»In mir habt Ihr einen, auf den
könnt Ihr nicht bauen.«
KONSTANTEN UND KONSTRUKTIONEN
Geschrieben hat er von Jugend an. Überliefert ist ein erstes Buchmanuskript, das Ernst Bornemann im Alter von 17 Jahren verfasst hat – 264 Seiten stark und für einen so jungen Autor bemerkenswert wohlformuliert.1 »Fahrt ohne Ziel« ist ein Bericht über eine Reise nach Schweden, die er im Sommer 1932 gemeinsamen mit seinem Freund Herbert Louis Steinthal unternommen hatte, Sohn des Berlin-Korrespondenten der linksliberalen Kopenhagener Tageszeitung Politiken. Das Buch beginnt mit einer Vorstellung der Protagonisten, die Hinweise auf des Autors Selbstwahrnehmung als junger Mann gibt: »Wir – das heißt Louis, siebzehn Jahre alt, dänischer Staatsangehöriger, seit mehr als zehn Jahren in Berlin ansässig, mittelgroß, schlank, ungeheuer höflich […]. Dann ich selbst, Ernst Bornemann, genannt Mac, Mackie oder – mit Fahrtennamen – Schlentiger. Ich bin sechzehn Jahre alt, deutscher Staatsangehöriger und wohne manchmal, wenn ich nicht gerade auf Fahrt bin, in der großen Stadt Berlin. Ich habe zwei Leidenschaften: zu tippeln und Negerlieder zu singen.« Der selbst gewählte Spitzname deutet auf eine Brecht-Affinität hin, Reiselust und Jazzbegeisterung werden lebenslange Passionen bleiben. Auch im weiteren Verlauf enthüllt der »Roman« die geistige Verfassung eines jungen Mannes mit einem starken Interesse für das Moderne in Architektur, Musik und Film, das sich auf der Fahrt von Norrköping über Stockholm, Göteborg und Kopenhagen im Angesicht des skandinavischen Funktionalismus entfaltet. »Endlich einmal neue Sachlichkeit aus Ziegeln, ich habe so lange danach gesucht, das Chilehaus in Hamburg war ja nur eine Zwischenlösung«. »Nirgends beleidigen Stuckornamente des Fin-de-Siècle-Stils das Auge des Beschauers.« Stockholm war für ihn »die leibhaftige Realisation einer Fritz Langschen Metropolisphantasie«, ihm gefiel die »amerikanisierte Atmosphäre« im Städtebau. Für Borneman war diese Reise auch ein »Abschied von der Jugend«, weil seine Eltern glaubten, aus wirtschaftlichen Gründen ihr Geschäft für Kinderbekleidung am Kaiserdamm 116 in Charlottenburg schließen zu müssen, und er, Ernest, sollte von der Schule abgehen und Geld verdienen in einer Stettiner Druckerei. Doch es kam anders.
Ernst Bornemann, am 12. April 1915 als einziges Kind von Curt und Hertha Bornemann (geb. Blochert) in Berlin geboren, blieb bis zum Sommer 1933 auf der Karl-Marx-Schule. Die von Fritz Karsen geleitete Reformschule war koedukativ, konfessionsübergreifend und sozial integrativ ausgerichtet und erprobte mit Projekten, polytechnischem Unterricht und Auflösung der Klassen neue pädagogische Formen. Der junge Mann liebte diese Schule, die seine letzte Rettung war, denn schon zwei Mal war er wegen politischer Aktivitäten von anderen Instituten verwiesen worden.2 Er war Mitglied des Sozialistischen Schülerbundes (SSB), einer KPD-nahen Organisation, und Redakteur ihrer Zeitschrift Schulkampf.3 Die Karl-Marx-Schule war eine Hochburg des SSB, an der u. a. die linken Theoretiker Karl Korsch, Siegfried Bernfeld und der KPD-Bildungspolitiker Edwin Hoernle unterrichteten.4 In der Rückschau deutete Borneman seine Sozialisation im SSB als entscheidenden Politisierungsimpuls, die Diskussion zwischen den verschiedenen sozialistisch-kommunistischen Strömungen »gehörten zu den interessantesten, lebendigsten und aufschlussreichsten Erlebnissen meiner Jugend«.5 Im Nachhinein attestierte er sich und seinen Freunden: »Wir waren frühreif: sexuell mit 14, politisch mit 15, intellektuell zwischen 14 und 16.«6
Faschingsfeier der Kunstklasse, Karl-Marx-Schule.
