3. Kostbarkeiten des Körpers
Unser Körper ist die Harfe unserer Seele. (Khalil Gibran)
Was den eigenen Körper betrifft, sind die meisten Menschen froh, wenn er einigermaßen gesund ist. Krankheit kann unsere Teilnahme am Leben arg in Mitleidenschaft ziehen. Aber was bedeutet uns unser Körper darüber hinaus? Trainierst du ihn, um fit zu bleiben? Pflegst du ihn, um gut auszusehen? Was tust du, um dich im Körper wohl zu fühlen?
In Gesundheit, Attraktivität und Wellness erschöpft sich in unserer Kultur weitgehend das Interesse am Körper. Aber nein, da fehlt ja noch was: Sex. Im Sex soll uns der Körper die höchste Wonne bescheren, mit dem körperlichen Alltag hat das in der Regel allerdings nichts zu tun. So begegnen wir auch noch der Fähigkeit des Körpers, uns aus allerlei Illusionen zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen. „Der Körper lügt nicht“, heißt es. Dafür wird er allerdings kaum geschätzt. Meistens werden die Signale des Körpers nicht als Botschaften verstanden, sondern als Symptome bekämpft.
Die medizinische Forschung versucht, den Körper bis in seine subtilsten Strukturen und Mechanismen zu entschlüsseln. In seiner Tiefe bleibt er aber – zum Glück – voller Wunder und Geheimnisse. Diese Geheimnisse haben weniger mit Physiologie, Biochemie oder Genetik zu tun, sondern mit dem subjektiven Erleben unseres Körpers. Dieses ist der Ausgangspunkt für seine spirituelle Dimension. Den Körper als Mysterium, als Ausdruck unserer Essenz oder als Erlebnismöglichkeit göttlicher Schöpfung zu begreifen, eine solche Betrachtungsweise ist unserer Kultur weitgehend fremd.
Kürzlich wies mein Yogalehrer darauf hin, dass die Yogapraxis – im Unterschied zu den meisten anderen spirituellen oder religiösen Praktiken – den Körper als spirituelles Werkzeug zu würdigen wisse und lehre, ihn wie einen Tempel zu behandeln. „Der Körper ist der Tempel der Seele“, heißt es ja auch im Tantra. Mich stellt diese Redewendung nicht ganz zufrieden, denn auch in ihr kommt eine Verdinglichung zum Ausdruck. Der Körper wird immer noch instrumentalisiert, er ist ein Gebäude, ein heiliges zwar, aber doch nicht selbst lebendig. Die mystische, wirklich spirituelle Dimension des Körpers wird auf diese Weise durch den Haupteingang eingeladen und durch die Hintertür wieder entsorgt.
Auch in der Tantraszene ist das Verhältnis zum Körper in der Tiefe ungeklärt, obwohl Tantra sicher als eine der körperfreundlichsten spirituellen Lehren gelten darf. In seiner heute im Westen praktizierten Version läuft es zuweilen auf eine Ausbeutung von Lust, sexueller Energie und Ekstase hinaus. Denn auch wenn wir höchste Wonnen durch unseren Körper erfahren: Würdigen wir ihn damit in dem, was er wirklich ist, in allen seinen Facetten?
Wenn wir uns einen Moment daran erinnern, was für ein unglaubliches Wunderwerk unser Körper Tag für Tag vollbringt, und das meiste davon, ohne dass wir davon etwas ahnen, dann … ja was dann? Der Lyriker Christian Morgenstern nennt den Körper „den Übersetzer der Seele ins Sichtbare“. Sind wir selbst dieses Wunder, ohne es zu ahnen? Werden wir uns unserer selbst erst durch unseren Körper wirklich bewusst?
Der geheimnisvollen Dimension des Körpers möchte ich mich mit der Frage nähern: Haben wir einen Körper oder sind wir unser Körper? Und welche Konsequenzen hat die eine oder die andere Perspektive?
Das ist keine akademische Frage. Unsere Antwort auf diese Frage hat vielfältige Konsequenzen, insbesondere auch für unser Verständnis von Ursache und Wirkung, also dafür, was wie wirkt in unserem Leben, und ist daher von größter Bedeutung für unsere alltägliche Lebensgestaltung.
Zwei Laborratten tauschen ihre Trainingserfahrungen miteinander aus. Sagt die eine stolz zur anderen: „Ich habe meinen Experimentator gut trainiert: Jedes Mal, wenn ich auf diesen Knopf hier drücke, gibt er mir ein Körnchen Getreide.“
Im Verhältnis zu unserem Körper sind wir möglicherweise ähnlich naiv wie die Ratte. Während nach gängiger schulmedizinischer Lehrmeinung der Körper als ein vom Bewusstsein weitgehend unabhängiger Organismus betrachtet und auch entsprechend behandelt wird, hat sich in den meisten alternativen Heilsystemen die Erkenntnis durchgesetzt, dass zwischen Körper und Geist eine enge Wechselbeziehung besteht. Aber wie sieht diese genau aus?
