2.2 Wo wachse ich?
Um entscheiden zu können, ob und für welche Aufgabengebiete ich Personal rekrutieren möchte, haben Herr Peter und ich im nächsten Schritt die Wachstumsquellen miteinander eruiert. Um diese innerhalb meines Betriebes zu identifizieren, standen folgende Fragestellungen zur Diskussion:
In welchen Sparten wachse ich am stärksten?
Möchte ich mich auf Kernthemen spezialisieren?
Wo verliere ich Bestand oder habe keine Zuwächse zu verzeichnen?
Welche Sondereinflüsse sind aufgetreten?
Wie schätze ich die weiteren Wachstumsaussichten ein?
Weshalb möchte ich weiter wachsen?
Welche Zielgruppen bediene ich bisher und welche Kunden möchte ich künftig zusätzlich hinzugewinnen?
Mit welchem Aufwand kann ich das erreichen?
Welche wirtschaftlichen Einflüsse sind zu berücksichtigen?
|12|Herr Peter und ich waren uns einig, dass die Motivation einer „schneller-höher-weiter-Strategie“ kritisch und objektiv zu hinterfragen ist. Citius, altius, fortius (zu deutsch: schneller, höher, weiter) ist das von Pierre de Coubertin ausgerufene Motto der Olympischen Spiele. Heute verstehen wir im Gegensatz dazu häufig „dabei sein ist alles“ als olympisches Motto. Doch im Versicherungsvertrieb geht es nicht um den olympischen Gedanken, sondern um marktwirtschaftliche Gegebenheiten. Die Gründe, Wachstum anzustreben, können deshalb sehr vielfältig sein:
Langfristiger Bestandserhalt: Kompensation von Storni aufgrund Risikofortfall, Wegzug, Vertragsreduzierung, Vertragsablauf, Auszahlung, Tod oder sinkenden Durchschnittsprämien.
Aufbau Alterssicherung: Bestandsverluste reduzieren den Ausgleichsanspruch/Verlauf der Bestände. Das kann Agenturen/Maklern gerade in den Jahren vor dem Ruhestand zum Verhängnis werden, falls sie ihre Bestände schon längere Zeit weniger gut gepflegt haben. Infolgedessen wurden diese nicht mehr ausgebaut, so dass die Bestandsentwicklung rückläufig ist.
Die Versicherungsgesellschaft fordert es: Versicherer wollen – manchmal auch um einen hohen Preis für den Inhaber – Wachstum generieren. Aus diesem Grund stellen sie negativ verlaufende Bestände früher oder später infrage oder wollen motivieren, mithilfe von Personalzubau zu wachsen.
Vergütung: Viele Bonifikationsvereinbarungen/Vergütungsmodelle sind auf Wachstum ausgerichtet – häufig gezielt auf verschiedene Sparten. Das kann auch in Form einer Grundbedingung „Wachstum“ geschehen, die mindestens erfüllt sein muss, um eine Geschäftsplanvergütung zu erhalten. Sie kann nach Stückzahlen oder prozentual bemessen sein.
Demographie: Aufgrund der Altersdynamik ist es notwendig, Bestände auszubauen und die mittelfristig altersbedingten Abgänge auszugleichen.
Ausschalten von Konkurrenz: In der Umgebung befindliche Makler/Agenturen können durch den Aufbau eines umfangreichen Empfehlungsmanagements in ihren Wachstumsmöglichkeiten beschränkt werden.
Aus eigenem Antrieb: Der Wunsch, Bestandszuwächse zu schaffen, kann sich aus eigenem Unternehmergeist respektive dem Willen zur Vergrößerung des eigenen Betriebes entwickeln.
Qualitätssicherung – Kunden aussieben (strikte Sanierungsmaßnahmen): In regelmäßigen Abständen empfiehlt es sich, Bestände auf „teure Kunden“ hin zu durchleuchten. Damit sind beispielsweise Kunden gemeint, die statt Erträge negative versicherungstechnische Ergebnisse verursachen, oder Einvertragskunden mit hohem Schaden- und Betreuungsaufwand. Durch die Trennung von diesen können die gewonnenen Energien an anderer Stelle positiv eingesetzt werden. Zum Ausgleich der abgegebenen Bestände gilt es, neues Kundenpotential zu generieren.
|13|Nachhaltiges, ertragreiches Wachstum: Es ist wichtig, Wert auf qualitatives Wachstum anstelle eines Bestandsausbaus um jeden Preis zu legen. Unprofitables Geschäft rächt sich doppelt: Es kostet Versicherer wie Makler/Agenturen Zeit und Geld, und es führt letztlich zu Sanierungen, so dass verlorenes Geschäft zusätzlich neu akquiriert werden muss.
Nicht aufgekauft/fusioniert werden: Geringe Bestandsgrößen laufen genauso wie kleinere Agenturen/Makler eher Gefahr, in eine größere Einheit integriert oder gar aufgekauft zu werden. Bestandsgröße verhilft dagegen zumindest zu einer besseren Verhandlungsposition auch in Fusionsgesprächen.
