An einem schwülen Märzabend 2007 betraten Pete und ich in Tampa, Florida, die Bühne des Ford Amphitheatre. Zum neunten Mal in diesem Monat, zum neunundsiebzigsten Mal in den vergangenen neun Monaten spielte die Band die ersten Takte von »I Can’t Explain«. Ich schwang das Mikro in Richtung des Publikums, bereit, loszulegen wie immer. Bereit, die erste Zeile zu treffen … »Got a feeling inside«. Aber das Mikro wog eine Tonne. Es zog hinaus wie ein Schiffsanker. Ob es wieder zurückkam, weiß ich nicht. Mir wurde schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, war ich hinter der Bühne. Die Lichter waren verschwommen, besorgte Stimmen wurden mal lauter, mal leiser. Unter ihnen die von Pete, der wissen wollte, was los war. Und aus der Ferne konnte ich das Getöse von zwanzigtausend enttäuschten Fans hören.
Fünfzig Jahre lang hatte ich es jedes Mal geschafft. Ich war immer erschienen und aufgetreten. Hunderte von Gigs. Tausende. Pubs, Clubs, Bürgerzentren, Kirchsäle, Konzerthallen, Stadien, die Pyramid Stage, die Hollywood Bowl, Woodstock. Aber nicht an jenem Abend. Zum ersten Mal, seit ich mir im Alter von zwölf ein Mikro geschnappt und Elvis gesungen hatte, konnte ich nicht auftreten. Als man mich in einen Krankenwagen verfrachtete, war ich enttäuschter als irgendjemand sonst an diesem Abend. Ich lauschte den Sirenen – eine weitere neue Erfahrung – und fühlte mich hilflos.
In den Tagen danach dokterten die Ärzte viel an mir herum und fanden schließlich heraus, dass der Salzgehalt in meinem Körper niedriger war, als er sein sollte. Rückblickend erscheint es offensichtlich, aber von allein bin ich nicht dahintergekommen. Jedes Mal wenn wir auf Tour gingen, wurde ich nach zwei bis drei Monaten krank. Wirklich krank. Und nach all den Jahren erfahre ich, dass es dafür einen ganz einfachen Grund gab. Es war Salz – oder der Mangel an Salz. All das Herumrennen und Schwitzen hat mich ausgelaugt. Wir waren Sportler, haben aber nie wie Sportler trainiert und gelebt. Zwei oder drei Stunden pro Abend, Abend für Abend, und wir haben uns nichts dabei gedacht. Kein Aufwärmen. Kein Stretchen. Keine Vitaminzusätze. Nur eine Garderobe mit Alkohol. Schließlich waren wir eine Rockband und keine Fußballmannschaft.
Aber das war nicht das Einzige, das ich in jener Woche erfuhr. Ein paar Tage später kam einer meiner Ärzte herein, ein Röntgenbild an die Brust gedrückt.
»Und, Mr. Daltrey, wann haben Sie sich den Rückenwirbel gebrochen?«, fragte er.
Ich wies ihn freundlich darauf hin, dass das nie passiert sei.
Höflich widersprach er mir. Der Beweis war auf dem Röntgenbild in seiner Hand – ein irgendwann gebrochener Wirbel und sein nicht besonders achtsamer Eigentümer. Man sollte meinen, dass ich den Bruch seinerzeit bemerkt hätte, doch ich habe im Lauf der Zeit genug Schrammen abgekriegt. Zu jeder Rock-’n’-Roll-Geschichte gehört auch ein Anteil von Glück, aber das Glück kommt nur mit harter Schufterei. Wenn man hinfällt, steht man wieder auf und macht einfach weiter. So war es am Anfang, und so ist es heute immer noch.
