Im ersten Teil dieser Arbeit wurde herausgearbeitet, dass Freiarbeit ein zentraler Bestandteil der Unterrichtsorganisation in der Montessori-Pädagogik ist. Montessori hat ein ausführliches Konzept für die Anwendung ihrer Pädagogik in der Grundschule entwickelt und erprobt, für die Sekundarschule existiert nur ein theoretischer Entwurf. Dieser Teil der Arbeit befasst sich mit der Montessori-Sekundarschule, wie Montessori selbst sie geplant hat und wie dieser Plan heute in Sekundarschulen in die Praxis umgesetzt wird. Im Vordergrund der Betrachtung steht die Freiarbeit, es soll geprüft werden, ob diese Arbeitsform auch an weiterführenden Schulen ein zentrales Element der Unterrichtsorganisation sein kann und welche Formen der Freiarbeit den entwicklungsbedingten Bedürfnissen der Jugendlichen entsprechen.
Montessoris pädagogisches Konzept für Kinderhaus und Primarschule ist international bekannt und anerkannt. Weniger bekannt ist jedoch, dass ihr Werk sich nicht nur auf die frühe Kindheit beschränkt, vielmehr hat Montessori sich mit der Entwicklung des Menschen bis hin zum Erwachsenenalter befasst. Montessori zufolge stellt die menschliche Persönlichkeit durch alle Entwicklungsstufen hindurch eine Einheit dar, so dass die Erziehungsprinzipien ihrer Pädagogik, vor allem das Prinzip der Selbsttätigkeit in Freiheit, auch im Jugendalter von 12-18 Jahren angewendet werden können und sollen.[143] Montessori hat in diesem Sinne das Konzept für eine „Erfahrungsschule des sozialen Lebens“ entworfen, basierend auf den gesellschaftlichen Erfordernissen ihrer Zeit und – in der Hauptsache, auf den natürlichen Vorgaben der Entwicklung, die sich aus den in II 1.3.3 beschriebenen Sensitivitäten des Jugendalters ergeben. Das von Montessori entwickelte Erziehungskonzept für das Jugendalter, auch bekannt als ‚Erdkinderplan’, ist von ihr jedoch nie praktisch umgesetzt worden. Dennoch gibt es seit 1930 in den Niederlanden Montessori-Sekundar-schulen, sog. Montessori- Lyzeen, die von Montessori auch gebilligt wurden. In Deutschland ist ein deutlicher Zuwachs auf diesem Sektor erst seit den 70er Jahren zu verzeichnen.[144] Allerdings kann aus bildungspolitischen Gründen das weit reichende Reformkonzept Montessoris nur sehr begrenzt umgesetzt werden.
In diesem Kapitel soll zunächst die Kritik Montessoris am damaligen Bildungssystem erläutert werden, da diese zusammen mit den Sensibilitäten des Jugendalters (vergl. dazu II 1.3.3) Ausgangspunkt für das anschließend vorgestellte Modell des ‚Erdkinderplans’ ist.
Die Kritik an Schulen der Sekundarstufe und die damit verbundenen Bemühungen, diese an die Bedürfnisse der Schüler anzupassen, hat ihren Ursprung in der reformpädagogischen Bewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts. Die Schulkritik Montessoris ist vielschichtig und geht von zwei Polen aus: „Die Schulen, so wie sie heute sind, sind weder den Bedürfnissen des jungen Menschen noch denen unserer jetzigen Gesellschaft angepasst.“[145] Die Schule hält ihrer Ansicht nach nicht mit dem gesellschaftlichen Fortschritt mit, was zu einer mangelnden Übereinstimmung zwischen kultureller und schulischer Entwicklung führt und somit eine unzureichende Vorbereitung des Jugendlichen auf die Bedingungen seiner Lebenswelt zur Folge hat. Die Schule ist weltfremd und auch die Inhalte, die sie vermittelt, sind nicht an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert. Montessori kritisiert in diesem Zusammenhang aber nicht nur die Inhalte, sondern vor allem auch die Art der Vermittlung und die damit verbundene Rolle des Lehrers im traditionell lehrerzentrierten Unterricht. Der Schüler wird zum Objekt von Erziehung und Unterricht, seine spontane Aktivität wird unterbunden, so dass ihm eine entwicklungshemmende Passivität aufgezwungen wird. „Die so verstandene Erziehung ist nicht eine Erziehung des Lebens für den Menschen, […]. Man beachtet in der gegenwärtig üblichen Schulerziehung der Jugendlichen überhaupt nicht das, was den Reichtum des Menschen begründet, d.h. seine Würde, sein Vermögen, zu handeln und jemand in der Gesellschaft zu sein.“[146] Montessori schreibt der Institution Schule einen Zwangscharakter zu, da die Lebensentfaltung der Schüler durch Lehrer, Inhalte und Gestaltung unterdrückt wird, ihnen die Handlungen von außen aufgezwungen werden und ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Typische Merkmale von Schule sind Belohnung und Strafe, Verbote und geschlossene Türen. Sie ist – genau wie ihre Pädagogik, nur auf die Erwachsenen ausgerichtet und unterliegt dem „Prinzip der Unterdrückung“.