Die Geschichte 5
Im Allgäu gab es drei Dinge, die ich aus Gelsenkirchen nicht kannte - Schwimmen, Tatzen und Schnee.
Alle meine Mitschüler konnten schwimmen, hatten sie doch bereits seit der Grundschule Schwimmunterricht gehabt. Bei uns dagegen hieß es immer: „Halte dich von der Emscher oder dem Rhein-Herne-Kanal fern - da sind schon einige ertrunken!“ während Manuela wusste: „Schwimmen lernt man im See!“ und die Beatles vom „Yellow Submarine“ - gelbes U-Boot -sangen.
So war der Spott in meiner Klasse anfangs auch ziemlich groß. Doch das machte mir nichts aus - auf der Stelle wollte ich Schwimmen lernen!
Und so lernte ich es ziemlich schnell - machte in den darauffolgenden Jahren sämtliche Schwimmabzeichen, die es gab - einschließlich des DLRG-Grundscheins!
Das mit den Tatzen hatte sich dagegen ziemlich schnell erledigt!
Man könnte natürlich jetzt eine Grundsatzdiskussion anfangen über Zucht und Ordnung an deutschen Schulen - habe ich aber keine Lust darauf - also lasse ich es für den Moment!
Früher, im eingeschneiten Allgäu, nahmen sich die Lehrer die Freiheit ihre Schüler(-innen) zu schlagen! Jawohl!!
Dabei wurde aber nicht wahl- oder ziellos geschlagen, sondern sehr diszipliniert! Als Schlagstock diente ein dünner Bambusstab, so wie ich ihn bis da-hin nur als Stütze für Topfpflanzen kannte.
Der böse Schüler musste sich vorne am Lehrerpult einfinden und seine Hand ausstrecken - mit der Handfläche nach oben. Die Wahl, welche Hand er hinhielt, bliebt ihm überlassen. Je nach Schwere des Vergehens schlug dann der Lehrer oder die Lehrerin dem Bösewicht, ein- bis fünfmal kräftig auf die Finger!
Und von der Straße drang das Lied der Beatles „I wanna hold your hand“ - „Ich möchte deine Hand halten“ - ins Klassenzimmer.
Ich konnte mich meines ersten Vergehens nicht mehr erinnern, aber es gab drei Tatzen dafür! In Gelsenkirchen wäre dies wohl eine halbe Stunde in der Ecke stehen gewesen? Und ich konnte mich nicht erinnern, dass mich mein Vater jemals geschlagen hat. Doch ich konnte mich noch sehr schwach daran erinnern, dass meine Mutter damals ein- oder zweimal eine Ohrfeige von meinem Opa bekam - und das als verheiratete Frau - wenn ihr einmal die Hand gegen uns Kindern ausgerutscht war! Er sagte dann: „Wir schlagen keine Kinder!“ Obwohl er auch seine Tochter ohrfeigte - aber die war ja da schon kein Kind mehr - vom Alter her …!
Vielleicht hatte auch sie das noch sehr gut in Erinnerung. Auf jeden Fall machte sie daraufhin ziemlichen Trubel in der Schule - und zerstörte damit meine Ambitionen (so sie denn da gewesen wären) einmal Tatzen König in unserer Klasse zu werden - ich bekam von da an einfach keine mehr!
Dafür stand der nächste Spott ins Haus, als ich das erste Mal auf Skiern stand. Doch auch diese Herausforderung meisterte ich mit Bravour, war es mir immerhin möglich, mit den alten Holzskiern meines Vaters, die über zwei Meter lang waren und eine Federzugbindung hatten, unbeschadet den Ski-Hang unserer kleinen Gemeinde hinunter zu kommen!
Auch hier kann ich sagen, dass ich eine schöne Jugendzeit in Leutkirch verbracht hatte. Nicht zuletzt deswegen, weil mir meine Eltern einen sehr großen Spielraum an Freiheit gewährten - und ich es ihnen damit dankte, keinen übermäßigen Mist zu bauen -oder meine Pflichten zu vernachlässigen.
So verging die Schulzeit in der Hauptschule ohne größere nennenswerte Vorkommnisse.
Außer, dass ich mir bei einer Turnübung am Gartenzaun einen meiner Schneidezähne ausschlug, was Drafi Deutscher veranlasste zu singen: „Marmor Stein und Eisen bricht!“.
Ich war trotz der neuen Umgebung ein solch guter Schüler, dass es zur Diskussion stand, in die Realschule zu wechseln. Die daheim - in Gelsenkirchen - wären sicherlich stolz auf mich gewesen!
Nur das mit der Realschule zog sich noch ein wenig! Aufgrund von Sprachproblemen - so meinte mein damaliger Klassenlehrer - wurde die Empfehlung ausgesprochen, mich noch ein Jahr länger in der Hauptschule zu belassen!
Das war das erste Mal in meinem Leben, dass mir wegen der Unzulänglichkeiten anderer, Schlechtes widerfuhr, was die Rolling Stones prompt mit der Nummer „I can‘t get no satisfaction“ - „Mir widerfährt keine Gerechtigkeit“ (ziemlich, sehr ziemlich frei übersetzt) zu quittieren wussten.
Denn eigentlich war ich derjenige, der ein lupenreines Deutsch sprach - und den jeder, auch die Eingeborenen hier im Allgäu verstanden!
