Einleitung
Bilde dich selbst, und dann wirke auf andere durch das, was du bist!
Wilhelm von Humboldt
Brauchen Menschen heute Vorbilder? In einer Zeit, zu deren Signatur die radikale Individualisierung zählt, drängt sich die Frage nach einem Lernen an anderen Personen nicht unmittelbar auf. Selbstverwirklichung ist die Chiffre für das Bildungsideal des modernen Menschen. Autonomie und reflektierte Selbstverantwortung zählen zu den wichtigsten Erziehungszielen. Da hat der Blick auf andere keinen Platz.
Gleichzeitig hat sich der Mythos der Moderne, der selbstbestimmte Mensch könnte sich aus eigenen Kräften eine stabile Identität stiften, längst verflüchtigt. Der Prozess der Selbstentwicklung scheint ohne die Orientierung an anderen Personen, an Modellen, Vorbildern, Leitfiguren, Helden, Heiligen und Idolen nicht zu gelingen. Es gibt deshalb gute Argumente, die gegen die Vorstellung von Lernen im Sinne einer reinen Selbstentfaltung sprechen: Wir benötigen Impulse von außen, um dann in Auseinandersetzung, Orientierung und Abgrenzung dazu das eigene Leben zu gestalten.
Zudem hat das Materialobjekt unseres Interesses auch eine immense gesellschaftliche und politische Bedeutung: Es handelt sich um Menschen, die mutig, entschieden, zivilcouragiert agierten und agieren. Deshalb bedarf es neben der Förderung einer individuellen Verantwortlichkeit auch einer ideologiekritischpolitischen Reflexion und Ausweitung (Grümme 2009, 90–93): Gerade Zivilgesellschaften sind auf Menschen angewiesen, die über den Tellerrand hinausschauen und prosozial Verantwortung übernehmen; das stellt aber auch kritische Anfragen an das Funktionieren und die Schwachstellen politisch-sozialer Bedingtheiten.
Aber selbst wenn man zum Ergebnis kommt, dass auch am Leben anderer gelernt werden kann und muss: Wie stellt man sich ein solches Lernen an fremden Biografien vor? Welche Personen eignen sich mehr dafür und welche weniger? Haben die heutigen Kinder und Jugendlichen überhaupt Vorbilder?
Und wenn ja: Sind das für heutige Kids nicht in erster Linie die bekannten Idole aus der Glanz- und Glimmerwelt der Medien?
Als Religionspädagoge frage ich weiter: Was sind attraktive religiöse Vorbilder, die zur Entwicklung eigenen Glaubens beitragen können? Denn auch in der religiösen Erziehung geht man aus guten Gründen von einem Subjektansatz aus. Wie müssen Heilige gestrickt sein, damit sie bei der „Suche nach eigenem Glauben“ (Schweitzer 1996a) förderlich sind? In welchen Personen steckt moralisches Potenzial, das die Entwicklung des eigenen moralischen Universums fördern kann?
Das Buch ist so konzipiert, dass man es auch kapitelweise lesen und – je nach Interesse und Vorwissen – durchaus auch mit einem anderen als dem ersten Kapitel beginnen kann. Jedes Kapitel endet mit einer Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse und lädt über die angefügten kompetenzorientierten Aufgaben zu einer Verarbeitung des Gelesenen ein.
In den ersten beiden Hauptkapiteln erfolgt von verschiedenen Perspektiven aus eine grundsätzliche und allgemeine Annäherung an die Vorbildthematik: Unter „Vorbilder im Wandel der Zeiten“ soll mit Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Daten dargestellt werden, in welchen Wellenbewegungen die Thematik im letzten Jahrhundert mehr oder weniger bedeutsam war: Nach einer Phase der Verabschiedung des Vorbilds in der Gesellschaft und in der Pädagogik lässt sich in den letzten 15 Jahren eine Renaissance des Vorbilds belegen. Im nächsten Kapitel versuche ich, Motive für die Trendwende zu ergründen: Wieso braucht der postmodern individualistisch ausgerichtete Mensch fremde Personen als Orientierungsmarken?
Eine kritische Darstellung der wichtigsten empirischen Untersuchungen zum Thema erfolgt mit dem Ziel einer Klärung: Welche Vorbilder dominieren heute – öffentliche oder private, nahe oder ferne, große oder kleine? Die Vorgehensweise mag manchem zu kleinschrittig und pingelig erscheinen, sie strebt jedoch eine differenzierte Analyse der sozialwissenschaftlichen Studien und in manchen Teilen eine Entmythologisierung zentraler Untersuchungen zum Thema an.