Meine Entdeckungsreise zu mir selbst begann vor ca. 30 Jahren in einer Körpertherapiegruppe. Dort lernte ich vor allem: „Du bist dein Körper!“ Das half mir, ihn viel intensiver zu spüren. Es brachte mich meinen Gefühlen wesentlich näher und bescherte mir auch Erlebnisse jenseits einer bis dahin fast hermetisch abgeriegelten Welt aus lauter Gedanken. Ich kam „aus dem Kopf raus“, wie es hieß, und ich bekam eine ehrfürchtige Ahnung davon, dass es weit mehr gibt im Leben als das, was ich mir ausdenken kann. Das alles besaß große Überzeugungskraft.
Viele spirituelle Schulen lehren jedoch das genaue Gegenteil: „Du bist nicht dein Körper! Du bist ein geistiges Wesen, das eine irdische Erfahrung macht!“ Indem wir lernen, uns nicht mehr mit dem Körper zu identifizieren, überwinden wir die Vergänglichkeit des physischen Körpers und erfahren die Weite und Freiheit unseres wahren Wesens, heißt es hier. Mir persönlich half diese Sichtweise, mich von so mancher inneren Fixierung aufs Materielle zu lösen. Und auch Berichte von Nahtod- und außerkörperlichen Erlebnissen weisen darauf hin, dass da etwas Wahres dran ist. Bewusstsein ist ein grenzenloses Feld und nicht an das physische Gehirn gebunden.
Dennoch, die Konsequenzen, die aus dem Primat des Geistes gezogen werden, finde ich nicht immer überzeugend. Zum Glück gelten körperliche Freuden heute nicht mehr als Sünde, obwohl uns Reste dieser kirchlichen Propaganda noch immer in den Knochen stecken. Aber welche Haltung zum Körper transportiert bewusst oder auch unbewusst beispielsweise die Lehre des Advaita? Deren wichtigster Guru, Ramana Maharshi, auf den sich die Anhänger des Advaita berufen, konnte sein Bewusstsein so weit vom Körper lösen, dass es ihm nichts auszumachen schien, von Maden angefressen zu werden. Ist das ein Zeichen fortgeschrittener Verwirklichung oder von Dissoziation, von Abspaltung? Oder gar von beidem?
Ich habe auf diese Fragen keine eindeutige Antwort. Vielleicht liegt genau darin die Antwort. Unser Verhältnis zu unserem Körper öffnet uns für eine mystische Dimension, wenn wir beides gelten lassen: Wir sind unser Körper und wir sind es auch nicht. Es stimmt beides. Es stimmt aber auch, dass nicht beides gleichermaßen zutreffen kann. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir dies nur abnicken, weil es gut und weise klingt. Es muss unseren Verstand aus der Bahn werfen, sonst ist es noch gar nicht bei uns angekommen. Die Beziehung zwischen Körper und Geist ist so etwas wie unser Koan, ein Nussknacker für die Bollwerke unserer Glaubenssätze, ein weiser Lehrmeister, der uns Menschen, die wir so stolz auf unseren Verstand sind, Demut lehren kann. Sind wir möglicherweise nicht viel schlauer als die oben zitierte Ratte, die davon ausgeht, sie habe alles unter Kontrolle?
Die Demut, oder wir könnten auch sagen der staunende Respekt, den wir dem Körper entgegenbringen, zeichnet sich durch drei Kostbarkeiten aus, die uns aus der Eindimensionalität im Verhältnis zu unserem Körper befreien können: Einzigartigkeit, Mehrdeutigkeit und Hingabe.
- Einzigartigkeit. Die Schulmedizin eignet sich als Anschauung dafür, wie körperliche Symptome nicht in ihrer einzigartigen Qualität verstanden, sondern auf ihre Regeln und Muster reduziert werden. Um als Heilverfahren oder Medikament von den Krankenkassen anerkannt zu werden, muss erst in „Doppelblindstudien“ – Nomen est Omen! – bewiesen werden, dass die Heilwirkung reproduzierbar ist. Kaum jemand scheint bis heute auf die Idee gekommen zu sein, dass sich echte Heilung der Reproduzierbarkeit grundsätzlich entziehen könnte. Auch alternative Heilsysteme verbiegen sich oft bis zur Unkenntlichkeit, um wissenschaftliche Anerkennung zu bekommen, anstatt die Prämissen in Frage zu stellen. Echte Heilung scheint mir nur möglich, wenn „Behandler“ und „Patient“ sich auf die Einzigartigkeit einstimmen, die Regeln und Muster nicht ausschließt, aber über sie hinausgeht.
Manche spirituellen Lehrer sitzen einem ähnlichen Irrtum auf, wenn sie ihre eigenen Erfahrungen zum Modell und zum Maßstab für die Entwicklung ihrer Schüler machen. Nicht selten hören wir von einer existenziellen Krise oder sogar von einem Nahtoderlebnis, das dem Erwachen des Lehrers voranging. In den Teachings klingt es dann aber zuweilen so, als seien durch gezielte Praxis solche Krisen zu vermeiden oder zumindest zu entschärfen. Was aber, wenn die existenzielle Krise genau das Tor wäre, durch das wir zu unserer Einzigartigkeit finden? In...