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Moulüe - Supraplanung

Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte

AutorHarro von Senger
VerlagCarl Hanser Fachbuchverlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl423 Seiten
ISBN9783446457836
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Verblüffende Hintergründe der chinesischen Wirtschaftsdynamik
Moulüe (übersetzt Supraplanung) ist ein hierzulande weitgehend unerkanntes chinesisches Konzept der Zukunftsgestaltung, das als Lehre vom Gebrauch unlistiger und listiger Strategien und Taktiken zum Zwecke des Sieges möglichst ohne Krieg bezeichnet werden kann. Moulüe fußt auf dem ältesten Militärtraktat der Welt, 'Meister Suns Kriegskanon', und befähigt zu einem planerischen Panoramablick von einer für uns ungeahnten Weite.
Harro von Senger, der 'meistgelesene Autor der westlichen Chinaforschung' (Frankfurter Allgemeine Zeitung), dessen Bücher in 14 Sprachen übersetzt wurden, stellt in diesem Buch Moulüe und ein weiteres, in Europa und den USA ignoriertes chinesisches Denksystem in ihrer Vernetzung vor - und zeigt, wie wir darauf reagieren könnten.
'Harro von Senger's book 'Moulüe' is so far the only Western book on this topic.'
(China Daily)

Harro von Senger ist Professor für Sinologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. und Experte für chinesisches Recht des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung (Lausanne) sowie seit 2001 Dozent an der Generalstabsschule der Schweizer Armee. Zahlreiche juristische und sinologische Fachveröffentlichungen. Einem größeren Publikum wurde er durch sein Werk 'Strategeme' (12. gebundene Aufl. 2003, in 12 Sprachen übersetzt) bekannt.

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Leseprobe
Einleitung

Alle drei im Westen unerkannten Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte, die ich in der ersten Auflage dieses Buches (Carl Hanser Verlag, München 2008) geschildert habe und auch in dieser Auflage vorstelle, sind 2018, also zehn Jahre später, innerhalb der VR China so aktuell wie im Westen unerkannt. Was die VR China angeht, so wurden inzwischen von höchster Stelle die Existenz und die Wichtigkeit der drei Denkhorizonte bestätigt.

Schrieb ich 2008 in der ersten Auflage, das Wort „Moulüe“ („Supraplanung“) „habe ich in einem offiziellen chinesischen Dokument noch nie vorgefunden“, 1 so kann ich im Jahr 2018 in der vorliegenden Ausgabe zwei Aussagen Xi Jinpings, des chinesischen Staatspräsidenten, Generalsekretärs der KPCh und Oberbefehlshabers der Streitkräfte, zitieren, in denen er „Moulüe“ hervorhebt. Habe ich in der Ausgabe von 2008 in allgemeinen Worten die Bedeutung der 36 Strategeme hervorgehoben, 2 so kann ich in dieser Ausgabe eine Anfang 2018 veröffentlichte Fotografie von drei Büchern wiedergeben, die Xi Jinping schätzt, darunter an zentraler Stelle eine Luxusausgabe des Traktats über die 36 Strategeme. Habe ich in der ersten Ausgabe in einem langen Kapitel über den Sinomarxismus keinen Politiker der VR China anführen können, der den Ausdruck „Zhongguo Makesizhuyi“, was man mit „Sinomarxismus“ übersetzen kann, verwendet hat, 3 so könnte ich in dieser Ausgabe gar nicht all die vielen Aussagen chinesischer Führungspersonen über den Sinomarxismus wiedergeben. Hier zitiere ich lediglich den wichtigsten Politiker der VR China Xi Jinping, der in seinem dem 19. Parteitag der KPCh am 18.10.2017 erstatteten Bericht sagte: „Der Sinomarxismus des 21. Jahrhunderts wird bestimmt imstande sein, eine noch stärkere, überzeugendere Wahrheitskraft zu entfalten.“ Diese Lobpreisung des Sinomarxismus prangte am 02.01.2018 auf der ersten Seite der Volkszeitung 4, des Sprachrohrs des ZK der KPCh, und der überregionalen Beijinger Tageszeitung Guangming. 5 An einer Feier anlässlich des 200. Geburtstags von Marx sagte Xi Jinping in Beijing in der Grossen Halle des Volkes am 04.05.2018: „Wir müssen […] fortwährend für den zeitgenössischen Sinomarxismus und für den Marxismus des 21. Jahrhunderts neue Horizonte eröffnen.“ 6

