Teil 2: Wer loslässt, hat die Hände frei
oder Zwischen den Welten
„Das Geheimnis des Vorwärtskommens besteht darin, den ersten Schritt zu tun.“ (Mark Twain, US-amerikanischer Schriftsteller, 1835 - 1910)
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Eine Woche nach unserem Besuch in Blankan schienen wir an einem neuen Punkt angelangt zu sein, an einer neuen Dimension von Entscheidung. Sollten wir Hans zusagen? Dies würde alles mit einer Endgültigkeit überziehen, die die bisherige Offenheit und ungerichtete Zielsetzung unserer Pläne schlagartig beenden würde. Wir würden viel eher einen Hof kaufen als eigentlich geplant. Einerseits erschien es wie ein Wink des Schicksals, dass wir Blankan im Internet entdeckt hatten, obwohl Hans es eigentlich gar nicht mehr hatte verkaufen wollen. Andererseits nahm es uns vielleicht die Möglichkeit uns in Schweden von unserem Ferienhaus aus in Ruhe nach anderen passenden Immobilien umzusehen. Natürlich drängte sich die Frage auf, ob wir überhaupt etwas Vergleichbares noch einmal finden würden. Und dann zu einem so unschlagbaren Angebot, wie Hans es uns unterbreitet hatte. Zwar waren die Immobilienpreise in Schweden im Vergleich zu Deutschland immer noch günstig, aber auch hier wurden die Preise zum Teil drastisch angezogen. Sollten wir uns also lieber sofort festlegen und die Freude an der weiteren Suche damit im Keim ersticken? Ich merkte, wie sich eine innere Abwehr in mir breitmachte. Ich wollte mich noch nicht festlegen. Ich wollte den Moment schwereloser Freiheit in unserem Ferienhaus erleben, auf den ich mich seit dem Moment freute, als wir unser Hüttchen im Wald gekauft hatten. Ich wollte eine Phase besitzloser Unabhängigkeit erfahren, um zu entdecken, was das in mir auslösen würde. Einmal ohne viel Land, ohne großes Haus, ja sogar einmal ohne Pferde, Hühner und andere Tiere wollte ich mich nur auf das Nötigste reduzieren, um zu erspüren, welche Dinge in meinem Leben wirklich unabdingbar für mich waren. Blankan jetzt zu kaufen, erschien mir wie das kopflose Springen von einer unglücklichen Beziehung in die nächste. Und trotzdem drangen immer wieder die Bilder von diesem Haus am Fluss in mein Herz, baten mich zuzugreifen, diese vielleicht einmalige Gelegenheit nicht ungenutzt an mir vorbeiziehen zu lassen. Alles hat einen Sinn, dachte ich immer wieder. Wir waren nicht ohne Grund Hals über Kopf nach Schweden gefahren, um Blankan zu sehen. Alles hatte ineinandergegriffen wie eine Maschinerie aus schicksalsgelenkten, einander bedingenden Schritten. Immer wieder flüsterte eine innere Stimme „Blankan!“. Unaufhörlich bat sie um Erhörung.
Aber ich konnte meine innere Stimme nicht beruhigen. Hatte ich doch scheinbar endlich das Entscheidungsduell Deutschland gegen Schweden zugunsten von Schweden beendet, war ich unfähig nun die nächste Entscheidung zu treffen. Mein Entscheidungsmuskel brauchte eine Verschnaufpause, auch wenn Julian das Gegenteil behauptete. Aber ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er trotz seiner Begeisterung auch noch nicht abschließend überzeugt war. In einer nervenzermürbenden Endlosschleife wog ich Vor- und Nachteile von Blankan ab. Die Vorteile lagen auf der Hand. Dort würden wir all unsere Träume ausleben können. Wir konnten ein relativ kleines, energiesparendes Haus auf einem großen Grundstück am Wasser zu einem unschlagbar guten Preis in hervorragender Lage erwerben. Dort würden wir unseren Strombedarf überwiegend durch Solar decken können. Es gab einen relativ neuen, 160 Meter tiefen Brunnen, der uns in Bezug auf die Wasserversorgung komplett unabhängig machen würde. Wir könnten im Emån fischen, und Julian würde dank Eigenjagdrecht einen Großteil unseres Fleisches selber erbeuten können, ohne dass wir dafür viele Nutztiere halten müssten. Außerdem würden wir große Teile unserer Nahrung durchs Beeren- und Pilze sammeln beschaffen können. Da ein Teil des Grundstückes Dalhem dicht mit Wald bewachsen war, wäre auch die Frage nach eigenem Brennholz ein für alle Mal vom Tisch. Hier würden wir endlich einen echten und richtigen Selbstversorgerhof aufbauen können, der uns zudem viele Möglichkeiten offenbarte, nicht auf allzu viele Nutztiere angewiesen zu sein, die uns wieder zu abhängig machen würden. Wir könnten dort Ferienhäuser bauen, die unser Einkommen zum Großteil sichern und Julian aus der Zange seiner schweren körperlichen Arbeit im Garten- und Landschaftsbau entlassen würden. Im Grunde war alles besser, als wir es uns zu träumen gewagt hatten. Trotzdem, auch hier gab es Punkte, die mir zu denken gaben: Der Hauptgrund meiner Zweifel war die Stromleitung, die an einem Ende der Wiese das Grundstück überquerte. Nach meinen Problemen mit den Windrädern war ich mir und der Stromleitung gegenüber mehr als misstrauisch, ob wir miteinander auskommen würden. Die Trasse würde in dieser Beziehung wahrscheinlich keine Probleme haben. Aber was war mit mir? Optisch war die Leitung nicht sonderlich störend, da sie vom Haus und den anderen Gebäuden aus kaum zu sehen war. Ich sorgte mich eher um irgendwelche Strom- oder Magnetfelder oder um knackende Geräusche, die mir nach anfänglicher euphorischer Toleranz wieder auf die Nerven gehen würden. Da ich offensichtlich einen feinen Draht für äußere Einflüsse und Störungen hatte, wollte ich diesen Aspekt nicht auf die leichte Schulter nehmen, um dann später noch einmal fluchtartig den Hof verlassen zu müssen. Ich versuchte also im Internet irgendwelche Studien zum Leben unter Stromtrassen zu finden. Aber wie in jedem Bereich stritten sich die Experten und Anwohner und warfen einander Ignoranz und Unwissenheit vor. Was den einen gesundheitlich fertig machte, wollte der andere überhaupt nicht bemerken. Es war das Gleiche wie mit den Windrädern. Ich würde meine Erfahrungen selber machen müssen, um hierzu eine Meinung zu bekommen.
