EINLEITUNG
Meine Mutter würde ein Problem mit meinem Kopftuch haben. So viel war mir damals, als ich frisch den Islam angenommen hatte, schon klar. Der Wunsch, auch äußerlich zum Islam zu stehen, war aber groß. Ich grübelte also, wie ich vorgehen sollte. Weil ich wusste, dass Diskussionen nur schmerzhaft und fruchtlos sein würden, bildete ich mir ein, eine Hauruck-Methode sei der einzige und beste Weg. Es einfach tragen und fertig – eine schlechtere Strategie hätte ich nicht wählen können!
Nach einem langen Nachmittag bei der türkischen Familie in Mainz, bei der ich die praktischen Seiten der Religion kennenlernte, behielt ich das Kopftuch, das man mir geschenkt hatte, einfach auf. Wie würden die Leute auf der Straße reagieren? Auf dem Weg nach Hause beobachtete ich die Reaktionen genau. Damals, Ende der 1980er-Jahre, begann man mehr und mehr über die so genannte Ausländerproblematik zu reden. Ich bekam sofort zu spüren, dass ich mit dem Kopftuch auf einmal als Fremde behandelt wurde – misstrauische Blicke, mangelnder Respekt und vor allem wurde ich angeredet, als könnte ich kein Deutsch: „Du gehen bisschen zur Seite!“. Ich hätte gewarnt sein sollen. Doch im Hochgefühl des Bewusstseins, für mich den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, trug ich den Kopf nur noch höher.
Unser Küchenfenster geht auf die Straße hinaus und da sah ich schon meine Mutter stehen. Ihr Blick fiel auf mich und wenn je der Ausdruck „in die Luft gehen“ wirklich zu beobachten war, dann bei ihr. Ihr blieb der Mund offen stehen, sie rang nach Luft und schien mit jedem Schnappen ein Stück weiter an die Decke heranzukommen. Einmal begonnen, wollte ich meine Aktion trotzdem nicht abbrechen. Anstatt das Tuch einfach gleich auszuziehen, trat ich also zu ihr ins Zimmer und merkte da erst, was für einen furchtbaren Fehler ich gemacht hatte. Ich musste noch froh sein, dass sie keinen Herzinfarkt bekommen hatte, so aufgelöst war sie. Schon prasselten die Vorwürfe auf mich ein: „Habe ich dich nicht zu einer freien jungen Frau erzogen? Musst du dich so zurichten? Das mit dem Islam ist ja schlimm genug – musst du es auch noch so herzeigen? Und willst du wirklich so eine unterdrückte Frau werden, wie man immer von den Musliminnen hört?“
Damit lagen die Fragen auf dem Tisch, die mich die nächsten Jahre, vielleicht bis heute, beschäftigen sollten. Für mich persönlich bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass mein Religionswechsel keinen Wechsel meiner Einstellungen und prinzipiellen Werte bedeutete. Die Chancengleichheit von Mann und Frau, Menschenrechte und auch ein demokratisches Bewusstsein waren mir von Jugend an wichtig und würden es auch weiterhin sein. Im Islam hatte ich nichts gefunden, das mich damit in Widerspruch bringen würde. Über die Verletzung von Frauenrechten konnte ich mich genauso aufregen wie jemand, der das von außen sah. Damals wurde der Bestseller „Nicht ohne meine Tochter“ heiß diskutiert, in dem es um die gescheiterte Ehe einer Amerikanerin mit einem Perser geht, der sich als Macho und Tyrann entpuppte. Wer weiß, was sich meine Mutter alles von aufgebrachten Freundinnen an Warnungen anhören musste. Von Anfang an spürte ich aber auch, dass gerade aus der Religion heraus der Widerstand gegen Frauenfeindlichkeit aufgebaut werden sollte. Denn von einer den Islam praktizierenden Gläubigen würde es doch die Zivilcourage verlangen, hier nicht einfach zuzusehen, sondern dagegen zu sprechen. Und wenn sich jemand in Bezug auf Frauenfeindlichkeit auch noch auf die Religion berufen wollte, ihm oder ihr die Stirn zu bieten und zu beweisen, dass das ein Unrecht ist.
Das Auseinanderklaffen von der Außensicht auf den Islam und der Innenwahrnehmung, speziell beim Frauenthema, bekam ich also sofort hautnah mit. Heute kann ich die Aufregung meiner Mutter viel besser verstehen. Ich sah mich weiter als moderne und selbstbestimmte Frau, während sie dies bezweifelte. Wir hatten dabei nicht nur einen Konflikt, weil sie angesichts vieler Schreckensmeldungen über frauenbenachteiligende Strukturen in muslimischen Gesellschaften Angst um die Zukunft ihrer Tochter hatte. Es ging auch um das Thema Identität. Sie hatte mich schließlich erzogen und mir viel mitgegeben. Würde ich das nun alles verleugnen und ablehnen? Und ich war auch noch so provokant, völlig gedankenlos in dieser Wunde herumzustochern, als ich etwa bei einem Besuch zu Weihnachten großartig tönte: „Bei uns im Islam …“, um zu erklären, warum ich keine Weihnachtslieder mitsingen wollte.