Das bislang einzige westliche Buch über Moulüe – Supraplanung

Der wirtschaftliche Aufstieg der VR China seit 1978 mit dessen die ganze Welt überspannenden, auch außenpolitischen Auswirkungen verblüfft hierzulande viele Beobachterinnen und Beobachter. „Geschickt“ – so kennzeichnet Frank Sieren, gemäß London Times „einer der führenden deutschen China-Spezialisten“, in seinem Buch Der China Code mehrfach chinesische Vorgehensweisen. 7 „Geschickt“, so der indische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen, „habe China die globalen Märkte benutzt.“ 8 „Bis heute hat die chinesische Führung alles richtig gemacht“, schreibt Professor Eberhard Sandschneider, Leiter des Arbeitsschwerpunktes Politik China und Ostasiens der Freien Universität Berlin und Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung. 9 „Die enormen Leistungen Chinas“ werden in einem Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag zur Asienpolitik gewürdigt. 10 „Im Grunde genommen machen die Chinesen in ihrem Sinn alles richtig.“ 11

Aus welchen geistigen Quellen speist sich das „geschickte“ und „richtige“ Verhalten von Politikern der VR China? Immer wieder verweist man im Westen auf den chinesischen „Pragmatismus“. 12 Noch nie habe ich indes eine Stellungnahme aus der VR China gelesen, die das auch so monokausal darstellen würde, zumal „Pragmatismus“ (shiyongzhuyi) ein eher verpöntes Wort ist. 13

Irgendwie begreift man die Hintergründe „des phänomenalen wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas in den zurückliegenden Jahrzehnten“ 14 nicht so recht. Wer im Westen hat in diesem Zusammenhang das chinesische Konzept der Zukunftsgestaltung „Moulüe“ gewürdigt? Hierzu schreibt der Journalist Fu Jing am 02.06.2017 in China Daily, der größten und ältesten in der VR China erscheinenden englischsprachigen Tageszeitung:

„[Harro von Sengers] Buch Moulüe, das in deutscher Sprache 2008 veröffentlicht wurde, ist bislang das einzige westliche Buch über diesen Gegenstand.“ 15

Fu Jing bezieht sich auf die erste Auflage des vorliegenden Buches aus dem Jahr 2008. Wieso hat seither kein anderer westlicher China-Experte dem Konzept „Moulüe“ ein Buch gewidmet? Braucht man „Moulüe“ bei der Untersuchung des „immensen Aufholprozesses, den das einst bitterarme Land seit […] vierzig Jahren hinter sich gebracht hat“ 16, nicht in Betracht zu ziehen?

Den eigenen „kodierten Blick“ zurückstellen und sich auf den „kodierten Blick“ von Chinesen einlassen

In diesem Zusammenhang erscheint mir Michel Foucaults Hinweis auf die in unterschiedlichen Epochen und Kulturräumen vorherrschende ungleiche „Ordnung der Dinge“ als hilfreich. Die jeweilige „Ordnung der Dinge“ beeinflusst die Sprache und die Wahrnehmungsschemata der im betreffenden Kulturraum lebenden Menschen 17 und formt deren „kodierten Blick“ 18. Dieser wird vom kulturellen Gedächtnis geprägt, „die Tradition in uns, die über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen“. 19

„Es ist eine Binsenweisheit, dass in China die Uhren anders ticken. Wer sich anmasst, durch eine westliche Brille auf das asiatische Land zu schauen, wird viele Dinge nie verstehen.“ 20