Ein weiteres Haar in der Suppe war die Tatsache, dass Marcus auf meine Frage nach der Existenz von Mücken, Bremsen und Kriebelmücken beziehungsweise Knott, diese bestätigt hatte. Klar gebe es die hier auch. Als ich fragte, wie es denn im Sommer im Wald diesbezüglich sei, hatte er gelacht und gesagt: „Oh, der Wald gehört im Sommer den Tieren!“ Das waren ja schöne Aussichten. So sehr hatte ich gehofft, den nervtötenden und blutsaugenden Plagegeistern in Schweden zu entkommen. Sicher hatte ich in vielen Erfahrungsberichten in Internetforen vom Gegenteil gelesen. Allerdings schien sich das Knott-Problem doch eher auf nördlichere Gegenden zu beziehen. Und auch während unserer kurzen Aufenthalte im Juli und August des vergangenen Jahres hatten wir kaum eine Mücke gesehen, geschweige denn eine Bremse. Nicht einmal bei unserem Ausritt in Sonakull hatten wir irgendwelche dieser schwirrenden Biester zu Gesicht bekommen. Aber auch hier schien es, als sei ein Versuch unvermeidlich. Schlimmer als in Högel konnte es kaum sein. Oder etwa doch? Noch immer träumte ich von sommerlichen Ausritten durch die wunderschöne Natur. Immerhin war doch der Wunsch nach traumhaften Ritten durch idyllische Landschaften eine meiner Haupttriebfedern, überhaupt auszuwandern.
Zweifel und Zukunftsträumereien kamen und gingen und wurden von anderen Zweifeln und Zukunftsträumereien abgelöst. Ich würde um eine Entscheidung in dieser Sache nicht herumkommen, wenn ich das chronische Gemurmel meiner Gedanken endlich beenden wollte. „Eine schlechte Entscheidung ist besser als keine Entscheidung!“, sagte Julian. Wahrscheinlich hatte er Recht.
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Langsam lernte ich mit meinen ständigen Gefühlsschwankungen umzugehen, denn ich wusste nun aus Erfahrung, sobald ich Deutschland hinter mir gelassen, sobald ich in Schweden sein würde, würden alle Zweifel verschwinden. Denn so war es bisher jedes Mal gewesen: Kaum war ich in Schweden, wollte ich nirgendwo anders mehr sein. Und so hieß ich meine regelmäßig immer wieder in mir aufwallenden Unsicherheiten und Ängste an manchen Tagen willkommen wie ungebetene Gäste: Ich ließ sie hereinkommen und sagen, was sie zu sagen hatten, ohne dem allzu große Bedeutung beizumessen, denn ich wusste, sie würden auch wieder verschwinden. An manchen Tagen war es schwieriger, und die Zweifel hatten mehr Macht über mich, als ich es zugeben mochte. Aber ich hatte mich an das Auf und Ab meiner Gedanken und Gefühle gewöhnt, und ich war sicher, all diese Gedanken gehörten zu meinem Abnabelungsprozess. Ich erlaubte mir, zu zweifeln, Angst zu haben, zu trauern um das, was ich zurücklassen würde und was sich auch durch das größte minimalistische Denken nicht einfach aussortieren und wegrationalisieren ließ – nämlich wunderbare Menschen, Freunde – vor allem die Freunde der Kinder - und auch einfach nur bekannte Gesichter, die mir täglich ein Gefühl von Vertrautheit gaben. Kurz: Alles, was mir suggerierte, hier bin ich Zuhause. Ich war mir im Klaren darüber, dass es lange dauern würde, bis wir wieder ein Zuhause haben würden. Ich war mir sicher, dass es...