Die Verwandlung beginnt. Ich sitze in der Maske. Zweieinhalb Stunden, dann fängt die Vorstellung an. Zweieinhalb Stunden wie eine Ewigkeit, die ich auf einem spartanischen Stuhl ertragen muss, als würde ich auf meine Henkersmahlzeit warten. Eingesperrt in dieser engen Kammer, die Wände so nah, dass es beinahe unmöglich scheint, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie eine Kugel beim Flippern prallt er irgendwo dagegen, wird zurückgeschleudert, stößt auf der anderen Seite an, um erneut seine Richtung zu ändern. Gedanken-Pingpong, ein grausames Spielchen. So geht das die ganze Zeit, und so ist es jedes Mal, dass ich mich immer überwinden muss, überhaupt hierherzukommen. Nicht, dass es anderswo, in einem normalen Theater, anders wäre, doch hier ist es aus irgendeinem Grund besonders zermürbend. Das Vernünftigste wäre, an gar nichts zu denken, völlige Leere im Kopf, aber das muss man erst mal hinkriegen. Zur Ablenkung fingere ich, etwas fahrig, eine Parisienne aus der Schachtel, die vor mir auf dem schmalen Schminktisch liegt, schiebe sie zwischen die Lippen, werfe meinem Spiegelbild einen kurzen Blick zu, greife nach dem Feuerzeug. Eine kleine Flamme blitzt auf. Ich sehe, wie meine Hände zittern.
Das passt gerade schlecht. Der Tod zittert nicht! Warum auch? Der Tod ist allmächtig. Und ich bin der Tod. Bin es heute, war es gestern und werde es morgen sein. Das ist meine Rolle. Nur eine Rolle, nicht mal eine besonders umfangreiche. Achtzehn Einsätze in einem Spektakel, das zwei Stunden dauert – übermäßig viel kann man das wirklich nicht nennen, besonders aber schon. Den Tod spielt man nicht mal eben so runter, jedenfalls mache ich das nicht. Bei mir funktioniert das nur, wenn ich tiefer gehe, mich drauf einlasse. Also, auf den Tod als solchen kann ich mich natürlich nicht einlassen. Ich kann ihn aber auch nicht allein dadurch darstellen, dass ich dem Publikum ein paar markige Sätze entgegenschmettere. Meine Stimme, okay, die kann Luft zum Vibrieren bringen, sagen mir die Leute dauernd. Mag sein. Doch der Tod verlangt mehr.
Salzburg im Sommer. Was soll ich sagen? Thomas Bernhard schrieb mal: »Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingeboren oder hineingezogen werden …« Vielleicht macht es das einfacher, sich in die Rolle des Tods hineinzuversetzen. Hier, bei den Festspielen, in Hugo von Hofmannsthals Jedermann. An diesem eigentümlichen Ort – strahlend schön und gleichzeitig doch schaurig, selbst in gleißendem Sonnenlicht irgendwie morbide. Und jetzt erst recht, während der Festspielzeit, in der die Stadt von Menschen aus jedem Winkel der Welt überschwemmt wird. Erinnert mich irgendwie an Disneyworld.
Das Festspielhaus steht in der Altstadt, am Fuße des Mönchsbergs. Genau genommen dehnt es sich nach hinten aus bis hinein in das Felsmassiv. Vom Max-Reinhardt-Platz aus betrachtet eine Kulisse aus Glas und Stein und Putz, wie gewaltige Perlen eng aneinandergereiht, dass sie zu einem Ganzen verschmelzen: das Große Festspielhaus, das Haus für Mozart, die Felsenreitschule. Mein Kabuff liegt irgendwo hinter dieser Fassade, ungefähr in der Mitte des Komplexes, zweiter Stock, am Anfang eines überschaubaren Gangs – oder an dessen Ende. Kommt darauf an, ob ich das Treppenhaus hinaufsteige oder den Fahrstuhl nehme wie heute. Das einzige Fenster geht zum Innenhof hinaus. Es steht offen, doch Abkühlung bringt das nicht. Draußen geht kein Luftzug. Wie ein schwerer feuchter Vorhang hängt die schwüle Hitze vor dem Fenster. Und unten auf dem Hof formiert sich die buntgemischte Armee der Komparsen, kostümiert und geschminkt, um zum Domplatz rüberkutschiert zu werden.