In einem nächsten Schritt werden konzeptionelle Eckdaten zur Bedeutung von Vorbildern und zur lernpsychologischen Begründung eines Lernens an fremden Biografien erläutert: Zunächst erfolgt eine theologische Reflexion mit Bezug auf den Begriff des „Heiligen“: Welche Konzepte von „Heiligkeit“ gibt es in Theologie und Kirche, und welches ist das tragfähigere für die heutige Welt? Dem schließt sich die Frage an, welche lernpsychologischen Konzepte einer Orientierung an fremden Biografien existieren und mit welchen moralpsychologischen Vorstellungen ethischer Erziehung sie korrespondieren. Hier soll deutlich werden, dass in pädagogischen Kontexten nie nur die Frage des „Vorbilds an sich“ gestellt werden kann; als „Vorbild für mich“ kommen immer auch entsprechende Vorstellungen über passende und fragwürdige Lernprozesse bei einer Auseinandersetzung mit fremden Biografien ins Spiel.
Religionspädagogische Folgerungen schließen diese beiden grundlegenden ersten Kapitel ab; sie münden in eine Beschreibung von Kriterien, die handlungsleitend für die Auswahl fremder Biografien sein können.
Im zentralen dritten Kapitel werden die grundsätzlichen Überlegungen an verschiedenen Personen und Personengruppen konkretisiert: An welchen fernen und nahen, großen und kleinen, realen und fiktiven Personen kann denn überhaupt etwas gelernt werden? In jedem der folgenden Kapitel wird jeweils eine Personengruppe genauer betrachtet. Jedes Teilkapitel ist nach demselben Aufbauprinzip konzipiert: Unter „Herausforderung und Problemanzeige“ wird die soziologische und pädagogische Besonderheit der jeweiligen Gruppe unter die Lupe genommen und unter „Besondere Lernchancen“ ihr Lernpotenzial erhoben. Mit zahlreichen Beispielen sollen diese Vorüberlegungen dann konkretisiert werden: Wie kann religionspädagogisch verantwortet an fremden Biografien unterschiedlicher Couleur gelernt werden? Weiterführende Literaturhinweise und kompetenzorientierte Aufgabenstellungen runden die Kapitel jeweils ab.
Die Darstellung beginnt mit den Local heroes. Sie nehmen in diesem Band eine besondere Stellung ein, weil sich damit ein eigenes Forschungsprojekt, eine Internet-Präsentation und eine Wanderausstellung verbinden, die in den Kapiteln 4.3 und 4.4 noch genauer erläutert werden.
Im nächsten Kapitel werden Notwendigkeit, Grenzen und Chancen einer Orientierung an großen Persönlichkeiten, Helden und Heiligen reflektiert. Dabei wird bereits einleitend verdeutlicht, dass der Fragehorizont (Heilige als Vorbilder) die Bedeutungsvielfalt des Heiligen und der Heiligen bewusst einschränkt, um von da aus mögliche Lernwege zu skizzieren.
In der Bibel begegnen uns interessante und provozierende Personen gleichermaßen. Ausgelotet werden soll, unter welchen Bedingungen einer dialogischen Bibelarbeit auch an diesen Biografien gelernt werden kann.
„Jesus Christus – ein Vorbild?“ So lautet die Überschrift des nächsten Kapitels. Das Fragezeichen ist schon deswegen berechtigt, weil ein historischer Rückblick zeigen wird, wie sehr dieser Jesus Christus zu allen Zeiten fragwürdig war – allerdings pädagogisch gelegentlich auch sehr fragwürdig als Vorbild thematisiert wurde. Aufgezeigt werden in diesem Kapitel auch neuere Modelle orientierenden Lernens an Jesus Christus.
Danach stehen „Idole, Stars und Sternchen“ im Mittelpunkt – jedoch nicht unter abwertender Perspektive, sondern mit dem Ziel, die Attraktivität dieses Personenkreises und das sich hier bietende Potenzial für Entwicklungsprozesse von Kindern und Jugendlichen unvoreingenommen wahrzunehmen.
Die beiden folgenden Kapitel sind den am meisten verkannten Vorbildern gewidmet – den Lehrern und den Eltern.
Abschließend wird das Lernpotenzial von „Gebrochenen Biografien“ erhoben. Dieser Blickwinkel ist motiviert von der Grundüberzeugung, dass eben nicht der perfekte Held das beste Vorbild darstellt, sondern jeder Mensch in seiner Gebrochenheit und vielleicht gerade wegen seiner Gebrochenheit einen Spiegel für andere Menschen darstellen kann.
Nachdem die Personenkreise durchbuchstabiert sind, erfährt das Buch nochmals eine ganz praktische Wendung: Es werden didaktisch-methodische Möglichkeiten aufgezeigt, wie ein „Dialog mit Fremden“ inszeniert werden kann. Abschließend werden die Datenbank Local heroes und die Ausstellung „Helden auf Augenhöhe“ erläutert; die Leser sollen zum aktiven Umgang mit diesen Serviceleistungen motiviert werden!
Im Namensregister eröffnet sich nochmals der Kosmos der Modelle, Vorbilder und Leitfiguren – von den großen bekannten bis hin zu den unbekannten...