Borneman hintere Reihe, Dritter von rechts
Ernest Borneman – so nannte er sich seit der Emigration nach England – ging am 5. Juli 1933, wenige Wochen vor dem Abitur, aus Deutschland fort. Er gelangte mit einem Schülertransport nach London. In seiner 1977 erschienenen Autobiografie erklärte er seine Flucht damit, dass »Mitgliederlisten« von Wilhelm Reichs Sexualkliniken durch die SA beschlagnahmt worden seien, wodurch er gefährdet gewesen sei.7 In älteren Quellen aus der Nachkriegszeit, bei denen es um die Möglichkeit einer Wiedergutmachung ging, ist davon nicht die Rede, sondern es heißt unspezifischer: »Meiner Erinnerung nach geschah das Folgende: Ich empfing eine Warnung, dass ich bereits auf der Gestapo-Liste stand, und versuchte, mit dem Schüleraustausch aus Deutschland herauszukommen, da der Beamte, der sich mit der Liste der erwählten Schüler beschäftigte, ein Sozialdemokrat war, der meinen Namen im letzten Augenblick auf die Liste gesetzt hat.«8 Im Briefwechsel mit seinem Vater, der die Argumentationsmöglichkeiten abwog, wird Wilhelm Reich mit keinem Wort erwähnt, wohl aber ist von einer allgemeinen Bedrohung die Rede. »Dass Du Verfolgungen ausgesetzt warst, kann ich bezeugen. Du bist oft verspätet nach Haus gekommen, weil Euch die Oberschüler anderer Schulen und die älteren Hitlerjungen aufgelauert haben, um Euch zu verprügeln. Das wichtigste Argument aber um zu beweisen, dass die Gestapo bereits ein Auge auf Dich geworfen hatte, war dieses: Im Herbst 1933 […] kamen zwei baumlange Gestapoleute zu uns in den Laden, um Dich zu verhaften. Da Du glücklicherweise nicht anwesend warst, sondern schon in London, fragten sie uns über alles, was Du in den letzten Jahren getrieben hättest, genau aus und behaupteten bei dieser Gelegenheit auch, dass Du in Sowjetrussland gewesen seiest. Ein halbes Jahr später kam noch einmal ein Beamter, um sich nach Deinem Aufenthaltsort zu erkundigen.«9 Die Korrespondenz vom Sommer 1933 macht deutlich, dass die Eltern sich darum bemühten, ihren Sohn zur Rückkehr zu bewegen. Die Mutter schrieb ihm: »Schließlich brauchst Du ja nicht unbedingt raus aus Deutschland, wie so viele andere jetzt.«10 Der Vater meinte, er könne auch ohne Abitur als Volontär bei einer Zeitung unterkommen, allerdings nicht ohne Zugeständnisse an die politische Situation: »Du müsstest dann nur lernen, unpolitisch zu schreiben«.11 Obwohl der 18jährige sich in London wohl fühlte, gab es Phasen, in denen er mit dem Gedanken an eine Weiterreise spielte – New York und Brasilien wurden erwogen –, doch eine Rückkehr nach Berlin kam nicht in Frage.12 Ob nun tatsächlich aus politischen Gründen, aus Gründen der Abenteuerlust oder einer Mischung von beidem, ist nicht klar zu entscheiden. Als er im Frühjahr 1934 kurzzeitig doch die Rückkehr nach Deutschland erwog, rieten die Eltern ihm dringend ab – insbesondere die Mutter, die die Lage realistischer sah als der Vater. Als ein Verwandter, Ernst Levinsohn, 1938 Berlin verließ, berichtete ihm seine Tante Erna von dessen Verhör durch die Gestapo. Die hatte in Levinsohns Notizbuch Bornemans Adresse gefunden. »Hoffentlich schadet es Dir nicht. Er musste auf die Staatspolizei, um sich 4 Stunden kreuz und quer verhören zu lassen, schließlich musste er unterschreiben, dass er zum Herbst aus Deutschland heraus muss. Man hat ihm ganz genau gesagt, dass Du auf der Karl-Marx-Schule warst und sie wollten wissen, wie oft er mit Dir zusammen war, er will gesagt haben, wie eben öfter Verwandte zusammen kommen.«13
Curt und Hertha Bornemann auf dem Wannsee, 1937/38
Als Ernest Borneman 1935 die Aufforderung erreichte, sich in Deutschland der Wehrpflicht zu unterziehen, erschien er nicht.14 1936 meldete er sich beim deutschen Konsulat »zur Erfüllung der aktiven Dienstpflicht und Arbeitsdienstpflicht« und wurde zur Ersatzreserve II überwiesen. Das Dokument trug die Unterschrift des Konsuls, doch das Feld, in dem Borneman hätte unterschreiben müssen, blieb frei.15 Jedenfalls trat er nicht an, woraufhin ihm die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde.16 Die Naturalisierung in Großbritannien gelang vor Kriegsende nicht, aber seit Ende 1945, als er in Kanada eingebürgert wurde, wechselte er mehrfach nicht nur die Länder, sondern auch die Staatsangehörigkeiten: 1959 wurde er schließlich doch British subject, 1961 erkannten die bundesdeutschen Behörden seine deutsche Staatsangehörigkeit an, 1976 wurde er in Österreich naturalisiert. So oder so war die Emigration seine Rettung. Nüchtern schrieb er 1942, mitten im Krieg, seiner Freundin Eva: »If I had stayed home nine years ago I’d have a fair chance of being in my grave now«.17
Eva
Eva Geisel, geboren am 16. Juni 1912 in Barnes, England, und damit drei Jahre älter als Ernest Borneman, kam aus einer jüdischen Familie.18 Ihre Mutter war Engländerin, ihr Vater Deutscher. Nach dem 1931 in Berlin abgelegten Abitur studierte sie Germanistik, Anglistik und Publizistik in Freiburg und Berlin und ging im September 1933 nach London, wo sie u. a. als Film- und Theaterkritikerin beim New Statesman, außerdem bei Fenner Brockways New Leader arbeitete, seit 1937 war sie Mitarbeiterin der Presseabteilung von Columbia Pictures.19 Ihre Eltern folgten ihr nach den antisemitischen Pogromen von 1938 und emigrierten nach England. Während des Krieges war Eva Geisel politisch aktiv, unterstützte jüdische Flüchtlinge, sprach für die BBC Propagandasendungen, die sich an deutsche Frauen richteten, arbeitete für die Freie Deutsche Jugend und bewarb sich – ob mit oder...