Also Sprachprobleme hatte ich sicherlich keine - eher diejenigen, die z.T. nur in halben Worten sprachen -und dann auch noch so verwaschen, dass man sich nur schwer etwas darunter vorstellen konnte - wie z.B. „weischt“, was so viel wie „weißt du“ hieß - oder „So isch es halt“, was so viel wie „So ist es nun einmal!“ oder aber auch, und das ganz oft, „Ende der Diskussion!“ bedeutete.
Also nahm ich die Demütigung hin, blieb noch ein Jahr länger in der Hauptschule und wechselte trotz aller Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten 1966 in die Realschule über.
Von da an klinkten sich meine Eltern sozusagen gänzlich aus meinem Leben aus - was zumindest den schulischen und beruflichen Werdegang betraf.
Sie konnte mit diesem Englisch und dem Rechnen, das ja nun Mathematik hieß, nichts anfangen! Beide meiner Eltern hatten durch die Kriegsjahre nur eine dürftige Schulausbildung erhalten und konnten mir schlichtweg nicht bei den Hausaufgaben helfen.
Die Realschulzeit war einfach nur klasse!
Zum einen deshalb, weil sie mir half ein Kindheitstrauma erfolgreich zu bekämpfen und mich gegen meine Eltern durchzusetzen, was mein äußeres Erscheinungsbild betraf.
Es gab nämlich eine sehr, sehr lange Zeit in der mich eine weitere tiefgründige Frage beschäftigte. Ich war damals mit meinem Aussehen nicht sehr zufrieden.
Und das kam so:
Es gab in den sechziger Jahren ein Plakat, welches wohl in jedem Klassen-zimmer oder Büro hing.
Darauf war im unteren Teil des Bildes zu lesen „Nobody is perfect!“. - Zu gut deutsch: „Niemand ist perfekt!“
Darüber war das Abbild eines Jungen zu sehen, welcher ganz kurze Haare hatte, Segelohren, die den Ohren eines Elefanten glichen und vorstehende Zähne, die sofort an einen Hasen erinnerten. Sommersprossen rundeten das Bild dieses Schönlings malerisch ab!
Unabhängig davon lief gerade im Fernsehen die Serie Bugs Bunny, deren Hauptdarsteller - ein Comics-Hase, ähnlich wie oben geschildert aussah.
Obwohl ich keine Sommersprossen hatte, quälte mich lange die Frage, ob meine Eltern so sehr Gefallen an diesem Poster bzw. an dieser Comics-Figur gefunden hatten, dass sie mich genauso, nach deren Vorbild, stylten.
Man konnte sich aber auch anders herum fragen, ob der Designer dieses Posters mich einmal auf der Straße hatte laufen sehen und dermaßen inspiriert war, dass er diesen Bestseller-Stern am Poster Himmel aufsteigen ließ?
Da war es nur ein schwacher Trost, dass Peter Alexander sang: „Ich will ein Bild von dir“. Dem Ganzen kam der Song der Rainbows: „My Baby Balla Balla“ schon erheblich näher.
Die Antwort auf diese Frage jedoch, ist mir bis heute verborgen geblieben.
Im Radio verdrängten immer mehr englisch singende Gruppen den guten alten deutschen Schlager.
Deshalb war es in der Realschule so, dass etliche meiner Mitschüler nach dem Vorbild der Beatles oder Rolling Stones, ihre Haare schulterlang trugen. Es gab auch einige, die sich ihre Haut schwarz wachsen ließen, um einem Jimi Hendrix gleich zu sehen … (Was natürlich nicht stimmt, hier an dieser Stelle aber als „schlechter“ Witz eingefügt ist, um zu zeige, wie sehr wir damals unseren Idolen nachäfften!).
Sei‘s drum. Ich musste mir also auch, zum großen Leidwesen meines Vaters, die Haare wachsen lassen, um im Klassenverbund dazu gehören zu können.
Was nicht nur den Vorteil hatte, dass die langen Haare meine Segelohren überdeckten, sondern auch den, dass ich zum Mädchenschwarm mutierte. So konnte ich dann im Laufe der Jahre, an der Seite hübscher Mädchen, meine Ohren platt liegen …
In der Schule waren wir unserer Zeit voraus, wenn man bedenkt, dass es heutzutage Menschen gibt, die eine Schuluniform einführen möchten.
Wenn man so will, dann trugen wir damals schon eine Art Schuluniform. Die bestand aus diesen Jeans mit den unendlich breiten Hosenbeinen und aus den abgetragenen Arbeitsjacken der Bundeswehr - ganz im Widerspruch zu unserer Gesinnung, denn schließlich lebten wir ja in der Zeit von „Love, Peace and Happiness“ - „Liebe, Frieden und Glücklich sein“. Das große Woodstock-Festival im August 1969, welches ich im zarten Alter von vierzehn Jahren erleben durfte, veränderte dann noch einmal alles, was die Musikszene bis dahin erlebt hatte! Ab sofort war es Pflicht, Jimi Hendrix, The Who, Ten Years After, Santana oder Joe Cocker zu hören. Unsere ganze Schulklasse verabschiedete sich auf der Stelle von der deutschsprachigen Musik und unsere Haare wurden immer länger. Wahrscheinlich hätten wir damals gesagt: „Das ist eine geile...