Männer sitzen um einen Tisch, die türkischen Paschas, die sogenannten. Alle in einem Raum, wer hätte das gedacht, sagt Kazım. Immer wurde doch nur über sie geredet, nicht mit ihnen.
Männer im Anzug, Männer im Blaumann, Männer im Hoodie. Männer, die geschlagen wurden als Söhne, Männer, die schlagen als Väter; Männer, die ihre Frau verloren und ihre Ehre; Männer, die in dieses Land kamen, um eine Braut zu finden, und nun Frau und Schwiegereltern haben, aber keine Arbeit, kein Ansehen; Männer, die Taschengeld bekommen, zu denen die Frau sagt: Was, du willst ein Mann sein? Du bist kein Mann, ohne Hartz IV kannst du dir nicht mal eine Unterhose kaufen. Vätergruppe nennen sie sich, oder, nüchterner, Männergruppe. Es ist eine einfache Bezeichnung für das Einfache, was sie tun und auf das niemand vor Kazım gekommen war: diese Männer zusammenzurufen, mit ihnen zusammenzusitzen, zusammen zu reden.
Einer der Männer sagt: Kazım ist sehr unauffällig, man denkt im ersten Moment, er ist Schuhputzer oder Kamelverkäufer. Derselbe Mann sagt auch: Kazım erkennt man erst, wenn er anfängt zu reden, das kann er wie niemand sonst. Ohne Kazım, sagt ein anderer Mann, überlegt eine Weile, dann: Sähe es schlecht aus. Wie genau? Er antwortet mit Schulterzucken.
Kazım sagt zu den Männern: Ich appelliere an euch, sprecht frei, sprecht ohne Angst. Es ist keine Schwäche, über Probleme zu reden, es zeugt von Stärke. Nur wenn wir offen reden, helfen wir einander, helfen wir unserer Familie und der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist nur stark, wenn die Menschen, die in ihr leben, offen diskutieren. Ich bin der glücklichste Mensch der Welt, wenn wir diesen Ort, diese Männergruppe, zu einer Volksuniversität machen.
Dieser Ort ist ein simpler Raum, Erdgeschoss, gelegen zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße, Berlin-Neukölln. Es gibt Stühle, Tische, Tee, mehr braucht es nicht. Wenn dieser Ort eine Universität ist, dann bietet sie ein Studium generale des Lebens. Eines, für das man nicht in Büchern liest, sondern in sich selbst. Die Männer, die hier sitzen, waren reden nicht gewohnt. Als sie noch Jungen waren, hatten sie meist gehört: Du bist ein Mann, ein Mann ist Herkules, weint nicht, kümmert sich um die Familie, schützt die Familie, ein Mann redet nicht, schon gar nicht über Probleme. Ein Mann, der nicht redet, geht ins Männercafé, spielt, trinkt vielleicht oder wird süchtig, schlägt womöglich, geht in die Moschee, betet zu Allah, dass er alles löse, wartet und schließt sich ab von der deutschen Welt um sich herum, lebt in einer Nische. Er ist ein Mann, der Probleme hat, Probleme macht und selbst Problem genannt wird.
Einmal fragte Kazım die Männer: Mit welchen Erwartungen kamt ihr nach Deutschland, wie geht es euch hier?
Ein Erster sagte: Ich kam vor über zwanzig Jahren, heiratete eine Verwandte, wusste nichts von diesem Land, ich bereue es. Ich habe mich immer sehr fremd gefühlt.
Ein Zweiter sagte: Ich kam ’83. Ich habe Sehnsucht, wenn ich an die Türkei denke, aber ich habe mich in Deutschland an die Freiheit gewöhnt. In der Türkei mischt sich jeder in deine Angelegenheiten ein. Wenn es dort wäre wie hier, würden sicherlich viele zurückkehren. Aber wir haben in diesem Land Kinder, Enkelkinder, so blieben wir hier stecken.
Ein Dritter sagte: Mein Onkel erzählte mir, erst wenn du von diesem Land träumst, hast du dich dran gewöhnt. Er lebte seit fünfundvierzig Jahren hier und hatte noch nie von Deutschland geträumt. Ich träumte das erste Mal von Deutschland, als meine Kinder geboren wurden. Ich wusste, nun gehören sie und ich hierher.
Männer sitzen und reden über Heimat, Fremde, über Heimat in der Fremde, Fremde in der Heimat. Sie reden über Ankommen oder warum sie nicht ankamen, über ihre Familie, über die Gesellschaft, über das, was sie verletzt, über Träume, Wunden, Wut.
Einer der Männer mietete sich mal ein Auto, seine Frau lebte in einer anderen Stadt, lebte dort mit ihrem gemeinsamen Kind und einem anderen. Er saß am Steuer, und auf den Sitz neben sich hatte er ein großes Messer gelegt. Er fuhr zwei, drei Stunden, dann dachte er daran, wie er unter den Männern gesessen hatte, um Gewalt an Frauen war es gegangen, Gewalt, die zu nichts führt, nur ins Gefängnis: Was mache ich hier? Er fuhr zurück.
Manchmal hat Kazım auch Leben gerettet, sagt einer der Männer. Kazım sagt nicht, denk dies, denk das, er wirft dir den Ball zu und fordert dich auf, selbst zu denken, sagt ein anderer. Gib einem Mann einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag; lehre einen Mann zu fischen, und du ernährst ihn für sein Leben.
