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E-Book

Die Schwestern von Marzahn

Vom Leben ganz unten

AutorChristiane Tramitz
VerlagLudwig
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641237714
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Ein Mann, der nichts zu geben hat - zwei Mädchen, die alles brauchen - eine einzigartige Freundschaft
Fabian Krüger, arbeitslos, von seiner Frau verlassen und einsam, trifft auf der Treppe seines Plattenbaus auf zwei kleine magere Mädchen, die sich ausgesperrt haben. Obwohl er genug eigene Sorgen hat, kümmert er sich zunehmend um die Schwestern, er kauft von seinem wenigen Geld Essen für sie, macht Hausaufgaben mit ihnen. Er sorgt fast ein Jahr für die Kleinen, bis sie plötzlich verschwunden sind. Mithilfe der anderen Bewohner des Plattenbaus kommt Krüger zu einer schrecklichen Erkenntnis. Sein Leben erfährt eine jähe Wendung, auch weil es zwei Ordensschwestern gibt, die den Marzahnern seit 1992 in ihrer 'Lebensberatungsstelle' Hilfe anbieten. Ihre Mission lautet: Wunden heilen. Die Bestsellerautorin Christiane Tramitz erzählt eine ebenso berührende wie erschreckende Geschichte, die exemplarisch für das Leben vieler Menschen in Deutschland steht. Zugleich ist es eine hoffnungsvolle Geschichte voller Liebe und Zuversicht, die zeigt, wie sich Menschen in den schwierigsten Situationen umeinander kümmern - und dass dann tatsächlich Wunden geheilt werden können.

Christiane Tramitz wuchs in Oberbayern in einem kleinen Dorf auf, zeitweise auch in den rauen Ötztaler Alpen. Zudem sammelte sie während ihrer Berliner Zeit ausreichend Großstadterfahrung. Ihre Leidenschaft gilt dem Reisen, den Menschen und, seit über 30 Jahren, dem Schreiben. Nachdem die promovierte Verhaltensforscherin zahlreiche Sachbücher über menschliches Verhalten verfasst hatte, wandte sie sich vermehrt dem Genre True Crime bzw. Tatsachenroman zu. Neben den Erfolgstiteln »Irren ist männlich«, »Unter Glatzen« und »Das Dorf und der Tod« verfasste sie auch den Spiegel-Bestseller »Harte Tage, gute Jahre«. Für ihre Veröffentlichung über Straßenkinder erhielt sie den Karl-Buchrucker-Förderpreis. Die Autorin hat zwei Kinder und lebt in Oberbayern.

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Leseprobe

2

KRÜGER SITZT AM KÜCHENTISCH und baut kleine Türmchen. Seine Finger zittern, als er die Geldmünzen ordnet. Alles soll seine Richtigkeit haben, wenigstens die Sache mit dem Geld. Ganz links stapelt er die Zweicent-, daneben die Fünfcentstücke, es folgt der kleine Zehnerturm, dann die Fünfzigergeldstücke, von denen er gerade mal vier Stück hatte finden können. Er zählt nach, mehr als vier Euro zwanzig geben die Türme nicht her. Reichlich wenig fürs Paradies. Krüger schüttelt den Kopf und murrt: »So ein Mist.«

Müde erhebt er sich, verlässt die Küche und geht ins Wohnzimmer, in dem eine alte Couch vor dem Fernseher steht. »Fürs Paradies ist es ohnehin zu früh, keiner da«, sagt er zu sich selbst und knipst den Fernseher an. Er zappt sich durch die Programme. Die Nachrichten bringen die Entscheidung von US-Präsident Trump, Jerusalem als israelische Hauptstadt anzuerkennen und die amerikanische Botschaft dorthin zu verlegen. In Berlin gab es einen Brandanschlag auf das Willy-Brandt-Haus. Das Jahr 2017 neigt sich dem Ende zu, für Krüger mindestens genauso langweilig, wie es begonnen hatte, ohne wesentliche Ereignisse, wie all die Jahre zuvor. Doch die Langeweile quält Krüger schon lange nicht mehr, nicht einmal mehr das empfindet er: Langeweile.

Unten vor dem Gebäude lärmt die Sirene eines Krankenwagens.

Krüger überlegt kurz, ob sich das Aufstehen lohnt. Zum Balkon gehen und runtergucken. Viel sieht man ja ohnehin nicht, wenn man im elften Stock lebt und von dort in die Tiefe schaut. Die Menschen ganz unten sind nur kleine Punkte, was interessieren ihn schon die paar Punkte auf der Straße.