Bis ich so weit sein werde, wird Hedwig, der Belgier, noch mächtig ins Schwitzen geraten. Hedwig ist mein Maskenbildner, ein angenehmer Mensch. Normalerweise arbeitet er in Brüssel, am ehrwürdigen Opernhaus De Munt. Seine Art gefällt mir: bescheiden, fleißig und geschickt mit den Händen, vor allem quatscht er einem nicht die Ohren voll. Was zwischen ihm und mir abläuft, muss man sich als eine recht intime Angelegenheit vorstellen. Nicht, weil der Tod ein eigenes Kämmerlein für die Maske hat und wir darin ganz allein sind. Habe ich erwähnt, dass ich nackt auf dem Stuhl sitze? Aber damit habe ich kein Problem, prinzipiell nicht. Von mir aus marschiere ich nackt auf die Bühne, wenn der Regisseur meint, auf diese Weise verkörpere ich die Figur am überzeugendsten – vorausgesetzt, ich sehe das genauso. Hier mit Hedwig ist das ähnlich: Wenn er sich meinem Gemächt nähert, was bei diesem Kostüm zwangsläufig passieren muss, ist das ein rein professioneller Vorgang.
Im Moment fummelt er mir auf dem Kopf herum. Der Tod soll eine Glatze kriegen. Dafür pappt er zuerst meine Haare mit Gel fest, nimmt dann eine Reinigungslotion, um die Hautpartien rund um den Haaransatz zu entfetten, bevor er damit beginnt, mein Haar mit einer fleischfarbenen Badekappe abzudecken. Vorher zieht mir Hedwig noch ein dünnes Kabel über den Scheitel. Dessen vorderes Ende ist ein winziges Mikrofon, nur unwesentlich größer als ein Stecknadelkopf, das er auf meiner Stirn befestigt, direkt über der Nase. Danach klebt er den Glatzenrand fest, was sich leicht sagt, aber eine wahnsinnige Fummelei ist: einen Tropfen Mastix auf die Haut, ein Stück vom Rand der Kunstglatze kurz draufpressen, wieder hochklappen, antrocknen lassen, festdrücken. Und das Zentimeter für Zentimeter. Ich versuche, gelassen zu bleiben. An der Wand hinter meinem Rücken hängt eine Uhr. Im Spiegel kann ich sehen, wie der Zeiger von einer Sekunde zur nächsten hastet – tack … tack … tack …
Noch klebt die Kunstglatze nicht perfekt, besonders die Partie hinter den Ohren scheint sich zu sträuben. Trotzdem fängt Hedwig schon mal an, ihr die richtige Farbe zu verpassen. Zementgrau oder Steingrau, keine Ahnung, irgendwie eine Melange aus helleren und dunkleren Grautönen. Er packt ordentlich drauf, erst Farbe, sehr klebrig das Ganze, wie Uhu, dann Steinmehl, so dass sich meine Schädeldecke allmählich in eine Kraterlandschaft verwandelt, fleckig und pockig – man kann jedenfalls nicht sagen, dass ich damit besonders gesund aussehe. Und da er sich dann gleich daran macht, die Flächen um meine Augen mit derselben Farbe einzupinseln, erkenne ich mich bald selbst nicht mehr. Aber das ist nicht die schlechteste Voraussetzung, sich auf die Figur des Gevatter Tod einzustimmen.
