1. Kapitel
Ins Freie, ins Licht!
Monte Verità, Berg der Wahrheit, so wird eine Anhöhe oberhalb Asconas am Lago Maggiore im Tessin genannt. Als Berg beeindruckt er nicht. Das sich ans Seeufer schmiegende Ascona ist die tiefstgelegene Ortschaft der Schweiz, und mit dreihundertfünfzig Metern über normal null ist der Monte Verità wahrscheinlich der niedrigste Berg des gesamten alpenländischen Raums.
Im Herbst 1900, als eine kleine Gruppe von Aussteigern in Ascona ankam und den Hügel zu besiedeln begann, war der ohnehin schon mickrige Berg geradezu auf dem Tiefpunkt seiner Existenz angelangt. Erst wenige Jahrzehnte zuvor war die Reblaus aus Amerika nach Europa eingeschleppt worden und hatte bereits ganze Weinbaugebiete kahl gefressen. Nur die verstreuten Ruinen primitiver Steinhäuschen erinnerten daran, dass hier vor Kurzem noch reger Weinbau jenem Teil der Asconeser Bevölkerung, der nicht vom Fischen lebte, ein Auskommen verschafft hatte. Viele Einheimische gingen mittlerweile den umgekehrten Weg der Reblaus, in der Hoffnung, jenseits des Atlantiks ein besseres Leben zu finden. Währenddessen trieben Schaf- und Ziegenhirten ihre Herden über den kargen Boden des Hügels, sodass dort kaum noch Pflanzen und Bäume wuchsen und seine Kuppe einen kahlen, wenig einladenden Anblick bot.
Näherte man sich dem Hügel allerdings nicht von der seezugewandten Seite, sondern hinterrücks, von den beiden ihn überragenden Bergen her, die so verwunschene Namen tragen wie Balladrum und Gratena, sah die Sache gleich freundlicher aus. Dann führte ein alter Pilgerpfad durch wildwüchsige Kastanienwälder, wie sie bis heute im Tessin vorkommen, vorbei an einer wuchtigen Wallfahrtskirche, wo einst in einer Zeit schrecklicher Trockenheit über Nacht eine Quelle hervorgebrochen sein soll. Nach einer leichten Steigung mündete der Pfad auf eine Lichtung zwischen den drei Bergen. Von hier aus konnte man dem alten Römerpfad Richtung Süden folgen, der in idealer Höhe über den Wassern des Lago Maggiore verläuft. Hielt man sich hingegen scharf links, führte ein steiler Anstieg im Nu auf den Gipfel.
Traumhaft dann der Blick über den See, dessen Wasser je nach Wetter und Tageszeit grün oder bläulich schimmert. Im weiten Umkreis hohe dunkelgrüne Bergzüge; zum Norden hin sind die schneebedeckten Zacken der Alpenkette zu sehen, gen Süden scheint sich der See in der Ewigkeit zu verlieren. In Wirklichkeit erstreckt er sich weit hinein nach Italien bis an den Rand der Poebene. Gut möglich, dass man sich auf dem kleinen Berg mit seinem großen Rundblick fühlt wie auf einem Balkon, auf dem der Norden und der Süden des Kontinents einander berühren.
Trotzdem deutete im Spätsommer des Jahres 1900 wenig darauf hin, dass der Hügel über Ascona einmal zum Symbol für die Suche nach einem alternativen, zu unseren wahren Bedürfnissen passenden Leben werden und Menschen aus der ganzen Welt, darunter viele Künstler, anziehen sollte. Zu dieser Zeit hieß er noch nicht einmal so. Monte Monescia nannten ihn die Einheimischen oder auch Pai Mött, was so viel heißt wie Wiesenhügel oder Grüner Hügel. In den »Mött«, den Hügeln über dem Dorf, sammelten die Einheimischen Pilze, Kastanien und Feuerholz. Wer weiß, ob der kleine Berg ohne die Umbenennung in »Monte Verità« jemals die Anziehungskraft entfaltet hätte, die er sich durch eine wechselvolle Geschichte hindurch bis heute bewahrt hat. Indem zwei der hier ankommenden Aussteiger der von ihnen gegründeten Heilanstalt diesen genialen Namen gaben, haben sie allem, was auf dem und rund um den Hügel bei Ascona passierte, einen Markennamen verschafft. Als Monte Verità ist der Berg noch heute auf den Landkarten und in Reiseführern verzeichnet. Der Traum von einem alternativen Leben hat seitdem einen Schauplatz, und dieser Schauplatz steht für sein zentrales Motiv: Du musst, du kannst dein Leben ändern.
Gerade einmal sechs Menschen sind es, die sich von München aus aufmachen, um nach einer mehrwöchigen Odyssee den kleinen, kahlen Berg für ihre ganz persönliche Lebensreform zu entdecken. Es sind dies die Schwestern Ida und Jenny Hofmann, beide Musikerinnen. Sodann die Brüder Karl und Gustav Gräser, der erste und ältere ein an den Grenzen des Habsburgerreiches stationierter, soeben demissionierter Soldat, der zweite und jüngere ein Maler und Lebenskünstler mit Sendungsbewusstsein und einem ausgeprägten Hang zur Nichtsesshaftigkeit. Dazu kommen noch der vermögende belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven sowie Lotte Hattemer, ein aus der elterlichen Gewalt entflohenes Mädchen mit einer Vorliebe für Esoterisches. Zwei Geschwisterpaare also und bald schon zwei Liebespaare. Zwei Musikerinnen, ein Künstler, ein entlaufener Soldat, ein reicher Erbe und ein Hippiemädchen. Eine bunte, nicht gerade alltägliche, europäische Mischung.