Mir fielen drei Anlässe ein, bei denen ich mir einen Rückenwirbel gebrochen haben könnte. Da waren zum einen die Dreharbeiten zu dem Song »I’m Free« aus Tommy. Nach 1:15 Minuten sieht man auf dem Video, wie ich von einem Soldaten zu einem Salto in die Luft geschleudert werde. Eigentlich war der Stunt unkompliziert, aber ich bin falsch gelandet. Ich weiß nicht mehr, ob ich irgendwas knacken hörte, aber es hat verdammt wehgetan. Und für den Rest des Tages drehten wir die Anfangssequenz des Songs, wo meine Figur Tommy Walker durch eine Glasscheibe fällt. Erst filmten wir die Szene draußen, dann gingen wir ins Studio, um sie vor einem Blue Screen nachzuspielen. Den ganzen Nachmittag lang musste ich aus einer Höhe von einem bis anderthalb Metern auf eine Matte fallen. Und Schnitt.
»Noch einmal, Roger.« Das war Ken Russells Lieblingsspruch. Er trieb seine Schauspieler immer gern bis an ihre Grenze.
»Bist du sicher, dass wir die Szene noch nicht im Kasten haben, Ken?«, erwiderte ich mit möglicherweise gebrochenem Rückenwirbel.
»Noch einmal, Roger.«
»Geht klar, Ken.«
Oder es hätte am 5. März 2000 auf dem Weg zum Ultimate-Rock-Symphony-Gig im Sydney Entertainment Centre passiert sein können. Paul Rodgers von Bad Company hatte sich krank gemeldet, und ich sollte seine Songs zusätzlich übernehmen. Deshalb wurde der Van früher geschickt, und ich wärmte meine Stimme auf dem Weg in die Arena auf. Bei einer Übung packe ich mit einer Hand meine Zunge mit einem Handtuch, mit der anderen halte ich mein Kinn, während ich seltsame Skalen singe. Es klingt irre, und es sieht irre aus, als wäre ich von einem Dämon besessen. Ich hoffe, dass es zumindest ein relativ melodiesicherer Dämon ist, trotzdem will man nicht gerade damit beschäftigt sein, wenn man einen Autounfall hat.
Die Frau, die auf den Freeway auffuhr, hatte offenbar andere Ideen und scherte ohne Vorwarnung auf unsere Spur. Mein Fahrer konnte noch bremsen, und wir prallten seitlich gegen ihr Fahrzeug. Es war nicht allzu schlimm. Ich hatte immer noch meine Zunge in ein Handtuch gewickelt in der Hand, und wir lebten beide noch. Auch damals hörte ich kein Knacken, doch es war höllisch schmerzhaft. Als wir schließlich am Auftrittsort ankamen, tauchte ein Osteopath auf und klickte meine Knochen zurück an ihren Platz, bevor ich auf die Bühne ging. Ich schaffte den Gig vermutlich auf reinem Adrenalin, aber in den nächsten drei Jahren hatte ich permanent Schmerzen.
Aber am wahrscheinlichsten ist es wohl in einem Band Camp passiert, an dem ich mit neun oder zehn teilgenommen habe. Sagen wir, es war 1953. Ich war der Sänger unserer Kompanie der Boy’s Brigade und schmetterte auf den Schultern unseres Sergeants ahnungslosen Strandurlaubern erbauliche amerikanische Marschlieder entgegen. Ich sang wie ein kleiner Engel.
Das einzige Problem war ein Junge namens Reggie Chaplin. Reggie war auch in der Boy’s Brigade. Er war ein wirklich großer Junge, dreißig Zentimeter größer und sechzig Zentimeter breiter als ich. Er wohnte in der Wendell Road in Shepherd’s Bush, die nur fünf Minuten von unserem Zuhause in der Percy Road entfernt lag, aber diese Entfernung bedeutete einen himmelweiten Unterschied. Es gab Familien, denen man besser nicht querkam. Die gibt es noch immer. So ist London. Und in Shepherd’s Bush waren es die Chaplins aus der Wendell Road. Sie waren eine raue Sippe aus einer rauen Straße, und dummerweise hatte es Reggie, der große Reggie, auf mich abgesehen.