Bestandsdurchmischung: Um Bestände „gesund“ zu halten, gilt es, diese regelmäßig mit „frischem Blut“ anzureichern. Das kann nur durch Gewinnung neuer Kunden bzw. durch Cross-Selling in Form der Anbündelung an bestehende Verträge geschehen. So empfiehlt es sich, fortlaufend neue Wachstumsfelder zu erschließen, um unprofitable Geschäftsfelder ausgleichen zu können.
Nachfolgeregelung/Einarbeitung: Bestände wachsen mit dem Alter des Inhabers. Dies ist durch Bestandsanalysen auch belegbar. Je jünger Bestände durchschnittlich sind, desto attraktiver werden sie aber für potentielle Nachfolger. Zudem muss die Einarbeitungsphase neuer Mitarbeiter oder eines Bestandsnachfolgers finanziert werden. Das kann durch Wachstum möglich werden.
Spezialisierung: Hohe Beratungskompetenz abzubilden, kann auch eine Spezialisierung auf einzelne Sparten oder Zielgruppen erfordern. Gerade im Bereich der betrieblichen Altersversorgung oder in den Gewerbesparten wird viel Fachwissen benötigt, um eine qualifizierte Beratung unter den aktuellsten Gegebenheiten durchzuführen.
Delegation von Aufgaben: Durch das Delegieren administrativer Aufgaben zum Beispiel an eine 450-Euro-Kraft kann der Unternehmer seinen eigenen Lohn aufbessern, weil er sich durch die hinzugekaufte Zeit ertragreicheren Tätigkeiten mit höherem Anspruch oder im Verkauf zuwenden kann.
Gewinn von Freizeit: Dem Agenturinhaber könnte es auch ein Anliegen sein, selber mehr freie Zeit zu gewinnen, indem er durch Anstellung eines Angestellten Routineaufgaben an diesen delegieren kann.
Trotz all dieser Punkte darf jeder sich der Philosophie des „schneller, höher, weiter“ in seinem Umfeld entziehen. Hier hilft die zuvor erarbeitete Bilanz. Sie sagt mir, warum, wie, wohin und in welcher Zeit ich wachsen will. Welche Motive hat mein Wunsch nach dem Ausbau meines Unternehmens:
Strebe ich einen höheren Verdienst an, eine Imageverbesserung oder will ich mehr Unabhängigkeit gewinnen? Herr Peter erzählte mir dazu von einigen Beispielen, wo Unternehmer sich durch zu große Personalzahl plötzlich einem Diktat des „Verdienen Müssens“ für die Mitarbeiter unterworfen hatten.
|14|In diesem Zusammenhang muss ich mich schließlich hinterfragen, wie viel Freiheit ich tatsächlich gewinne, wenn ich Wachstum mit Personalzuwachs umsetze und wie viel ich für meine finanzielle Investition bekomme. Neben meiner Fürsorgepflicht als Arbeitgeber gehen damit auch eine Reihe von Verantwortlichkeiten und kaufmännischen Risiken einher, auf die es sich möglichst gut einzustellen gilt. Die folgende Tabelle zeigt die Überlegungen im Überblick:
Gewinn von Freiheit | Verpflichtungen |
Entlastung (hinsichtlich Umfang meiner Tätigkeit, Erreichbarkeit, Freizeit und Urlaub, Zeitgewinn für Fortbildungen) | Personalverantwortung: Planen, Führen, Controlling |
mehr Spaß im Team | Gefahr eines effizienten Mitarbeiters (evtl. Bestandsmitnahme bei Ausscheiden) |
Erschließung neuer Kundensegmente | klare Aufgabendefinition und -verteilung |
Puffer für schlechte Zeiten anlegen, Fortführung des Betriebes im Krankheitsfall | laufende Kosten |
Abbildung 2–5: Pro und Contra von Wachstum durch Personalzuwachs abzuwägen, erleichtert Ihnen die Entscheidung
Gibt es auch Situationen, die einen Erhalt des Status quo rechtfertigen können? Kurzfristig – zum Beispiel krankheitsbedingt – könnte so argumentiert werden; wobei auch dieses Problem in einem Mehrpersonenbetrieb eher zu kompensieren wäre wie beim Einzelunternehmer.
Bei allgemeingültiger Beantwortung der Frage hilft die Produkt-Markt-Matrix. Sie bezeichnet die vier Wachstumsoptionen:
der Markt-Durchdringung
der Produkt-Entwicklung
der Markt-Entwicklung
des Angebots neuer Produkte (Produktdiversifikation)[1]
Ein auf dem Status quo beharrender Unternehmer wird an allen vier Optionen scheitern und widerspricht mit seinem Handeln marktwirtschaftlichem Denken. Wer lediglich das Vorhandene erhalten will, wird sich dem Verkauf neuer Produkte oder der Erschließung neuer Zielgruppen verweigern beziehungsweise dies auch organisatorisch nicht umsetzen können. Die Optionen der Marktdurchdringung und Produktdiversifikation bedingen einen Ausschluss von sich aus. Damit erhalten andere Marktteilnehmer die Möglichkeit, sich zu etablieren und in der Folge meinem Betrieb selber Marktanteile...