neben den Hauptakteuren, den Grenztruppen der DDR und den Passkontrolleinheiten des MfS dazu bei, einen bewaffneten Konflikt, zumindest aber größere Störungen und Gefahren zu verhindern.
Nachdem wir uns mit den Hauptaufgaben und Handlungen der Berliner Volkspolizei zur Zeit der Modrow-Regierung und der Regierung de Maizière befasst haben, gehen wir schließlich auch auf die ersten Schritte der Zusammenarbeit zwischen den Polizeidienststellen in beiden Teilen der Stadt Berlin ein und hinterfragen die Übernahme ausgewählter Kräfte und Mittel der Volkspolizei Berlin durch die West-Berliner Polizei.
Bei den Nachforschungen haben wir uns auf umfangreiche Literaturquellen und Archivdokumente sowie zahlreiche persönliche Gespräche mit ehemaligen Volkspolizisten – vom Polizeimeister bis zum letzten Präsidenten der Volkspolizei Berlin – gestützt. Auch andere Zeitzeugen gaben uns wichtige Hinweise. Wir, die Autoren, kamen in den letzten beiden Jahren regelmäßig zusammen, erarbeiteten uns zu den damaligen Geschehnissen zeitbezogene Bewertungen, stritten um so manches Detail und waren bemüht, die geschichtlichen Vorgänge weitgehend...