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Solidarität im Verfassungsstaat

Grundlegung einer normativen Theorie der Verteilung

AutorOtto Depenheuer
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl408 Seiten
ISBN9783741258848
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Der Begriff der Solidarität ist in der politischen wie juristischen Diskussion bis zur inhaltlichen Unkenntlichkeit und beliebigen Funktionalisierbarkeit ausgelaugt. Vor diesem Hintergrund verfolgt die Arbeit das Ziel, den Begriff als juristischen im verfassungsrechtlichen, staatstheoretischen und sozialrechtlichen Kontext zu erschließen, präzisieren und etablieren. Mit der Frage nach der Solidargemeinschaft werden unvermeidlich die Grenzen des rationalistischen Weltbildes und einer individualistisch zentrierten Rechtsordnung aufgeworfen. Ziel ist es insoweit nicht, Rationalismus und Individualismus zu überwinden, wohl aber Grenzen ihrer Wirksamkeit aufzuzeigen, die um der Humanität der menschlichen Lebensverhältnisse respektiert werden müssen. Da der Mensch 'aus krummem Holz' gemacht ist (Immanuel Kant), gilt es mit den zivilisatorischen Errungenschaften der europäischen Neuzeit - Rationalismus und Individualismus - um des Menschen willen maßvoll umzugehen. Um nicht in die Tyrannei eines unmenschlichen Rationalismus und in das Chaos eines maßlosen Individualismus abzugleiten, bedarf es eines 'Abschieds vom Prinzipiellen' (Odo Marquardt). Deshalb muss rationales Handeln darauf verzichten, 'krummes Holz' geradezubiegen. Vielmehr muss es die lebensweltliche Wahrheit und das humane Recht auch des rational nicht Verstehbaren respektieren. Das ist Solidarität. 2., durchgesehene Auflage

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Leseprobe

Einleitung


I. Teilen als Staatsaufgabe


1. Der Sozialstaat als Verteilungsstaat

Der moderne Staat ist Verteilungsstaat. Verteilung bzw. Umverteilung bilden das Lebensgesetz des modernen Wohlfahrtsstaates1. Staatlich bewirkte, vermittelte oder veranlaßte Umverteilungsprozesse prägen das Bild moderner Sozialstaatlichkeit2. Das verfaßte Gemeinwesen nimmt die gegebene Güterordnung nicht als gottgewollt, per se gerecht, unverfügbar vorgegeben und unantastbar hin, sondern steuert selbst aktiv die individuelle Teilhabe am Volkseinkommen. Die gezielte Beeinflussung der Verteilung des Sozialprodukts ist zum Charakteristikum und primären Gegenstand staatlichen Handelns geworden3 – Teilen ist Staatsaufgabe. Für den Interventions- und Leistungsstaat stellt das Volkseinkommen und das vorhandene Vermögen4 das Substrat dar, auf das er im Wege sekundärer (Neu-)Verteilung korrigierend zugreift, um eine als gerecht bewertete Güterverteilung zu erhalten.

Sozialstaatliche Umverteilungsaktivität ist die Antwort auf die liberalstaatliche Umverteilungspassivität. Der liberale Staat überläßt die Verteilung des Volkseinkommens den autonomen Kräften der Gesellschaft in der Überzeugung, daß die leistungsangemessene Beteiligung an den erwirtschafteten Gütern und Leistungen ein gerechtes Verteilungsergebnis gewährleiste5. Bei dieser gesellschaftlich-autonomen Verteilung werden die maßgeblichen Entscheidungen über Inhalt, Menge, Empfänger und Nutznießer der Verteilung aufgrund immanenter Gesetzmäßigkeiten ökonomischer, technischer, psychologischer und soziologischer Art ohne staatliche Einflüsse getroffen6.