Er legt die Fernbedienung auf den Tisch und schließt für einen Moment die Augen. Er war heute zu früh wach geworden, der Tag hatte noch nicht einmal richtig begonnen, da haben so ein paar Idioten doch tatsächlich Flaschen im Container entsorgt, ein Klirren und Krachen um sechs Uhr dreißig. Illegal ist das, verboten und gehört bestraft. Die Menschen können sich nicht mehr an die Regeln halten. Und eine dieser Regeln, sie steht ja schließlich dick und fett auf dem Container geschrieben, lautet: Der Einwurf von Flaschen ist nur zwischen neun und einundzwanzig Uhr erlaubt, Feiertage ausgenommen. Können die Menschen nicht lesen? Krüger könnte kotzen. Der geraubte Schlaf bedeutet Wachsein, und das hasst er. Keine Träume, keine Ruhe, keine wohlige Decke um den Körper, und kein Frieden. Vor allem aber: langes Warten aufs Paradies.

Früher, als Krüger noch jung war, nicht so alt wie heute, und mit achtundfünfzig Jahren fühlt sich ein Mann wie er ja schließlich alt, also früher, als das Leben irgendwie noch anders war, nicht schön, aber vielleicht besser, da ging Krüger um siebzehn Uhr dreißig ins Paradies. Es lag ja schließlich auf dem Weg von der Arbeit zurück nach Hause.

Tür auf, rein in den Qualm des Paradieses, ein paar Bierchen zischen, ab und zu die Bedienung Nicola vögeln, das war ganz normal.

Krüger zieht eine Zigarette aus der Schachtel und geht auf den Balkon. Drinnen darf nicht geraucht werden, das stinkt und macht die Tapeten kaputt, die zwar alt sind, aber dennoch schön und voller Erinnerung an damals, als er sie zusammen mit seiner Frau Marie aussuchte. Es ist kalt auf dem Balkon und zugig, Winter in Marzahn, eklig, düster, trüb wie immer, nicht gut für die Stimmung. Krüger, der Altmarzahner, kennt ausnahmslos jeden einzelnen Winter, der über den grauen Berliner Stadtteil gefallen war. Jeden der achtundfünfzig frostigen Winter. Mit den Sommern sieht es etwas anders aus, da ist er gelegentlich fortgefahren, meistens an die Ostsee. Das waren die schönsten Zeiten für seine kleine Familie, gute Jahre, auch die gab es in seinem Leben.

Der Wind auf dem Balkon ist erbarmungslos, die Flamme des Feuerzeugs erlischt ständig, bevor sie die Zigarette zum Glimmen bringen kann. Krüger flucht und beobachtet, wie zwei Sanitäter jemanden mit der Trage aus dem Haus bringen und in den Wagen schieben. Immerhin kein Leichenwagen, denkt er, denn auch der fährt hier öfters vor. Vor seinen oder vor all die vielen anderen Eingänge der umstehenden Plattenbauten, die Krüger von seinem Balkon aus sehen kann. Im Winter sterben die meisten Menschen, denkt er. Sterben, meine Güte, dann ist halt mal wieder jemand weg von dieser Welt, sind ohnehin zu viele hier, wer braucht schon all diese Leute, die nichts tun, einfach nur rumsitzen, gammeln, die Zeit totschlagen. Ist ja kein Platz für sie, kein Sinn, keine Aufgabe. Die Zigarette ist endlich an, er bläst den Rauch gen Himmel, der bald keiner mehr ist, sondern grauer Schwaden, der sich von oben nach unten bis zur Straße zieht.

Es ist kurz vor acht Uhr morgens, seit eineinhalb Stunden ist er nun schon wach. Und? Was hat er in dieser Zeit getan? Geldtürmchen aufgehäuft, die Tapetenmuster angeschaut, den Fernseher mal kurz angemacht, durchgezappt, ausgemacht. Er hat gepinkelt und sich die Hände danach nicht gewaschen. Den Luxus gönnt er sich. Keine Hände waschen. Denn jetzt ist niemand mehr da, der ihm hysterisch durch die Badezimmertür zuruft: »Vergiss nicht, die Hände zu waschen, Schatz, sonst kleben die Bakterien an den Türgriffen!«

Der Rettungswagen wirft die nervende Sirene an und setzt sich langsam in Bewegung, drei Menschen stehen am Straßenrand. Klar, dass die gaffen, denkt Krüger, passiert hier ja sonst nichts. Ihn fröstelt es, vom Himmel fallen die ersten Flocken. Sie tanzen an seinen Augen vorbei, unverschämt fröhlich und leicht. Der Rettungswagen passiert gerade die Müllcontainer und nimmt an Fahrt auf, da sieht Krüger, wie zwei kleine Mädchen aus dem Haus stürzen und hinter dem Fahrzeug herrennen. Sie wedeln mit den Armen, das kleinere Kind stolpert und fällt hin. Dann steht es wieder auf und läuft weiter. Doch der Rettungswagen fährt und fährt, verschwindet hinter der nächsten Straßenecke, und irgendwann hört man in der Ferne nur noch ein schwaches Tatütata. Dort, wo der Lottoladen ist, bleiben die Kinder stehen. Pech gehabt, denkt der rauchende Beobachter auf seinem Balkon.