Damals wollte ich die Religion tausendprozentig leben und neigte im Überschwang meines Glücks, Muslimin zu sein, wie viele neu Konvertierte dazu, die Skepsis oder auch die Warnungen aus dem eigenen Umfeld als „Prüfung“ zu sehen. Anfeindungen standzuhalten war wie ein Test der eigenen Willensstärke.
In einer „Jetzt-erst-recht!“-Mentalität den schweren Weg zu suchen, kann gefährlich werden, wenn damit ein Schwarz-Weiß-Denken einhergeht, mit dem die Welt in „Andersgläubige“ und „Muslime“ eingeteilt wird. Denn das macht anfällig dafür, die eigenen Wurzeln und damit die Fähigkeit zu Reflexion und Selbstkritik aus dem Blick zu verlieren und stur das einzige Heil in der neuen religiösen Lehre zu suchen. In dem Bemühen, das Leben neu einzurichten und die religiöse Praxis – Speisegebote, Fasten, Gebet, Kleidung – in den Alltag zu integrieren, tauchen Reibungsflächen mit der gewohnten Umgebung auf. Bleibe ich am Tisch sitzen, wenn die anderen Alkohol trinken? Anfangs ist die Fähigkeit, über die Religion zu reden, zu wenig ausgeprägt, um in einen Dialog zu treten. Dann bleibt es meist bei stur wirkenden Behauptungen: „Das ist im Islam halt so!“ und der Entscheidung, zur Sicherheit lieber den „strengeren“ Weg zu gehen. Noch heikler ist es, mögliche Konflikte, die mit mehr Wissen über die Geschmeidigkeit und das Anpassungsvermögen muslimischer Auslegung oft gar keine sein müssten, angemessen anzugehen. Um sich selbst in der neuen Rolle als Anhänger beziehungsweise Anhängerin des Islams zu beweisen, neigen viele frisch Konvertierte dazu, solche Konflikte zur Selbstprofilierung zu nutzen und auf Konfrontationskurs zu gehen. Ich muss meiner Mutter dankbar sein, dass sie hinter meinem auftrumpfenden Wesen meine eigene Unsicherheit erkannte – die ich damals nicht einmal mir selbst eingestanden hätte – und meistens gelassen blieb.
Gott sei Dank gab es auch Muslime, die mich immer wieder auf den Boden zurückholten. Ihnen war ich auch eher bereit zuzuhören. Das Kopftuchtragen redeten sie mir ganz schnell aus: „Lerne erst einmal den Islam tiefer kennen! Hör’ auf, deine armen Eltern zu überfordern! Und bilde dir nicht ein, das Kopftuch sei eine Art Verkleidung, um dich selbst als Muslimin zu bestätigen! Bring’ erst einmal die fünf täglichen Gebete auf die Reihe!“ Diese Kopfwäsche hatte ich nötig. Sie trieb mir zusammen mit dem eigenen Studium des Islams sehr schnell meine ersten Überspanntheiten aus. In vielen Gesprächen kristallisierte sich für mich heraus, dass es eben kein Zeichen von Stärke ist, sich ultraorthodox zu geben und damit streng dem Vorbild der besonders Traditionsbewussten nachzueifern. Im Gegenteil, es ist viel anspruchsvoller, den eigenen Verstand eingeschaltet zu lassen und verschiedene Standpunkte der Interpretation zu überprüfen.
Je mehr ich über den Islam wusste, desto mehr sah ich den vermeintlichen Grund für meine ursprüngliche Hingezogenheit bestätigt: Dass er eine Religion ist, die ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit und Mündigkeit fordert. „Wollt ihr nicht nachdenken?“, heißt es wiederholt im Koran und dieses Motto hat Muhammad Asad, mein Lieblingsautor, wenn es um die Übertragung aus dem Arabischen geht, an den Anfang seines Buches gestellt: „Für Leute, die nachdenken“.1 Sogar die Gründer der später als „Rechtsschulen“ etablierten vier sunnitischen Auslegungstraditionen betonten, dass niemand ihnen blind in einer Meinung folgen möge, sondern nachzuvollziehen sei, wie sie darauf gekommen seien. Sie luden dazu ein, ihre Auffassungen auch in Frage zu stellen. Das kuriert von Tendenzen zu Autoritätshörigkeit, die sich bei Gläubigen immer dann leichter einstellt, wenn sie nach festem Halt suchen und die eigene Entscheidung lieber an andere delegieren.
„Gott will es den Menschen leicht machen!“2, wurde zu einer weiteren Leitlinie. Eine Religion für den Menschen als einem vernunftbegabten und fühlenden Wesen – dies vermittelte sich für mich auch in dem Prinzip, dass Auslegungen sich je nach den Faktoren Zeit, Ort und handelnde Personen, also den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, ändern können. Darum lässt sich die Scharia auch nicht in einem einzigen Buch erwerben. Zu verschiedenen Zeiten haben Gelehrte immer wieder die beiden muslimischen Hauptquellen Koran und Sunna, also die vorbildliche Lebensweise des Propheten Muhammad, befragt, um authentische neue Antworten auf sich neu stellende Fragen zu...