Kennengelernt haben sich drei von den sechs – Ida, Henri und Karl, die prägenden Figuren der Aussteigergruppe – bereits im Jahr zuvor im oberkrainischen Veldes, dem heutigen slowenischen Bled. Da hatte das neue Jahrhundert noch nicht begonnen, das alte aber lag gefühlt schon längst auf dem Siechbett. Ergebnis war ein diffuses Schwanken zwischen Endzeit- und Aufbruchsstimmung, zwischen Zukunftsangst und Zukunftseuphorie, das die Ästheten unter den Bürgern Fin de Siècle nannten, während die Aktivisten unter ihnen es mit einer Reform des Lebens an Haupt und Gliedern zu kurieren gedachten. Auch in Veldes prägte ein hügelumstandener See mit hohen Bergen im Hintergrund das Landschaftsbild. Und unübersehbar auf einem der Hügel hatte der Schweizer Naturheiler Arnold Rikli eine Anstalt errichtet, wie sie damals an vielen Orten in Europa entstanden – Sanatorien, die die vor allem im Bürgertum grassierende Jahrhundertwende-Depression mithilfe der Natur, mit Sonne, Licht und Luft zu heilen versprachen. Hier beginnt die Geschichte des Monte Verità.
Beim Sonnendoktor
Arnold Rikli, Hydro- und Heliopath sowie Erfinder der Lichtlufthütte, von seinen Anhängern »Sonnendoktor« genannt, von seinen Gegnern als »Narrenkönig« verspottet, steht auf einer Anhöhe. Das über der Brust offene Hemd bedeckt nur locker den Oberkörper, auch die knielangen Sporthosen sind weit geschnitten, die Füße unbeschuht. Mit dem rechten Zeigefinger weist er zur Sonne hin, als wolle er sagen: Ich bin hier, um allen das Licht zu zeigen. In der linken Hand hält er einen fast mannshohen Wanderstab, an dessen oberem Ende ein goldener Knauf und eine Sichel blitzen. Das schlohweiße Haar ist zurückgekämmt, ein Schnäuzer beherrscht das von Wind und Wetter gegerbte Gesicht mit dem männlich entschlossenen, stolzen Blick. So ließ sich der gebürtige Schweizer aus Wangen an der Aare, Gründer und Leiter der Heilanstalt Mallnerbrunn in Veldes, gerne fotografieren. Das Bild zierte die Werbeprospekte seines Sanatoriums und die Titelblätter seiner Broschüren zu einem besseren, gesünderen, naturnahen Leben.
Gut zwei Drittel der Originalfotografie nahm dabei eine der von ihm propagierten Lichtlufthütten ein – ein primitiv anmutendes Modell der ersten Stunde. Seit seiner Ankunft in Veldes im Jahr 1854 hatte Rikli in dem einfachen Holzverschlag von Mitte Mai bis Mitte Oktober jede Nacht verbracht. Stürmte es, so kam es vor, dass das dünne Dach durchlässig wurde und er im Bett den Regenschirm aufspannen musste. Am nächsten Abend fand er dann eine gut durchfeuchtete Schlafstatt vor. Trotzdem – Rikli behauptete, gerade deswegen – war er seither kaum ernsthaft krank gewesen, im Gegensatz zu früher, als er noch, wie es in bürgerlichen Kreisen Usus war, die Nacht unter schweren Federbetten in wenig bis gar nicht durchlüfteten Räumen verbracht hatte. Nichts sei so rasch »der Verderbnis unterworfen, als stillstehende, eingesperrte Luft«, verkündete Rikli. Der Wassertherapeut Gustav Wolbold, wie Rikli ein Autodidakt, hatte es ausgerechnet und das Ergebnis bereits 1877 im Naturarzt, der wichtigsten Zeitschrift der Naturheilbewegung, publiziert: Die Luft eines Zimmers, in dem drei Personen eine Nacht geschlafen hatten, enthielt, sage und schreibe, »2 Pfd. ausgedünstete Haut-Auswurfstoffe und 20 Kubikfuß Lungenexcremente-Kohlensäure«. Bedurfte es da noch eines weiteren Beweises, dass der größte Verunreiniger der Luft der Mensch selbst mit seinen Körperausscheidungen ist? Wir alle, das war schon damals klar, sind auf dem besten Wege, uns selbst zu vergiften. Autointoxikation lautete die Diagnose der Epoche. Dagegen hilft vor allem eins: frische Luft, die Rückkehr zur Hütte.
Rikli hatte dafür gesorgt, dass Mallnerbrunn inzwischen mit über fünfzig komfortablen, weniger archaisch anmutenden Lichtlufthütten bestückt war. Während die gewöhnlichen Bauwerke der Zeit mit ihren üppigen Formen und ihrem plüschigen Dekor die Bewohner gegenüber Licht und Luft abschirmten, waren die zum Veldeser See hin offenen und nur mit den nötigsten Einrichtungsgegenständen versehenen Kurbehausungen Arnold Riklis schlichte Umhüllungen, die den permanenten Austausch mit der umgebenden Natur ermöglichten. Sie glichen, wie ein Zeitgenosse, selbst Leiter einer Naturheilanstalt, treffend bemerkte, hygienischen Apparaten, um einen gesunden Körper zu erzeugen. Unter den Gästen von Riklis Sanatorium, die während ihres Aufenthalts sich solchen Apparaten anvertrauten, waren im Spätsommer des Jahres 1899 auch Ida Hofmann, Henri Oedenkoven und Karl Gräser. Wie vom Anstaltsleiter vorgelebt, schliefen sie an frischer Luft und wurden vom ersten Licht des anbrechenden Tages geweckt, der dann ein ausgedehntes Fitness- und Wellnessprogramm in freier Natur für sie bereithielt, das mit so wenig Kleidung am...