Im Plattenbau gegenüber brennen nur wenige Lichter. Das war früher anders. Morgens war fast überall Licht, weil die Menschen etwas zu tun hatten. Na ja, denkt Krüger, schnipst den Zigarettenstummel in die Tiefe und schließt die Balkontür hinter sich. Es ist acht Uhr zehn. Krüger setzt sich wieder in den Sessel und wartet darauf, dass der Zeiger der Uhr auf neun springt. Davor bleibt der Kühlschrank zu, ein wenig Disziplin will er noch aufbringen. Disziplin, das ist das Einzige, was er noch hat. Daran klammert er sich jeden Morgen, wenn er nicht weiß, wie der Tag enden wird. Disziplin, so wie er es von seinem Vater gelernt hat. Zur Disziplin gehört, ordentlich und sauber gekleidet zu sein, sich die Haare gekämmt zu haben und Socken zu tragen, die zusammenpassen. Krüger legt Wert darauf, dass jeder, der ihn sieht, weiß, dass sein nichtssagendes Leben zumindest in Ordnung ist.

Ein gestandener Mann mit kantigem Gesicht ist er, mit hellblauen Augen und schwarz gewelltem Haar. An den Schläfen hat sich etwas Grau eingeschlichen. Die Lippen sind farbloser und schmaler geworden, doch ansonsten stimmt alles mit seinem Äußeren, nichts Auffallendes, Störendes, Hässliches. Krüger ist ein Mann, von dem jeder ahnt, dass er mal recht attraktiv war und der sich trotz allem ganz gut gehalten hat. Er ist nicht so wie die anderen Menschen hier, mitnichten eine verlorene Kreatur, die sich aufgegeben hat.

Zur Disziplin gehört auch, den Müll rauszutragen. Krüger geht in die Küche, zieht den vollen Plastiksack aus dem Eimer. Es riecht nach Hering in Tomatensoße, Krügers Leibspeise, dieser Fisch in den länglichen Dosen. Er nimmt den Haustürschlüssel vom Haken und geht zum Aufzug. Die Tür mit den praktischen Müllschluckern, die früher den Abfall von ganz oben bis ganz nach unten sausen ließen, ist abgeschlossen. Nichts funktioniert hier mehr in Platte 13.

Der Aufzug scheppert in den elften Stock hoch, wenigstens das klappt, zumindest heute. Einsteigen, runterfahren, zu den Tonnen gehen, Deckel auf, Müll rein und zurück in den elften, geht ja alles ganz einfach.

Wieder oben angekommen, zieht Krüger seine zweite Zigarette aus der Schachtel und tritt erneut auf den Balkon. Inzwischen hat sich eine diesige, feuchte Nebelwand zwischen die hohen Plattenbauten geschoben. Es ist kurz nach halb neun, und der Tag will nicht hell werden, vierundzwanzig Stunden lang Winterdämmerung, das ist nun mal so in Berlin. Krüger schlingt die Jacke um den Körper, es ist kalt und zugig. Hastig zieht er an der Zigarette, um so schnell wie möglich in die Wärme zurückzukehren.

Die Gedanken im Kopf kreisen. Immer wenn er hier steht und raucht, taucht die Vergangenheit auf, ach, es ist so lange her, dass er hier über die Felder tobte, barfuß übers Gras lief und den Drachen steigen ließ.

Was in seinem Leben war schiefgegangen? Es hätte anders kommen können, denn eigentlich hatte es ganz nett begonnen. Vati, Mutti und Junior Fabian lebten nahe der jetzigen Großsiedlung in einem respektablen Haus mit Garten und Schwimmbecken. Bevor man die Plattenbauten aus dem Boden stampfte, erschienen die Felder hier endlos, wunderbar weit, und kein Drachen flog so fröhlich wie der von Klein Krüger.

Ein paar Mal in seinem Leben hätte er seine Heimat verlassen können, damals, als er unmittelbar nach der Wende einen Posten im Westen angeboten bekam, als leitender Konstrukteur. Gelsenkirchen hatte man ihm vorgeschlagen. Doch was in aller Welt sollte Krüger dort? In Gelsenkirchen? Hier in Marzahn war seine Heimat, hier ist sie noch immer, auch wenn er nicht mehr über Felder laufen kann, weil sich auf...

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