Während die graue Pampe auf meinem Kopf trocknet, kriege ich Hafterleichterung: Ich darf aufstehen und nutze die Gelegenheit, mich zu strecken und zum Fenster hinüberzuwatscheln. Von dort wieder zurück und das Ganze noch mal, wofür ich höchstens zehn Sekunden benötige. Hedwig zuppelt derweil das erste Kleidungsstück meines Kostüms zurecht, um es mir fachmännisch anzulegen. Die Verkleidung besteht aus insgesamt nur drei Teilen, die Glatze nicht mitgerechnet. Allerdings ist die Bezeichnung »Kleidung« für das, was er da in den Händen hält, etwas übertrieben. Man könnte das Ding mit einem Stringtanga vergleichen, wobei flexibler Eierbecher auch nicht falsch wäre. Ein wabbeliges Teil aus Silikon, das extra für mich angefertigt wurde. In doppelter Ausführung, sicherheitshalber, man weiß ja nie.
Jetzt hebe ich meine Arme und halte mich mit beiden Händen an einer Metallstange fest, die waagerecht über mir an der Wand befestigt ist. Das ist der Augenblick, der selbst mich Überwindung kostet. Nackt war ich die ganze Zeit schon, doch in dieser Pose entblöße ich mich vollkommen. Wahrscheinlich sehe ich aus wie Jesus am Kreuz. Gefällt mir, eigentlich. Doch im Ernst: Es ist unglaublich anstrengend, einfach nur dazustehen, an sich rumfummeln zu lassen und dabei die Orientierung nicht zu verlieren. Das Wort Taucherkrankheit fällt mir dazu ein. Ohne die Stange würde ich früher oder später wahrscheinlich umfallen. Dass ich mir dabei auch noch selbst im Spiegel zusehen muss – der hängt direkt vor meinen Augen –, macht die Sache nicht lustiger.
Hedwig wirkt sehr konzentriert und gibt keinen Laut von sich, während er mich sorgfältig in das Silikonhöschen packt, das er über meinem Hinterteil wie ein Korsett zusammenschnürt. Nachdem das endlich erledigt ist, kann er sich wieder anderen Körperpartien widmen und großflächiger weitermachen. Er übertüncht die letzten Stellen im Gesicht, die noch hautfarben schimmern. Danach die Ohren, den Hals und dann, weiter abwärts, meine komplette Vorderfront, dazu noch die Hände. Und immer das gleiche Prozedere: erst die Farbe, dann das Steinmehl. Bis ich Hedwig kaum noch erkennen kann, obwohl er direkt vor mir rumwerkelt – so staubt das Zeug. Im ganzen Raum sieht es aus wie auf einer Baustelle. Am Ende bleibt kaum etwas von meinem Körper vom Farbmatsch verschont. Nur ein Teil des Rückens, die Oberarme und meine Arschbacken. Diese Partien werden von dem metallic-silbergrau schimmernden Mantel abgedeckt, den ich als Nächstes überstreife. Teil zwei des Kostüms, es reicht bis zu den Knöcheln. Jetzt noch die Stiefel und – Hokuspokus, da steht der Tod!
Eine Viertelstunde bleibt mir. Sollte ich noch mal den Text durchgehen? »Allmächtiger Gott, hier sieh mich stehn, nach deinem Befehl werd ich …« Quatsch, der sitzt.
Die Tür geht auf, Niki steckt seinen Kopf herein. Eigentlich Nicholas, Nicholas Ofczarek, aber so nennt ihn hier kein Mensch. Niki spielt den Jedermann, er ist in dieser Rolle der Jüngste, seit es die Festspiele gibt, seit neunzig Jahren also. Das Publikum liebt ihn. Niki kommt aus Wien, er gehört zum Ensemble des Burgtheaters. In Österreich ist er ein Star. Ich kannte ihn vorher nicht. Ein Schauspielkollege hatte mich vor Niki gewarnt, er sei eitel, selbstverliebt und...