Weibliche Spiritualität
Einleitung
Frauen haben ihre eigene Art zu schauen, zu erfahren: Sie haben eine eigene Weise, das Ganze intuitiv und imaginativ zu erfassen und dabei das Einzelne nicht aus dem Blick zu verlieren. Mag es daher rühren, dass sich die Frau seit jeher auf die Ganzheit kleiner Menschenkinder noch im vorsprachlichen Stadium einzustellen wusste und von daher ihre beiden Gehirnhälften, wie man heute nachweisen kann, in fast allen Lebensbereichen noch enger zusammenzuarbeiten lernten (im Vergleich zum mehr spezifizierenden männlichen Funktionsmodus) – es hat sich jedenfalls eine eigene weibliche Weise herausgebildet, die Dinge, das Leben als Ganzes zu sehen und zu verstehen. Gerade durch diese Ganzheitlichkeit vermag die weibliche Art auch Männer anzusprechen, die solche Ergänzung ihres Eigencharakters schätzen. So hat zum Beispiel kein Geringerer als der Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges sich eingehend mit Hildegard von Bingen und ihrem Werk beschäftigt, sie durch seine Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen und Lateinischen und auch durch seine Kommentare einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst zugänglich gemacht.
Bei Hildegard, der großen Frau des 12. Jahrhunderts, geschieht der Zugang zu diesem großen Ganzen über intuitive Schau, in der Imagination, Vision und Audition ineinander übergehen. Dabei geht sie aus von einer genauen und getreuen Naturbeobachtung, die die Lebens- und Wirkungsweisen der Pflanzen beschreibt und sie auf ihre Heilkraft prüft, und von der sie zu einer Schau, einer Mystik der großen Zusammenhänge gelangt, in der sie den Kreis des Lebens, das Rund des Kosmos von einer einheitlichen Kraft durchwirkt sieht, der Grünheit, der viriditas, die sie in einer kosmischen Frauengestalt verkörpert sieht, der »Frau Weisheit«, der Sophia, die in einen grünen Seidenmantel gehüllt, das Rund des Weltalls von innen her erfüllt. Bis in die Wahrnehmung und Betonung schöner Kleidung hinein erscheint mir dieses Bild als weiblich empfunden.
Auch Hildegards Medizin, die man in ihrem symbolischen Charakter nicht verkennen und nicht unübersetzt in heutige Kategorien übernehmen sollte, geht von der Vernetzung aller Kräfte und von der Energie der Grünheit aus, einer psychophysischen und spirituellen Hoffnungsund Entwicklungskraft, die anschaulich wird, wenn wir z.B. die imaginative Übung mit vollziehen, die auf Hildegard zurückgehen soll, sich nämlich in eine grüne Wiese zu legen und sich vorzustellen, dass all die Säfte und Lebenskräfte, die die Gräser und Blumen durchströmen, auch in unseren Organismus einströmten und ihn neu belebten. Sich wieder anzuschließen an das große Ganze des Lebens, an dessen »Grünheit«, bedeutet bei Hildegard Genesung des ganzen Menschen. Schon die Verbindung von kosmischer Schau und dementsprechender Heilkunde ist charakteristisch für Hildegards vernetzendes und immer auf den Menschen zurückbezogenes Denken.
Bei Marguerite Porète, einer Frau des 14. Jahrhunderts, – zweihundert Jahre nach Hildegard – ist »Liebe« die erfüllende und alles befreiende Kraft: Liebe zum Ganzen des Lebens, zu Gott, ist Marguerites »mystisches Fahrzeug«, von der sie sich getragen weiß und tragen lässt.
Bei ihr bewirkt dieses Durchdrungensein von Liebe vor allem eine unerhörte innere Freiheit: Freiheit von allem Schielen nach Lohn, Dank und Gegenliebe, von menschlicher, aber auch von göttlicher Seite her. In der Liebe stehen zu dürfen ist Glück und Dank genug. Mitgeprägt von der hohen seelischen Kultur der Troubadoure und ihrer Liebeslyrik, der »hohen Minne«, die nicht nach Erfüllung giert, z.B. in der Fernliebe zu einer »hohen Frau«, sieht auch Marguerite Porète »Gott« als einen »Fern-Nahen«, einen Loin-près, der eben dadurch unendlich anziehend, mitreißend ist: ravissant. Gott ist für diese in ihrer Muttersprache, in Mittel-Französisch schreibende Frau aus dem nordfranzösischen Hennegau der »ravissant loin-près«, der »hinreißend Fern-Nahe«.
Es ist eine Beschreibung, die derjenigen des inneren Animus-Bildes, das göttliche Qualität gewinnen kann, wie C.G. Jung es sieht, ähnelt und es vorausnimmt: das Bild des faszinierenden Fremden. Er ist es, der Marguerite Porète bereits erfüllt, bereits von sich aus zieht, indem er sie anzieht.
Über diese Anziehung, die für Marguerite auf einer Wesensgleichheit, Wesenseinheit der menschlichen Seele mit dem Göttlichen beruht – wie bei Meister Eckart –, gewinnt sie eine Freiheit über alle Verhinderungs- als auch Vermittlungsversuche solcher Gottverbundenheit durch Menschen, wozu für sie letztlich auch die Vermittlung durch die Kirche gehört. Das macht sie den kirchlichen Behörden ihrer Zeit verdächtig.