Der Staat der modernen Industriegesellschaft bedient sich zwar nach wie vor marktwirtschaftlicher Steuerungsprozesse und anerkennt im Grundsatz die aus dem Marktgeschehen resultierende „Primärverteilung“. Dagegen hält er eine gerechte Verteilung ohne staatliche Intervention nicht mehr für möglich7. Die gestaltende Einflußnahme des Staates auf Produktion und Verteilung bildet demgemäß schon lange keinen Ausnahmetatbestand mehr. Sie ist zur zentralen staatlichen Aufgabe geworden, die auf eine als gerecht bewertete Verteilung zielt8.

2. Differenziertheit sozialer Umverteilung

Das Ensemble sozialstaatlicher Umverteilungsmodalitäten hat sich nicht more geometrico entwickelt. Sozialstaatlichem Umverteilungsengagement eignet ein occasionalistischer Zug: es orientiert sich am Einzelfall9, antwortet auf konkrete Notlagen, spiegelt soziale Bedürfnisse, unterliegt dem Gesetz politischer Auseinandersetzung10. Art, Intensität und Personenkreis der Verteilungsprozesse sind vielfältig ausdifferenziert11:

Umverteilung12 vollzieht sich sowohl über die staatliche Manipulierung des marktwirtschaftlichen Verteilungsprozesses13 als auch durch den direkten Zugriff auf das Ergebnis der Primärverteilung14. Sie bedient sich öffentlicher Geld- und Dienstleistungspflichten des Bürgers15, denen staatliche Geld- und Sachleistungen gegenüberstehen16. Sie erfaßt einerseits ihrem Ansatz nach die Gesamtbevölkerung17, andererseits nur einzelne Gruppen18. Sie vollzieht sich teils gruppenintern19, teils gruppenübergreifend20. Ihrer Intensität nach zielt staatliche Umverteilung zum Teil auf eine vollständige Neutralisierung der Primärverteilung21, zum Teil begnügt sie sich mit partiellen Korrekturen22. Sie wirkt zudem nicht nur als interpersonelle, sondern auch als intertemporale Umverteilung, wenn sie die Lasten der Gegenwart künftigen Generationen auferlegt23.

3. Wachstum des Verteilungsstaates

Die Vielfalt der staatlich vermittelten Umverteilungsprozesse ist Ausdruck und Folge der Expansion umverteilender Staatstätigkeit. Dem Wachstum der positiven folgt die Ausweitung der negativen Transferleistungen. Der Sozialstaat erschließt sich immer weitere Leistungsfelder24, hebt das Niveau im Rahmen bestehender Leistungsverhältnisse25 und steigert zur Finanzierung in immer stärkerem Maße die Abgabenbelastung der Bevölkerung. Inzwischen hat die Entwicklung dazu geführt, daß gegenwärtig fast jede zweite Mark, welche die Bürger verdienen, in den staatlich dirigierten Verteilungskreislauf eingeht26. Personell erfaßt der Umverteilungsstaat nahezu jeden Bürger in den zwei Rollen des Verteilungsverhältnisses: als Leistungsfähiger wird er zu Abgaben herangezogen, als Bedürftigem werden ihm Sozialleistungen gewährt26.

Ein Ende des wachsenden Verteilungsstaates ist nicht in Sicht. Der Umverteilungsstaat ist nach seiner eigenen Logik zum Wachstum verurteilt27: Der Wohlfahrtsstaat kennt seiner Natur nach keine Erfüllung: jede Befriedigung einer Ungleichheitsrelation öffnet den Blick für neue, bislang nicht erkannte soziale Bedürfnisse28. So hat das einzigartige Wohlstandsniveau im westlichen Teil Deutschlands mit seinen Umverteilungserfolgen die Umverteilungsaktivität keineswegs gebremst, sondern – einem Gesetz folgend, das bereits Tocqueville formuliert hat29 – forciert30. Die staatliche Kompensation einer sozialen Ungleichheit macht den Blick für neue Ungleichheiten frei; je geringer die neuentdeckten Ungleichheitsrelationen werden, desto stärker der politische Druck zu ihrer Einebnung31.