[147] Montessori kritisiert neben der Institution insbesondere auch die Organisation der Schule und in diesem Zusammenhang ausdrücklich das Einteilen des Schultages in abwechselnde Unterrichtsstunden, die ohne logischen Zusammenhang aufeinander folgen, so dass die Schüler in ihrem Konzentrationsverlauf unterbrochen und in ihrer Entwicklung gehemmt werden. „Mit einer solchen Handlung glaubt man, den Bildungsgang des Kindes zu leiten, aber in Wirklichkeit führt man das Kind in Verwirrung und stört die Entwicklung seiner Bildung.“[148]
Vergleicht man diese wesentlichen Kritikpunkte Montessoris am damaligen Schulwesen mit ihren im Kapitel II 2 dargelegten Vorstellungen von Freiheit und Selbsttätigkeit von Schülern im Unterricht, wird verständlich, warum sie eine grundlegende Reform der höheren Schulbildung fordert. Vergleicht man des weiteren die geschilderte Situation mit der von Sekundarschulen heute, an dieser Stelle seien nur das häufig kritisierte Fachlehrerprinzip, mangelnde Methodenvielfalt und Unterricht im 45-Minutentakt erwähnt, erkennt man leicht die Aktualität der montessorischen Schulkritik. Als Antwort auf das reformbedürftige Bildungswesen hat Montessori das Konzept der „Erfahrungsschule des sozialen Lebens“ entworfen, in der der Jugendliche nicht in ein fertiges System eingepasst, sondern neben den gesellschaftlichen Erfordernissen selbst zum Bezugspunkt der Bildungsinstitution werden soll.[149]
Der stetig voranschreitenden Wandel und Fortschritt der Gesellschaft erfordert eine Vorbreitung des Jugendlichen für alle unvorhergesehenen Eventualitäten, um ihm so alle Möglichkeiten zur flexiblen Gestaltung seiner Zukunft einzuräumen. Mit dem ‚Erdkinderplan’ entwirft Montessori ein Erziehungskonzept, bei dem die Förderung der Personalität des Menschen durch eine Integration von Berufs- und Allgemeinbildung im Mittelpunkt stehen soll. Das Konzept besteht aus verschiedenen Komponenten, die in diesem Kapitel vorgestellt werden sollen, da sie wesentliche Grundideen für die Arbeit im Sinne Maria Montessoris an Sekundarschulen enthalten.
Oberstes Ziel der Montessori- Sekundarschule ist die ganzheitliche Förderung der Personalität, indem der Gegensatz von Kopf- und Handarbeit überwunden wird, denn „Menschen, die Hände, aber keinen Kopf haben, und Menschen, die einen Kopf, aber keine Hände haben, sind in der Gesellschaft in gleicher Weise fehl am Platze.“[150] Die Schule muss dem Jugendlichen die Möglichkeit geben, seinen Charakter und seine Moral zu stärken, sein Gewissen zu bilden und ihm zudem praktische Fähigkeiten vermitteln, so dass er die vielfältigen Schwierigkeiten des Lebens bewältigen kann. Demzufolge hat die Sekundarschule die Aufgaben, ein fundiertes wissenschaftliches Studium ohne frühzeitige und einseitige Spezialisierung zu bieten, und zu handwerklichen Übungen zum praktischen Leben anzuregen, denn der „Mensch soll in der Totalität seiner Möglichkeiten entfaltet werden.“[151] Im Mittelpunkt des Unterrichts sollen die menschlichen Zivilisationsleistungen, kulturelle Errungenschaften sowie die Vermittlung natur- und gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse stehen, wobei „die traditionelle Fächerung der Inhalte weitgehend überwunden wird. Die Schüler sollen vielmehr zu vertieften Einsichten gelangen und ein kritisches Bewusstsein für die zentralen Fragen und Probleme der Menschheit entwickeln.[152] In diesem Sinne konzipiert Montessori ein Studien- und Arbeitszentrum, das dem Jugendlichen einen Wechsel von intellektuellen und manuellen Fähigkeiten ermöglichen soll, um die ganzheitliche Entwicklung seiner Persönlichkeit zu fördern.
Montessori plant ihre ‚Erfahrungsschule des sozialen Lebens’ als Internat in ländlicher Umgebung, in dem Jugendliche zusammen leben, lernen und arbeiten sollen. Durch die Lage der Schule erhofft sich Montessori die „Förderung der Selbstständigkeit gegenüber der Familie, Vorteile für die Gesundheit der Schüler, Befriedigung des jugendlichen Bedürfnisses nach Einsamkeit und Ruhe, mehr Möglichkeiten zur pädagogisch orientierten ganzheitlichen Gestaltung des Tagesablaufs im...