An Marguerite Porète ist mir vor allem wichtig, wie sie aus ihrer Gottesliebe heraus eine Freiheit gegenüber allem, wirklich allem gewinnt, was Menschen ihr antun können. Damit nimmt sie im 14. Jahrhundert vorweg, was im 20. Jahrhundert einer Edith Stein widerfährt und was auch diese aus größeren Händen als denen der NS-Schergen entgegennimmt und erträgt. Marguerite Porètes Mystik ist keine so geschwisterlich ähnlich wie diejenige Meister Eckarts, beide müssten als Zeitgenossen auch voneinander gewusst und ihr gegenseitiges Schrifttum gekannt haben: doch Marguerite Porète als Frau begründet die Wesensgleichheit des Menschen mit Gott nicht durch eine Seins-, sondern durch eine Liebesverbundenheit: Wie das Eisen mit der Glut verschmilzt, so die Seele mit Gott, die für sie die Liebesglut selbst ist. Dieses Bild gebraucht sie immer wieder für die Einheit zwischen Mensch und Gott, für die Verschmelzung zwischen Mensch und Gott.
Marguerite Porète nimmt in gewisser Hinsicht die reformatorische Wende in der Kirche vorweg: Die »Freiheit eines Christenmenschen«, von der Luther spricht, der Freiheit des von Gott Angenommenen, der sich annehmen lässt und dadurch, nur dadurch »vor Gott … gerecht«, vor Gott recht ist, nicht aufgrund seiner Werke. Doch Marguerite Porète als Frau drückt in Begriffen, in Worten der Beziehung und der Liebe aus, was Luther als Mann unter anderem in juristischen Begriffen wie »Rechtfertigung« und »Gnade« ausdrückt, wobei auch er die Töne der Liebe kennt und anzuschlagen weiß.
Am Übergang zum 16. Jahrhundert, zeitgleich mit Reformation und Gegenreformation, lebt und wirkt Teresa von Avila, die große Reformerin des Karmeliterinnen-Ordens und damit letztlich auch eine Kirchen-Reformerin, im Blick auf deren Spiritualität. Dies ist sie nicht zuletzt durch die Entdeckung der Kontemplation, des wortlosen Gebets in der Stille. Es ist dies eine grundlegende Neuerung in der Gebetspraxis in der westlichen Christenheit.
Zugleich ist Teresa eine Frau der Tat, die ganz Spanien bereist und offene, heiße Auseinandersetzungen mit kirchlichen Behörden um die Verwirklichung ihrer Reformen führt: eine Frau der Tat, die die Kraft zur Tat aus der Stille des Bei-sich-Seins und Bei-Gott-Seins schöpft. Diese Kombination wird im 20. Jahrhundert auch bei Dorothee Sölle hervortreten: nur ist deren Wirken auf die ungleich größere Öffentlichkeit der Weltkirche und der Welt des 20. Jahrhunderts bezogen: auf die eine Welt, von der die Kirche vielleicht ein »Sauerteig«, aber doch nur ein Anteil ist. Im Spanien des 16. Jahrhunderts waren dagegen Kirche und große Öffentlichkeit fast noch deckungsgleich. Teresa hat das geflügelte Wort geprägt: »Wenn Fasten, dann Fasten, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn« – das nicht nur Fasten und Speisen gleichberechtigt nebeneinander stellt, sondern auch Fasten und feine Speisen. Zugleich hält in diesem Wort auch die Tiefe, Freiheit und Freude des Fastens, die jeder kennt, der es versucht hat, jener anderen Freude an einem festlichen Mahl die Waage. Teresa bringt auf eine neue Weise leibhaftige Geschöpflichkeit und Spiritualität zusammen, letztlich Gott und Welt.
Kontemplation und Meditation, heute von den Meditationswegen des fernen Ostens belebt, wurden damals durch Teresa auch im Westen entdeckt und heimisch. Dass die Suche nach dem »wahren Selbst« und nach Gott zusammengehören, schon von Augustin gewusst, ist von Teresas Kontemplationsweise zutiefst erfahrbar geworden, z.B. in einer bildhaft erlebten Schau, einer Imagination, in der sie den inneren Garten bewässert oder die Seele als innere Burg durchwandert und dabei die Entdeckung macht, dass in dieser Burg kein Geringerer als Gott wohnt.
Teresa sind auch ekstatische Erfahrungen nicht fremd, doch sucht sie diese nicht und leitet auch nicht zu ihnen an, sie sind nicht »machbar«. Man wird von ihnen überkommen, wird überwältigt, sie sind einem zugemutet oder auch geschenkt. Durch Teresa wissen wir nur, dass es so etwas gibt, wie in der zwischenmenschlichen Liebeserfahrung auch, und dass wir es nicht als solches schon pathologisch verdächtigen müssen (obgleich Teresa selbst solche Verdächtigung widerfuhr).
Teresa, für die Gott auch bei der Arbeit an den Kochtöpfen gegenwärtig ist und erfahren werden kann, weist wiederum einen echt weiblichen Zugang zur Spiritualität auf: durch Hingabe an das, was praktisch Not tut und durch Annahme dessen, was sich uns schenkt: in der Stille der Klausur ebenso wie im Lärm der Welt.
Bewusst in die Spuren Teresas tritt eine Frau des 20. Jahrhunderts, die Intellektuelle, Philosophin, zunächst Atheistin: Edith Stein. Bei ihrer im jüdischen Brauchtum noch verwurzelten Kindheit hat sie die Tragkraft religiöser Tradition kennengelernt, die sie weiterträgt, auch als sie sich intellektuell weit davon entfernt.
Edith Stein sucht die...