II. Verteilung als Herausforderung des Staatsrechts


1. Sozialstaatliche Umverteilung als staatsrechtliches Problem

a) Freiheit und Verteilungsstaat

Jedes leistungsstaatliche Geben setzt ein vorheriges Nehmen voraus32: da der Steuerstaat33 über eigenes Umverteilungspotential nur in geringem Umfang verfügt34, bedingt der soziale Leistungsstaat notwendig den hoheitlichen Abgabenstaat: der Sozialstaat ist immer auch Abgabenstaat35.

Umverteilende Staatstätigkeit indes birgt unvermeidlich Gefahren für die grundrechtliche Freiheit des Bürgers. Je mehr der Staat den Bürger steuerlich belastet, desto mehr gewinnt er Umverteilungsmacht, beansprucht also Verfügungsgewalt über die Ergebnisse individueller Freiheitsausübung und vermindert insoweit die staatlich belassene Freiheit. Jede pflichtige Abgabe entzieht reale Freiheitssubstanz: Der Bürger vermag über das von ihm erwirtschaftete Einkommen und Vermögen nicht frei zu verfügen. An dem Verlust realer Verfügungsfreiheit ändert nichts der Umstand, daß die Gelder ganz oder teilweise als staatliche Transferleistungen wieder an ihn zurückfließen36: diese verfolgen ihre eigenen sozialpolitischen Zwecke, sind gebunden an Auflagen und Bedingungen. Der einzelne gerät in Abhängigkeit vom Staat, weil er sich den staatlich definierten Leistungstatbeständen unterwerfen, Antragsverfahren durchführen, Auflagen erfüllen, Nachweise erbringen und sich gelegentlich staatliche Gunst durch entsprechendes Wohlverhalten „verdienen“ muß. Der Umverteilungsstaat ersetzt individuelle Selbstbestimmung durch staatliche Fremdbestimmung37. Das vom Staat empfangene und das selbst verdiente Einkommen vermitteln mithin ein unterschiedliches Maß an individueller Freiheit38.

Der Wohlfahrtsstaat steht mithin in der – latenten – Gefahr, in fürsorglichen Despotismus umzuschlagen39. Die Gefährdung der Freiheit durch einen aktiven Sozialstaat ist besonders deutlich von Tocqueville gesehen worden. Er erkannte, daß mit der Erweiterung der Staatsaufgaben im sozialen Bereich eine steigende Abhängigkeit der Menschen von den Regierenden verbunden sei. In dieser staatlichen Vormundschaftsgewalt, die darauf abziele, das „Behagen“ der Bürger sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen, liege die Gefahr einer neuen Form von Despotie: eine geregelte, milde und friedliche Knechtschaft40.

So spiegelt sich denn im Gesamtvolumen staatlicher Umverteilung die konkrete Freiheitlichkeit eines Gemeinwesens unleugbar wider41. Wenn in der Bundesrepublik gegenwärtig mehr als 50% des Volkseinkommens in den staatlich dirigierten Verteilungskreislauf eingehen, dann ist über die Dringlichkeit der Aufgabe, grundrechtliche Freiheit im Umverteilungsstaat zu wahren und zu sichern, kein weiteres Wort zu verlieren. Dies gilt umso mehr, als der Verteilungsstaat in eine Begrenzungskrise geraten ist.

b) Der Verteilungsstaat in der Begrenzungskrise

In Zeiten wirtschaftlichen Wachstums ist der Verlust an persönlicher Freiheit als Folge zunehmender staatlicher Umverteilungspolitik weniger spürbar: die Zunahme des verfügbaren Nettoeinkommens läßt die steigende Abgabenbelastung in den Hintergrund treten. Der politische Konflikt und die staatsrechtliche Herausforderung der Umverteilungsproblematik bleiben latent42....

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