Kazım, der weder Kamelverkäufer ist noch Schuhputzer, kam Mitte der Siebziger aus der Türkei nach Deutschland. Er konnte kein Deutsch, arbeitete in den ersten Jahren als Hilfsarbeiter, schleppte Getränkekisten und grillte Würstchen, studierte, war Lehrer, Schulpsychologe und zuletzt bei einer Familienberatungsstelle vom Bezirksamt Neukölln. Dort arbeitete er die eine Hälfte des Tages, die andere Hälfte bei seinen Ehrenämtern. Die Männergruppe, mit der er sich jeden Montagabend, achtzehn Uhr, trifft, ist nicht das Einzige, was er gegründet hat: auch eine Beratung für Spielsüchtige, Wochen der Sprache und des Lesens, eine Frauengruppe, eine internationale Männergruppe – das sind die großen Projekte seines Vereins »Aufbruch Neukölln«. Er sieht, wo er anpacken kann, und er würde noch schneller anpacken, wenn ihm nicht immer Geld fehlen würde. Anruf bei Stiftungen, Unternehmen: Wissen Sie was, ich habe heute Nacht geträumt, dass Sie mein Projekt unterstützen, der Traum wird doch in Erfüllung gehen?
Anfangs sahen viele in ihm einen Spinner. Sie sagten: Mit diesen verschlossenen türkischen Männern über Gefühle reden? Das schaffst du nicht! Sie sagten: Eine Sprachwoche? In Neukölln liest doch keiner, jetzt übernimmst du dich! Wenn zu abstrakt, zu argwöhnisch geredet wird, ärgert sich Kazım, er will keine Probleme beschreiben. Wenn ich ein Problem sehe, sagt er, dann handle ich.
Einige, die zu Kazım kamen, wurden offiziell in einer Akte der Beratungsstelle geführt und gingen dann, ohne dass sie es mitbekamen, in sein Ehrenamt über. Sie kamen einfach weiter in sein Büro, und Kazım kümmerte sich, las die Briefe der Behörden, die sie mitbrachten, hörte sich nach einem Job für sie um, sagte ihnen, was zu tun sei, wenn der Strom abgestellt wird. Er hatte Männer bei sich sitzen, drei, vier Monate tranken sie Tee und sagten nicht, was los war. Nach einiger Zeit fragte Kazım: Kann es sein, dass Sie betrogen worden sind? Sie wurden rot, schauten auf den Boden, fühlten sich schwach, und er sagte: Das kann dem stärksten Mann passieren! So einen Satz waren sie nicht gewohnt. Kazım versuchte sie rauszuholen aus dem Anzug, den sie trugen: Wir, die Machos.
Er schafft erst mal eine Atmosphäre, sagen Kazıms Kollegen in der Beratungsstelle, er schenkt Tee ein, und dann hat er nicht nur den distanzierten therapeutischen Ansatz: Erkenne dich selbst, hilf dir selbst, handle, wenn du so weit bist. Er ist wie ein Ältester der Familie, der auch mal fordert: Die Dinge müssen jetzt geschehen. Meine anatolische Art, sagt Kazım und lacht. Er könne seinen Klienten mit türkischer Zuwanderungsgeschichte nicht sagen: Würden Sie zum Jugendamt gehen? Ja, denken sie dann, würde ich. Ein Konjunktiv kann Monate anhalten. Also sagt er: Morgen früh gehen Sie hin, acht Uhr, wenn Sie da gewesen sind, rufen Sie mich an, das ist verbindlich.
Ich bin der größte Narzisst der Welt, hat Kazım einmal gesagt. Meine Frau hat mein Leben ruiniert, sagt Kazım öfter. Und als er operiert werden musste und die Ärztin verordnete: Am Morgen nur was Leichtes, sagte er, kein Problem, ich schlachte nur ein Lamm fürs Frühstück. Und die Ärztin: Ein Lamm? Nein, also ein Lamm, das geht nicht!
Keiner dieser drei Sätze ist wahr. Jeder, der ihn kennt, weiß das. Doch man muss diese Sätze verstehen, um eine Ahnung zu bekommen, wer Kazım ist und wie er das schafft: Menschen mitzuziehen.
Das mit dem Lamm: Ein Scherz natürlich, verriet Kazım der Ärztin aber nicht. Erst beim nächsten Mal, danke, sagte er, danke, weil Sie mir die Geschichte glaubten, so viele haben gelacht. Das mit seiner Frau: ein Scherz natürlich. Ob es sonst eine ausgehalten hätte, fragt sich Kazım, und Gülşen, die es aushielt, antwortet manchmal immer noch: bin verheiratet, aber ledig. Größter Narzisst der Welt: Nur wenn man davon ausgeht, dass er so viel gibt und umso mehr zurückbekommt.
Es ist wahr, Kazım bekam viel zurück. Bedrohungen: Was erzählen Sie meiner Frau? Ich bringe Sie um! Beleidigungen: Sie Haustürke! Beschimpfungen: Dreckiger Türke, wir wollen dich nicht, deine Arbeit nicht, pack die Koffer, verschwinde! Er bekam viele Anrufe, spätabends und am Wochenende. Und er bekam noch was: das Bundesverdienstkreuz.
Man kann es schaffen, von unten, das will Kazım immer zeigen.
Kazım ist in seinen Sechzigern, doppelt so alt wie ich. Kennengelernt haben wir uns vor sechs Jahren, wenig später wurden wir Freunde. Als ich das erste Mal in sein Büro kam, saß er an seinem Computer und schaute sich um, etwas grimmig sah das aus, er stand auf, noch immer grimmig, und sagte nichts, dann lösten sich seine Gesichtszüge: Merhaba, seine Stimme war zugleich zart und bestimmt. Trinken wir einen Çay? Diese Situation wiederholte sich viele Male, mit der Zeit verstand ich, dass Kazım nicht grimmig schaut, sondern einen scannt, man könnte es auch so sagen: Er sieht einen an.
Damals, 2011,...