Da waren wir also im Band Camp, und weil ich der Kleine war, wurde ich auf einer Decke in die Luft geworfen. So etwas haben Kinder zum Spaß gemacht, bevor iPads erfunden wurden.
Reggie war der Anführer, und als ich fünf Meter in der Luft war, rief er: »Loslassen.« Ich kann bis heute hören, wie der kleine Mistkerl sagt: »Loslassen.«
Natürlich ließen alle die Decke los. Ich krachte auf den Boden und wurde sauber ausgeknockt. Vielleicht hat auch irgendwas geknackt, doch ich war jenseits von Gut und Böse. Das bedeutete einerseits, dass das Band Camp für mich versaut war. Ich musste den Rest des Tages in einem verdammten Krankenhaus verbringen und den Rest der Woche in einem Zelt der Boy’s Brigade, unter Schmerzen und, wie ich heute vermute, mit einem gebrochenen Rückenwirbel. Andererseits war ich fein raus – meine Probleme mit Reggie hatten sich erledigt. Als er mich bewusstlos auf dem Boden liegen sah, glaubte er, er habe mich getötet.
Als ich wieder zu mir kam, war Reggie der Erste, den ich sah, und er weinte. Der härteste Junge von Shepherd’s Bush schluchzte dicke fette Tränen der Schuld und der Angst. Er fühlte sich schrecklich. Nun, danach war er wie mein Schutzengel, und ich war dicke mit einem Chaplin. Ich stand mich gut mit einer rauen Familie aus einer rauen Straße. Alle behandelten mich plötzlich anders. Ich war unberührbar. Das blieb bis zum Wechsel aufs Gymnasium so, und ab da ging sowieso alles den Bach runter. Aber ich eile meiner Geschichte voraus. Kehren wir zurück in eine Zeit vor vermutlich gebrochenen Rückenwirbeln, vor guten und schlechten Schulen. Kehren wir zurück an den Anfang.
* * *
Meine Mum hielt bis in die frühen Morgenstunden des 1. März 1944 durch, bevor sie meine Wenigkeit zur Welt brachte. Nur ein bisschen früher, und ich wäre ein Schaltjahr-Baby geworden, und das wollte sie nicht. Nur einmal alle vier Jahre Geburtstag. Das reicht einfach nicht, oder? Andererseits wäre ich dann heute erst achtzehneinhalb.
Ich hatte Glück, überhaupt geboren zu werden. Denn 1938 hatte man bei Grace Irene Daltrey – ihr könnt sie Irene nennen wie alle – eine Nierenerkrankung festgestellt. Auch nach Entfernung einer Niere verfiel ihre Gesundheit weiter, und sie zog sich auch noch Kinderlähmung zu. Zwei Jahre verbrachte sie in einem Krankenhaus in Fulham mit einer der ersten Eisernen Lungen in Großbritannien, und lange Zeit stand es auf der Kippe. Sie überlebte so gerade eben, war jedoch für die nächsten Jahre an einen Rollstuhl gefesselt.
Aus meiner Sicht noch entscheidender war, dass die Ärzte ihr erklärten, sie würde nie Kinder haben können. Hätten sie recht behalten, wäre dies ein sehr kurzes Buch geworden, doch mein Dad nahm die Herausforderung an. Als der Krieg ausbrach, ging er mit der Royal Artillery nach Frankreich, aber auch das konnte ihn nicht aufhalten. Er bekam ziemlich regelmäßig Sonderurlaub, um meine Mum zu Hause zu besuchen. Und neun Monate nach einem dieser sehr besonderen Besuche kam gegen alle Wahrscheinlichkeit ich daher: Roger Harry Daltrey.
Es war keine leichte Zeit, um ein Kind auf die Welt zu bringen. Die Leute glauben, der Blitz sei 1941 beendet gewesen. Fake News! Der...