Aber natürlich gibt es ganz viele Gemeinsamkeiten von Menschen im Abendland und im Reich der Mitte. Das kann ich bezeugen aufgrund eines durchwegs angenehmen, ungetrübten zweijährigen Zusammenlebens mit Chinesen in einem Viererzimmer in einem ausschließlich von Chinesen bewohnten Campus der Rechtsfakultät der Nationaluniversität Taiwan, verbunden mit einem nur unter Chinesinnen und Chinesen verbrachten Studienaufenthalt ebenda (Taipeh 1971–1973) 21. Und nach einem je einjährigen Zusammenleben mit einem chinesischen Soldatenstudenten und einem Funktionärsstudenten in einem Zweierzimmer der Beijing-Universität (1975–1977). Ja, ich glaube, im antiken China eine regelrechte „Philosophie der Schweiz“ gefunden zu haben. 22

Aber aufgrund der Gemeinsamkeiten sollte man Unterschiede nicht übersehen, haben doch „Chinas Geschichte und gegenwärtige Situation eine Einzigartigkeit und Komplexität, wie sie in anderen Ländern beispiellos ist“. 23 Man kann daher in der VR China nicht unbedingt immer dieselbe „Ordnung der Dinge“ vorfinden, wie sie im zeitgenössischen westlichen Kulturraum üblich ist und wie sie sich beispielsweise in der Abgrenzung verschiedener Bereiche, z. B. von Politik und Recht oder von Politik und Religion, niederschlägt.

Xi Jinping spricht von „Moulüe“

Chinesen mit ihrer während Jahrtausenden von Europa unbeeinflussten Zivilisation haben ein anderes kulturelles Gedächtnis als Menschen des Abendlandes. Kein Wunder, dass in der VR China teilweise eine andere „Ordnung der Dinge“ als im zeitgenössischen Westen vorherrscht. Wenn man dies nicht zur Kenntnis nimmt, läuft man Gefahr, chinesische Dinge mittels westlicher Kategorien und Termini zu beschreiben und auf diese Weise zu entsinisieren beziehungsweise zu europäisieren. 24 So lässt sich in der VR China eine chinaspezifische Ordnung des zukunftsgestaltenden Denkens feststellen. Sie tritt im Konzept „Moulüe“ zutage. Nur wenn man sich des eigenen eurozentrisch „kodierten Blicks“ erstens bewusst wird und ihn zweitens zurückstellt und wenn man sich drittens auf den chinesischen „kodierten Blick“ und viertens die diesem entsprechende, westlichen Menschen fremde Terminologie einlässt, wird man angesichts folgender Aussagen in der chinesischen Presse hellhörig:

Meldung vom 13.08.2013:

„[…] in Meister Suns Kriegskanon werden erst all die Schäden infolge von Kriegen erläutert, worauf der Gedanke ‚unversehrt siegen‘ hervorgehoben wird. Das heißt, mittels ‚Moulüe‘ wird erreicht, dass beide Seiten das allerhöchste Ziel erreichen, nämlich auf friedlichem Weg gemeinsam Gewinn davonzutragen.“ 25

Titel eines Artikels in der Renmin Ribao (Volkszeitung), dem Sprachrohr des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, vom 08.06.2014, und ein Zitat aus diesem Artikel:

„Bei der Truppenführung und bei der Führung eines Krieges steht Moulüe an erster Stelle. […] Die Moulüe-Kultur ist ein wichtiger Bestandteil der chinesischen Kultur, und sie ist erst recht eine unersetzliche militärische Geheimwaffe (fabao), dank der unsere Armee [in der Lage war und ist,] aus einer Position der Schwäche heraus ein [Gegenüber], das sich in einer Position der Stärke befindet, zu bezwingen und [so] den Feind zu besiegen.“ 26

Meldung vom 01.03.2015:

„Genosse Xi Jinping tritt besonders dafür ein, dass man über Moulüe verfüge.“ 27

Meldung vom 26.05.2016:

„‚Ein Gürtel – eine Straße‘ [gemeint ist die Seidenstraßen-Strategie]: Große Moulüe und große Weisheit.“ 28

Meldung vom 04.11.2017:

„Am 3. November [2017] besichtigte...

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